Die tanzenden Männchen

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»Ich glaube, meine Herren,« sagte Holmes in aller Ruhe, »es ist am besten, wenn wir uns hinter der Türe aufstellen. Wenn man es mit einem solchen Burschen zu tun hat, ist die größte Vorsicht am Platze. Sie werden die Handschellen anwenden müssen, Herr Martin; die mündliche Unterhaltung können Sie mir überlassen.«

Wir warteten schweigend eine Minute – eine jener Minuten, die ich nie vergessen werde. Dann ging die Tür auf, und herein trat unser Mann. Im Nu setzte ihm Holmes die Pistole auf die Brust, und Martin und ich legten ihm die Handschellen an. Es geschah dies so plötzlich und rasch, daß er bereits überwältigt war, ehe er seine Lage richtig erkannte. Er starrte uns mit seinen flammenden, schwarzen Augen nacheinander an und begann dann bitter zu lachen.

»Nun, meine Herren, diesmal haben Sie mich allerdings überrumpelt. Ich scheine an die verkehrte Adresse gekommen zu sein. Ich folgte einer Einladung der Frau Cubitt. Ich hoffe nicht, daß sie an diesem Anschlag beteiligt ist, nein, ich glaube nicht, daß sie dazu geholfen hat, mich in die Falle zu locken.«

»Frau Hilton ist schwer verwundet und kann jeden Augenblick sterben.«

Als er das hörte, stieß der Mann einen Schmerzensschrei aus, der durch das ganze Haus drang.

»Sie sind nicht recht bei Trost!« schrie er wütend. »Er wurde verletzt, nicht sie. Wer könnte der kleinen Elsie ein Leid antun? Ich mag ihr gedroht haben, Gott verzeih' mir's, aber ich würde ihr noch kein Haar krümmen können. Nehmen Sie dies Wort zurück! Sagen Sie, daß sie nicht verletzt ist!«

»Sie wurde schwerverwundet neben der Leiche ihres Gatten gefunden.«

Da sank der Mann stöhnend auf einen Lehnstuhl und verbarg das Gesicht in seinen gefesselten Händen. Einige Minuten saß er ganz regungslos und gab keinen Laut von sich. Dann hob er den Kopf in die Höhe und sprach mit der kalten Ruhe der Verzweiflung:

»Ich brauche Ihnen nichts mehr zu verheimlichen, meine Herren,« begann er. »Wenn ich den Mann getötet habe, so geschah es, nachdem er auf mich einen Schuß abgegeben hatte; das ist kein Mord. Wenn Sie aber glauben, ich hätte die Frau verwundet, kennen Sie weder mich, noch sie. Ich schwöre Ihnen, noch kein Mann auf Erden hat ein Weib mehr geliebt, als ich sie geliebt habe. Ich hatte ein Anrecht auf sie. Sie war vor Jahren meine Braut. Warum mußte dieser Engländer dazwischen treten? Ich versichere Ihnen nochmals, ich hatte das erste Recht an sie, und nur das beanspruchte ich.«

»Sie entzog sich aber Ihrem Einfluß, als sie merkte, was Sie für ein Mensch sind,« erwiderte Holmes. »Sie floh von Amerika, um Sie los zu werden, und heiratete in England einen ehrbaren Mann. Sie spürten sie auf und verfolgten sie und verbitterten ihr das Leben, indem Sie sie aufforderten, ihren Gatten zu verlassen, den sie liebte und achtete, und mit Ihnen zu fliehen, den sie fürchtete und haßte. Sie haben schließlich einen braven Mann erschossen und seiner Frau den Revolver in die Hand gedrückt, um sich selbst zu töten. Das haben Sie erreicht, Herr Abe Slaney, und vor Gericht zu verantworten.«

»Wenn Elsie stirbt, ist mir's gleichgültig, was aus mir wird,« sagte der Amerikaner. Er machte die eine Hand auf und starrte lange auf ein zerknittertes Papier, das er darin hielt. »Sehen Sie hier, Herr,« rief er, und Verdacht leuchtete aus seinen Augen. »Das schafft mir schlimmen Argwohn und schwere Sorge. Wie soll ich mir das erklären? Wenn die Dame so schwer verwundet ist, wie Sie behaupten, wer hat dann diese Notiz geschrieben? Sagen Sie mir das!« Und damit warf er den Zettel auf den Tisch.

»Die habe ich geschrieben, um Sie hierher zu bringen.«

»Das haben Sie geschrieben? Kein Mensch auf der Welt außer unserer Gesellschaft kannte das Geheimnis der tanzenden Männchen. Wie konnten Sie in dieser Schrift schreiben?«

»Was ein Mensch erfindet, kann ein anderer aufdecken,« antwortete Holmes. »Es ist übrigens eine Droschke unterwegs, die Sie nach Norwich bringen wird, Herr Slaney. Die Zeit bis zu ihrer Ankunft können Sie noch benutzen, um das begangene Unrecht wenigstens einigermaßen wieder gutzumachen. Wissen Sie, daß Frau Cubitt stark im Verdacht stand, ihren Mann ermordet zu haben, und es nur meiner Gegenwart und meiner zufälligen Kenntnis des ganzen Falls verdankt, daß sie nicht unter Anklage gestellt wird? Zum wenigsten sind Sie ihr schuldig, vor aller Welt offen auszusprechen, daß sie in keiner Weise, weder direkt, noch indirekt, an dem tragischen Ende ihres Gatten eine Schuld trifft.«

»Nichts tue ich lieber als das,« versetzte der Amerikaner. »Ich halte es selbst für das beste, was ich tun kann, die volle Wahrheit zu sagen.«

»Ich habe die Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie nichts Belastendes gegen sich selbst auszusagen brauchen,« rief der Inspektor dazwischen – der bekannte Paragraph des englischen Strafgesetzbuches.

Slaney zuckte mit der Schulter.

»Ich werde mich darnach richten,« sagte er. »Vor allem, meine Herren, muß ich Ihnen mitteilen, daß ich die Dame von Kindheit an kenne. Wir waren sieben Mann in Chicago, und Elsies Vater war die Stütze unseres Bundes. Er war 'n feiner Kerl, der alte Patrick. Er hat auch diese Schrift erfunden, die für das Gekritzel von Kindern gehalten worden wäre, wenn Sie nicht jetzt die Lösung gefunden hätten. Auch Elsie lernte einige unserer Schliche, aber ihr sagte diese Tätigkeit nicht zu; sie nahm ihr bißchen ehrlich erworbenes Vermögen, verließ uns und ging nach London. Sie war mit mir verlobt und würde mich, glaube ich, auch geheiratet haben, wenn ich eine andere Laufbahn eingeschlagen hätte; aber von einem solchen Leben wollte sie nichts wissen. Erst nach ihrer Verheiratung mit diesem Engländer gelang es mir, ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Ich schrieb ihr, erhielt jedoch keine Antwort. Dann kam ich selbst herüber, und da Briefe nichts nützten, schrieb ich meine Mitteilungen dahin, wo sie sie sehen und lesen mußte.

»Ich bin nun einen Monat hier. Ich wohnte auf jenem Hof, wo ich im Erdgeschoß ein Zimmer inne hatte und alle Nacht nach Belieben ein- und ausgehen konnte. Ich kam aber nicht weiter. Ich versuchte alles, was ich konnte, um Elsie zur Trennung von ihrem Mann zu bewegen. Ich wandte zuerst Schmeicheleien an, später ging ich zu Drohungen über. Daß sie meine Nachrichten las, wußte ich, denn sie hatte einmal eine Antwort darunter geschrieben. Zuletzt schickte sie mir einen Brief, worin sie mich inständig bat, fortzugehen; es würde ihr das Herz brechen, wenn ihr Mann einen Skandal erleben müßte. Sie schrieb, daß sie um drei Uhr morgens, während ihr Mann schliefe, ans Fenster herunterkommen und mit mir sprechen wollte. Sie erschien und brachte Geld mit, um mich dadurch zur Abreise zu bewegen. Das machte mich wahnsinnig. Ich ergriff ihren Arm und suchte sie durchs Fenster zu ziehen. In diesem Moment stürzte der Mann ins Zimmer. Er hatte einen Revolver in der Hand. Elsie war zu Boden gesunken, und wir Männer standen uns gegenüber, von Angesicht zu Angesicht. Ich war ebenfalls bewaffnet und hielt ihm den Revolver entgegen. Er schoß, und ich beinahe zugleich mit ihm; er aber fehlte, während mein Schuß tödlich war. Ich machte mich sofort durch den Garten aus dem Staub; ich hörte nur noch, wie hinter mir das Fenster geschlossen wurde. So, bei Gott, ist es gewesen, das ist die volle Wahrheit, meine Herren. Ich habe dann weiter nichts mehr über die Sache erfahren, bis vorhin der Junge zu mir geritten kam und mir die Botschaft brachte, die mich veranlaßte, hierher zu kommen und wie ein Vogel ins Garn zu gehen.«

Während der Amerikaner dieses Geständnis abgelegt hatte, war der Wagen mit zwei uniformierten Schutzleuten vorgefahren. Inspektor Martin stand auf und klopfte seinen Gefangenen auf die Schulter:

»Wir müssen gehen.«

»Kann ich sie erst noch 'mal sehen?«

»Nein, sie ist bewußtlos. – Herr Holmes, ich hoffe weiter nichts, als daß mir in schwierigen Fällen stets das Glück zuteil wird, Sie an der Seite zu haben.«

Wir standen am Fenster und sahen dem davonfahrenden Wagen nach. Als ich mich umwandte, fiel mein Blick auf das zerknitterte Papier, das der Gefangene auf den Tisch geworfen hatte. Es enthielt die Notiz, womit ihn Holmes hinters Licht geführt hatte.

»Sieh 'mal, ob du's lesen kannst, Watson,« sagte er lächelnd.

Es stand weiter nichts darauf als folgende Reihe tanzender Männchen:


»Wenn du meine Ausführungen von vorhin begriffen hast, wirst du leicht finden, daß es einfach heißt: come here at once [komme sofort hierher]. Ich war überzeugt, daß er diese Einladung nicht ausschlagen würde, weil er sich nicht denken konnte, daß sie von einem anderen Menschen als von ihr käme. Auf diese Weise, mein lieber Watson, haben wir die tanzenden Männchen auch einmal in den Dienst des Guten gestellt, nachdem sie so oft bösen Zwecken gedient haben, und ich glaube, mein Versprechen, dir etwas Ungewöhnliches für dein Buch zu liefern, gehalten zu haben. Drei Uhr vierzig geht unser Zug, sodaß wir zum Essen wieder in der Bakerstraße sein können.«

Noch ein paar Worte zum Schluß! Der Amerikaner Abe Slaney wurde zum Tode verurteilt, aber in Anbetracht der mildernden Umstände, und weil feststand, daß Hilton Cubitt zuerst geschossen hatte, zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt. Von Frau Cubitt habe ich nur gehört, daß sie noch Witwe ist. Sie ist vollständig wiederhergestellt und widmet ihr Leben der Fürsorge für die Armen und der Verwaltung des Gutes ihres Gatten.

Die Entführung aus der Klosterschule.

Obwohl wir in unserem bescheidenen Heim in der Bakerstraße schon manchen Besucher in recht dramatischer Weise hatten kommen und gehen sehen, kann ich mich an kein plötzlicheres und merkwürdigeres Auftreten erinnern als es das des Herrn Dr. Thorneycroft Huxtable war, da er zum ersten Male bei uns erschien. Zuerst kam seine Visitenkarte, die zu klein erschien, um alle seine akademischen Grade und Würden fassen zu können, nach wenigen Sekunden trat er selbst ein – so fest, pomphaft und würdevoll, als ob er die verkörperte Kraft und Selbstzucht wäre. Und doch war, als er kaum die Türe hinter sich geschlossen hatte, seine erste Tat die, daß er gegen den Tisch taumelte und umfiel. So lag denn seine majestätische Gestalt regungslos der Länge nach auf unserem Zimmerteppich.

 

Wir sprangen auf und starrten einen Moment, sprachlos vor Ueberraschung, auf dieses gewaltige Wrack, das einem unvorhergesehenen, plötzlichen Sturm weit draußen auf dem Ozean des Lebens zum Opfer gefallen zu sein schien. Dann holte Holmes rasch ein Kissen, um es ihm unter den Kopf zu legen, und ich brachte Branntwein, womit ich seine Lippen benetzte. Das totenblasse Gesicht zeigte die Spuren schwerer Sorge, die dicken Wassersäcke unter den geschlossenen Augen waren schwarzblau wie Blei, um den offenen Mund spielten schmerzliche Züge. Er war nicht rasiert und nicht gekämmt. Kragen und Hemd deuteten darauf hin, daß der arme Mann, der vor uns gebrochen am Boden lag, eine lange Reise hinter sich hatte.

»Was ist's, Watson?« fragte mich Holmes.

»Vollkommene Erschöpfung – möglicherweise bloß Hunger und Müdigkeit,« antwortete ich, während ich den schwachen Puls fühlte.

»Er hat eine Rückfahrkarte von Mackleton in Nord-England,« sagte Holmes, indem er sie aus der Westentasche herauszog. »Es ist jetzt noch nicht ganz zwölf Uhr. Er muß sehr früh aufgebrochen sein.«

Die faltigen Augenlider fingen zu zucken an, und bald blickte ein Paar offener, grauer Augen zu uns empor. Im nächsten Augenblick war der Mann wieder auf den Beinen, und die starke Röte in seinem Gesicht verriet seine Scham.

»Verzeihen Sie diese Schwäche, Herr Holmes, ich bin etwas übermüdet. – Danke Ihnen. Wenn ich ein Glas Milch und ein Stückchen Zwieback bekommen könnte, würde ich rasch wieder wohl sein. Ich bin persönlich gekommen, um Sie dazu zu bewegen, mit mir zurückzufahren. Ich befürchtete, daß Sie ein Telegramm von der Dringlichkeit meines Falles nicht hinreichend überzeugen würde.«

»Wenn Sie sich ganz erholt haben –«

»Ich fühle mich wieder vollkommen wohl. Ich begreife gar nicht, wie ich so schwach sein konnte. Ich bitte Sie, Herr Holmes, mit dem nächsten Zug mit mir nach Mackleton zu kommen.«

Mein Freund schüttelte den Kopf.

»Mein Kollege Dr. Watson wird mir bestätigen, daß wir gegenwärtig sehr stark beschäftigt sind. Ich habe noch mit den Ferrersschen Dokumenten zu tun, außerdem steht in Kürze die Abergavennyer Mordaffäre zur Verhandlung; es könnte mich also nur eine außergewöhnlich wichtige Angelegenheit zu einer Reise veranlassen.«

»Richtig!« rief unser Besucher und schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Haben Sie denn noch nichts von der Entführung des einzigen Sohnes des Herzogs von Holdernesse gehört?«

»Was! des ehemaligen Ministerpräsidenten?«

»Gewiß. Wir hatten versucht, es tot zu schweigen, aber der »Globe« hat in der gestrigen Abendnummer Andeutungen gebracht. Ich glaubte, es wäre Ihnen schon zu Ohren gekommen.«

Holmes streckte seinen langen dünnen Arm aus und nahm den Band mit ›H‹ aus seiner Enzyklopädie vom Bücherbrett.

»›Holdernesse, sechster Herzog, Dr. juris, Dr. philosophiae u.s.w., Professor, Staatsrat, Baron Beverley, Graf von Carston‹ – um Gottes willen – was für eine Menge Titel! – ›Lord Hallamshire seit 1900. Verheiratet mit Edith, der Tochter des Freiherrn von Appledore 1888. Erbe und einziges Kind Lord Saltire. Grundbesitz ungefähr zweihundertfünfzigtausend Morgen groß. Bergwerke in Lancashire und Wales. Adressen: Carlton House Terrace; Holdernesse Hall, Hallamshire; Carston Castle, Bangor, Wales. Lord der Admiralität, 1872; Staatssekretär –‹ Das genügt, der Mann ist sicher einer der hervorragendsten Bürger!«

»Der hervorragendste und vielleicht auch der reichste. Ich weiß wohl, Herr Holmes, daß Sie nicht um des Geldes, sondern um der Sache willen arbeiten, aber ich will Ihnen doch sagen, daß Seine Hoheit mir schon angedeutet hat, demjenigen, der den Aufenthaltsort seines Sohnes ausfindig macht, fünftausend Pfund, und demjenigen, der ihm die Räuber seines Kindes namhaft machen kann, weitere tausend Pfund auszahlen zu wollen.«

»Das ist ein fürstliches Angebot,« sagte Holmes. »Ich denke, Watson, wir begleiten Herrn Direktor Huxtable nach dem Norden zurück. Und nun, Herr Doktor, können Sie mir, wenn Sie Ihre Milch verzehrt haben, gütigst erzählen, wann und wie sich die Sache zugetragen hat, und schließlich auch, was Dr. Huxtable von der Klosterschule in Mackleton mit der Sache zu tun hat, und warum er erst nach drei Tagen – so lange haben Sie sich nicht rasiert – kommt, um meine Dienste in Anspruch zu nehmen.«

Unser Besucher bekam nach dem kleinen Imbiß wieder glänzende Augen und rote Wangen. Nachdem er sich in Positur gesetzt hatte, begann er seine Schilderung des Vorfalles.

»Zuerst muß ich Ihnen mitteilen, meine Herren, daß die Klosterschule eine Vorbereitungsanstalt ist, die ich gegründet habe, und der ich nun vorstehe. ›Huxtables Commentar des Horaz‹ wird Ihnen von früher vielleicht noch bekannt sein. Die Klosterschule ist bei weitem das beste und vornehmste Vorbereitungsinstitut in England. Lord Leverstoke, der Graf von Blackwater, der Baron Soames haben mir alle ihre Söhne anvertraut. Aber als mir vor drei Wochen der Herzog von Holdernesse seinen Sekretär Herrn James Wilder schickte, um mit mir über die Aufnahme des jungen zehnjährigen Lord Saltire, seines einzigen Sohnes und Erben, verhandeln zu lassen, glaubte ich mit meiner Schule auf der Höhe des Ruhmes angelangt zu sein. Ich ahnte nicht, daß es das Vorspiel zu meinem größten Unheil sein sollte.

»Am ersten Mai, dem Anfang des Sommerhalbjahrs, kam der Knabe an. Er war ein reizender Junge und gewöhnte sich schnell ein. Ich will Ihnen nicht verschweigen – ich glaube mich dadurch keiner Indiskretion schuldig zu machen, und Mangel an Zutrauen ist in einem solchen Falle sehr verkehrt – daß er sich zu Hause nicht recht wohl fühlte. Es ist ein offenes Geheimnis, daß der Herzog mit seiner Gemahlin nicht glücklich gelebt hat und die Ehe mit beiderseitiger Einwilligung geschieden worden ist, worauf die Herzogin in Südfrankreich ihren Wohnsitz genommen hat. Diese Trennung ist vor noch nicht langer Zeit erfolgt, und der Junge hing sehr an seiner Mutter. Er wurde nach ihrer Abreise ganz melancholisch und träumerisch, und aus diesem Grunde wünschte der Herzog, sein Kind in meine Obhut zu geben. Nach vierzehn Tagen war der Junge bei uns denn auch schon wie zu Hause und augenscheinlich vollkommen zufrieden.

»Zum letzten Male sahen wir ihn in der Nacht zum dreizehnten Mai – also in der vergangenen Montagsnacht. Sein Zimmer lag im zweiten Stock und grenzte an ein anderes größeres Zimmer, wo zwei Jungen schliefen. Dieselben haben jedoch nichts gehört und gesehen. Daraus geht sicher hervor, daß der junge Saltire nicht auf dem richtigen Weg an jener Kammer vorbeigekommen ist. In seinem Schlafzimmer stand aber das Fenster offen, und darunter ist ein starker Efeustamm. Wenn wir auch am Boden keine Fußspuren finden konnten, so ist doch klar, daß er nur auf diesem Wege ins Freie gelangt sein kann.

»Sein Fehlen wurde am Dienstagmorgen um sieben Uhr bemerkt. Sein Bett war benutzt worden. Er hatte sich vor dem Gehen vollständig angezogen, und zwar seine gewöhnlichen Schulkleider, eine blaue Jacke und dunkelgrüne Hosen. Im Zimmer war keine Spur von einer zweiten Person zu finden, außerdem würde Schreien, wie überhaupt jeder stärkere Lärm in dem Nebenzimmer gehört worden sein, denn der ältere der beiden darin schlafenden Knaben schläft nur sehr leicht.

»Als mir das Verschwinden des jungen Lord gemeldet worden war, versammelte ich sofort sämtliche Schüler, Lehrer und Diener, um über die Sache zu beraten. Wir kamen dabei zu dem Schluß, daß Lord Saltire nicht allein geflohen sein könne. Herr Heidegger, der den Unterricht im Deutschen erteilte, wurde gleichfalls vermißt. Sein Zimmer lag ebenfalls in der ersten Etage, am Ende des Hauses, und mündete auf denselben Flur. Er hatte auch im Bett gelegen, war aber offenbar nur notdürftig bekleidet weggegangen, weil sein Hemd und seine Strümpfe noch auf dem Boden lagen. Er hatte sich zweifellos an dem Efeu hinuntergelassen, denn wir konnten unten auf dem Rasen seine Spuren sehen. Sein Rad, das er in einem kleinen Schuppen in der Nähe aufbewahrte, war auch fort.

»Er war zwei Jahre bei mir in Stellung und mit den besten Empfehlungen gekommen; aber er war ein mürrischer, verschlossener Mann, weder bei seinen Kollegen, noch bei seinen Schülern sehr beliebt. Von den Flüchtlingen war keine Spur zu sehen, und heute am Donnerstag morgen wissen wir noch ebenso wenig wie wir am Dienstag wußten. In Holdernesse Hall wurde natürlich sofort angefragt. Es liegt nur wenige Meilen von Mackleton entfernt, und wir glaubten, daß der Junge in einer plötzlichen Anwandelung von Heimweh nach Hause zu seinem Vater gelaufen wäre; aber kein Mensch hatte dort etwas von ihm gesehen oder gehört. Der Herzog ist aufs höchste erregt – und was mich anbelangt, so sind Sie ja eben selbst Zeuge meines Zustandes gewesen und haben gesehen, wie nervös und hinfällig ich infolge der Aufregung und der schweren Verantwortung geworden bin. Wenn Sie je Ihre ganze Kraft einsetzen, so flehe ich Sie an, es jetzt zu tun, denn einen lohnenderen Fall werden Sie kaum im Leben wieder bekommen.«

Holmes hatte den Bericht des unglücklichen Schulmannes mit äußerster Spannung angehört. Die tiefen Falten auf seiner Stirne zeigten, daß es keiner besonderen Mahnung bedurfte, um seine ganze Aufmerksamkeit auf ein Problem zu konzentrieren, das, abgesehen von dem großen materiellen Interesse, so recht seiner Vorliebe für das Verwickelte und Außergewöhnliche entsprach. Er nahm sein Taschenbuch heraus und machte sich ein paar Notizen.

»Es war ein großer Fehler, daß Sie nicht eher zu mir gekommen sind,« sagte er dann in strengem Ton. »Die Aufklärung wird dadurch bedeutend schwieriger für mich. Es müßte zum Beispiel sonderbar zugehen, wenn der Efeu und der Rasenplatz einem erfahrenen Beobachter keinen Anhaltspunkt liefern sollte.«

»Mich trifft keine Schuld, Herr Holmes. Seine Hoheit wünschte durchaus, jeden öffentlichen Skandal zu vermeiden. Er fürchtete, daß seine unglücklichen Familienverhältnisse dadurch an den Tag kämen; und davor hatte er eine große Scheu.«

»Aber offiziell ist doch wohl eine Untersuchung eingeleitet?«

»Allerdings. Sie hat aber zu keinem Ergebnis geführt. Es fand sich gleich eine Spur. Wir erhielten alsbald die Nachricht, daß auf einer benachbarten Bahnstation ein Knabe und ein jüngerer Herr, die einen Frühzug benützt hätten, gesehen worden seien. Und vergangene Nacht wurde gemeldet, daß die beiden in Liverpool aufgetaucht seien, aber mit unserer Sache gar nicht in Beziehung ständen. Nach einer schlaflosen Nacht bin ich in meiner Verzweiflung und Bedrängnis mit dem ersten Zug schnurstracks zu Ihnen gefahren.«

»Ich vermute, daß man die falsche Spur verfolgt und darüber die örtliche Untersuchung vernachlässigt hat?«

»Ja, diese hat man vollständig außer acht gelassen.«

»Auf diese Weise hat man drei Tage verloren. Die ganze Sache ist furchtbar verkehrt angefaßt worden.«

»Das fühle ich auch und gebe es unumwunden zu.«

»Und doch müßte sich das Problem lösen lassen. Ich freue mich, bald einen näheren Einblick in die Angelegenheit tun zu können. Haben Sie irgend einen Zusammenhang zwischen dem fehlenden Schüler und dem deutschen Lehrer herstellen können?«

»Absolut nicht.«

»War der Junge in der Klasse dieses Lehrers?«

»Nein; meines Wissens haben die beiden kein Wort miteinander gewechselt.«

»Das ist allerdings sehr sonderbar. Hatte der Knabe ein Fahrrad?«

»Nein.«

»Fehlte sonst irgend ein Rad?«

»Nein.«

»Wissen Sie das genau?«

»Jawohl.«

»Nun, Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß der deutsche Lehrer im Dunkel der Nacht davongefahren ist und den Jungen im Arm gehabt hat?«

»Gewiß nicht.«

»Wie denken Sie sich denn die ganze Sache?«

»Vielleicht hat er das Rad nur zum Schein mit weggenommen, es dann irgendwo verborgen und ist doch mit dem Knaben zu Fuß fortgegangen.«

 

»Das ist nicht unmöglich; freilich wäre es immerhin eine eigentümliche Art der Täuschung, nicht wahr? Standen noch mehr Fahrräder in dem Schuppen?«

»Verschiedene.«

»Sollte er dann nicht lieber zwei versteckt haben, wenn er glauben machen wollte, sie seien per Rad entflohen?«

»Man sollte es wohl annehmen.«

»Natürlich würde er das getan haben. Die Theorie, daß er dadurch eine Irreführung beabsichtigt habe, stimmt also nicht. Außerdem ist ein Rad kein Gegenstand, der sich so leicht verbergen oder vernichten läßt. Nun noch eine Frage. Hat der Junge am Tage vor seinem Verschwinden Besuch gehabt?«

»Nein.«

»Hat er auch keine Briefe bekommen?«

»Ja, einen.«

»Von wem?«

»Von seinem Vater.«

»Pflegen Sie die Briefe an Ihre Zöglinge zu öffnen?«

»Nein.«

»Woher wissen Sie dann, daß der Brief von seinem Vater war?«

»Weil der Umschlag das Wappen des Herzogs trug, und weil die Adresse, wie ich an der Handschrift sah, von ihm selbst geschrieben war.«

»Wie lange vorher hatte er keine Briefe erhalten?«

»Mehrere Tage nicht.«

»Ist je ein Brief aus Frankreich an ihn gekommen?«

»Nein, niemals.«

»Sie werden an meinen Fragen merken, worauf ich hinaus will. Entweder ist der Junge mit Gewalt entführt worden, oder er ist freiwillig gegangen. Im letzteren Fall muß von außen auf ihn eingewirkt worden sein, denn ein Knabe von zehn Jahren tut so etwas nicht aus eigenem Antrieb. Wenn er nun keinen Besuch gehabt hat, so muß diese Einwirkung schriftlich ausgeübt worden sein. Aus diesem Grund erkundige ich mich nach seinem Briefwechsel.«

»Ich fürchte, daß ich Ihnen darüber wenig sagen kann. Soviel mir bekannt ist, war der Vater sein einziger Korrespondent.«

»War das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ein herzliches?«

»Seine Hoheit ist gegen niemanden besonders freundlich. Er wird vollständig von den großen politischen Fragen in Anspruch genommen und hat für die gewöhnlichen menschlichen Regungen nichts übrig. Aber in seiner Art war er gegen den Knaben immer gut.«

»Trotzdem waren die Sympathien des Kindes auf Seiten der Mutter?«

»Ja.«

»Sagte er das selbst?«

»Nein.«

»Der Herzog doch nicht?«

»Gott behüte, auf keinen Fall.«

»Woher wissen Sie's dann?«

»Ich habe ein paar vertrauliche Unterredungen mit dem Sekretär des Herzogs, Herrn Wilder, gehabt und in deren Verlauf über die Herzensneigung des jungen Lords Aufschluß bekommen.«

»Ich verstehe. Ist übrigens der letzte Brief des Herzogs, nachdem der Junge fort war, in seinem Zimmer gefunden worden?«

»Nein; er hatte ihn mitgenommen. – Ich glaube, Herr Holmes, es ist Zeit, daß wir aufbrechen.«

»Ich will einen Wagen bestellen. In einer Viertelstunde werden wir Ihnen zu Diensten sein. Falls Sie nach Hause telegraphieren, Herr Direktor, so tun Sie nur so, als ob wir noch die Spur in Liverpool weiter verfolgen wollten. Unterdessen werde ich in aller Stille ganz in Ihrer Nähe arbeiten, und möglicherweise gelingt es zwei so alten Spürhunden wie Dr. Watson und mir, die Fährte Ihrer zwei Flüchtlinge doch noch auszuschnüffeln.«

Gegen Abend erreichten wir das Heim des Herrn Huxtable; es war schon dunkel, als wir die berühmte Anstalt betraten. Im Hausflur auf einem Tisch lag eine Visitenkarte, und der Diener flüsterte seinem Herrn etwas ins Ohr, worauf uns dieser sehr erregt mitteilte, daß der Herzog und sein Sekretär, Herr Wilder, im Sprechzimmer warteten.

»Kommen Sie mit, meine Herren,« fuhr er dann fort, »ich werde Sie sogleich vorstellen.«

Ich kannte natürlich die Bilder des berühmten Staatsmannes sehr wohl, aber er sah in Wirklichkeit ganz anders aus. Er war ein schlanker, stattlicher Herr mit langem, aristokratischem Gesicht und einer Nase von seltener Krümmung und Länge; seine Kleidung war sehr sorgfältig. Die kreideweiße Gesichtsfarbe trat durch den langen, hellroten Vollbart noch stärker hervor. Er sah uns streng an. Neben ihm stand sein Privatsekretär, ein blutjunger Mann, klein und gewandt, mit klugen hellblauen Augen und lebhaftem Gesichtsausdruck. Er eröffnete auch sofort die Unterhaltung; sein Ton war schneidend und bestimmt.

»Ich kam bereits heute früh in Ihre Wohnung, Herr Direktor, leider zu spät, um Ihre Reise nach London zu verhindern. Ich hörte, daß der Zweck derselben war, Herrn Sherlock Holmes den Fall zu übergeben. Seine Hoheit ist ungehalten darüber, daß Sie diesen Schritt getan haben, ohne vorher seine Einwilligung einzuholen.«

»Als ich erfuhr, daß die Polizei eine falsche Fährte verfolgte –«

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