Die Rückkehr des Sherlock Holmes

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Die tanzenden Männchen12

Holmes hatte bereits mehrere Stunden lang schweigend seinen langen dürren Rücken über ein chemisches Gefäß gebeugt, in welchem er eine besonders übelriechende Substanz zusammenbraute. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und er wirkte in meinen Augen wie ein seltsamer hagerer Vogel mit stumpfgrauem Gefieder und schwarzem Schopf.

»So, Watson«, sagte er plötzlich, »Sie beabsichtigen also nicht, in südafrikanische Effekten zu investieren?«

Ich fuhr erstaunt auf. So sehr ich auch mit Holmes bemerkenswerten Fähigkeiten vertraut war, so vollkommen unerklärlich war mir doch diese jähe Einmischung in meine innersten Gedanken.

»Woher um alles in der Welt wissen Sie das?« fragte ich.

Er drehte sich auf seinem Stuhl herum; in seiner Hand hielt er ein qualmendes Reagenzglas, und in seinen tiefliegenden Augen blitzte es amüsiert.

»Nun, Watson, gestehen Sie, Sie sind absolut fassungslos«, sagte er.

»Allerdings.«

»Ich sollte mir das von Ihnen schriftlich geben lassen.«

»Wieso?«

»Weil Sie in fünf Minuten sagen werden, das Ganze sei doch lächerlich einfach.«

»Ich bin sicher, daß ich nichts dergleichen sagen werde.«

»Sehen Sie, mein lieber Watson« – er stellte das Reagenzglas in den Ständer zurück und begann mir mit der Miene eines Lehrers, der zu seiner Klasse spricht, einen Vortrag zu halten – »es ist wirklich nicht schwierige eine Kette von Schlüssen zu entwickeln, worin jeder einzelne sich aus seinem Vorgänger ergibt und für sich allein ganz einfach ist. Wenn man dann, nachdem man dies getan, schlichtweg alle vorangegangenen Schlüsse wegläßt und seinem Publikum lediglich den Ausgangspunkt und die endgültige Schlußfolgerung präsentiert, kann man eine verblüffende, wenngleich vielleicht etwas effekthascherische Wirkung erzielen. Nun, es war wirklich nicht schwierig, mittels der Betrachtung der Delle zwischen Ihrem linken Zeigefinger und Daumen zu der Überzeugung zu gelangen, daß sie nicht beabsichtigen, Ihr kleines Vermögen in die Goldfelder zu investieren.«

»Ich sehe keinerlei Zusammenhang.«

»Was mich nicht wundernimmt; aber ich kann Ihnen den engen Zusammenhang rasch aufzeigen. Die fehlenden Glieder der höchst simplen Kette sind diese: 1. Sie hatten Kreide zwischen Ihrem linken Zeigefinger und Daumen, als Sie vorige Nacht vom Club nach Hause kamen. 2. Kreide benutzen Sie beim Billardspielen, um das Queue damit einzureiben. 3. Billard spielen Sie ausschließlich mit Thurston. 4. Vor vier Wochen haben Sie mir erzählt, Thurston besäße eine Option auf ein Grundstück in Südafrika, die in einem Monat auslaufen würde und an der er Sie sich als Teilhaber wünschte. 5. Ihr Scheckbuch befindet sich in meiner Schublade, und Sie haben mich nicht um den Schlüssel gebeten. 6. Sie beabsichtigen nicht, Ihr Geld auf diese Weise anzulegen.«

»Wie lächerlich einfach!« rief ich aus.

»Sehr richtig!« sagte er ein wenig gereizt. »Jedes Problem wird höchst kindisch, wenn man es Ihnen erst einmal erklärt hat. Das hier ist noch unerklärt. Sehen Sie zu, was Sie daraus machen können, Freund Watson.« Er warf ein Blatt Papier auf den Tisch und wandte sich wieder seiner chemischen Analyse zu.

Ich betrachtete die absurden Hieroglyphen auf dem Blatt mit Verwunderung.

»Holmes, das ist eine Kinderzeichnung!« rief ich.

»Oh, meinen Sie!«

»Was denn sonst?«

»Das möchte auch Mr. Hilton Cubitt aus Ridling Thorpe Manor in Norfolk unbedingt wissen. Dies kleine Rätsel kam heute mit der ersten Post, und er wollte mit dem nächsten Zug nachkommen. Es läutet an der Tür, Watson. Ich wäre nicht allzu erstaunt, wenn er es wäre.«

Schwere Schritte stiegen die Treppe hoch, und einen Augenblick darauf trat ein großer, rosiger, glattrasierter Gentleman ein, dessen klare Augen und blühende Wangen davon kündeten, daß er sein Leben fern von den Nebeln der Baker Street führte. Bei seinem Eintreten schien er einen Schwall der kräftigen, frischen, belebenden Luft seiner Heimat an der Ostküste mit hereinzubringen. Nachdem er uns beiden die Hand gegeben hatte, wollte er sich gerade hinsetzen, als sein Blick auf das Papier mit den merkwürdigen Zeichen fiel, das ich eben untersucht und auf dem Tisch liegengelassen hatte.

»Nun, Mr. Holmes, was halten Sie davon?« rief er. »Man hat mir gesagt, Sie hätten seltsame Rätsel gern, und ein seltsameres als dieses dürfte Ihnen so bald nicht unterkommen. Ich habe das Blatt vorausgeschickt, damit Sie vor meinem Eintreffen Zeit hätten, es zu studieren.«

»Es handelt sich in der Tat um ein recht kurioses Erzeugnis«, sagte Holmes. »Auf den ersten Blick sieht es nach einem Kinderpossen aus. Es besteht aus einer Anzahl absurder kleiner Figuren, die über das Papier tanzen, auf das sie gezeichnet sind. Warum legen Sie einem so grotesken Gegenstand eigentlich Bedeutung bei?«

»Tue ich ja nicht, Mr. Holmes; aber meine Frau. Sie ist davor zu Tode erschrocken. Sie sagt zwar nichts, doch sehe ich das Entsetzen in ihren Augen. Und darum will ich die Sache von Grund aufklären.«

Holmes hielt das Papier hoch, so daß das Licht der Sonne voll darauf fiel. Es war ein aus einem Notizbuch herausgerissenes Blatt. Die Zeichen waren mit Bleistift gemalt und sahen folgendermaßen aus:


Holmes studierte sie eine Zeitlang, dann faltete er das Blatt sorgfältig zusammen und legte es in sein Notizbuch.

»Dies verspricht ein höchst interessanter und ungewöhnlicher Fall zu werden«, sagte er. »Sie haben mir in Ihrem Brief zwar schon ein paar Einzelheiten mitgeteilt, Mr. Hilton Cubitt, doch wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diese zugunsten meines Freundes Dr. Watson hier noch einmal zusammenfassen würden.«

»Ich bin kein guter Geschichtenerzähler«, sagte unser Besucher, indem er nervös an seinen großen kräftigen Händen herumknetete. »Fragen Sie nur, wenn ich mich nicht deutlich genau ausdrücke. Ich beginne mit der Zeit meiner Verehelichung im vorigen Jahr; zunächst aber möchte ich darauf hinweisen, daß meine Familie, wenn ich auch kein reicher Mann bin, seit fünf Jahrhunderten in Ridling Thorpe ansässig ist und es in der ganzen Grafschaft Norfolk keine bekanntere Familie gibt als die meine. Voriges Jahr fuhr ich zum Jubiläum nach London und stieg in der Pension am Russell Square ab, weil dort auch Parker, der Vikar unserer Gemeinde, logierte. Dort wohnte auch eine junge amerikanische Lady mit Namen Patrick – Elsie Patrick. Irgenwie freundeten wir uns an, und nach einem Monat war ich über beide Ohren in sie verliebt. Wir heirateten in aller Stille auf einem Standesamt und kehrten als Ehepaar nach Norfolk zurück. Sie werden es für unsinnig halten, Mr. Holmes, daß ein Mann von guter Herkunft eine Frau heiratet, von deren Vergangenheit und Familie er überhaupt nichts weiß; doch wenn Sie sie sähen und kennenlernten, würden Sie mich begreifen.

Elsie war, was das betraf, ganz offen. Ich kann nicht behaupten, daß sie mir nicht jede Möglichkeit gegeben hat, mich aus der Affaire zu ziehen, wenn ich es gewünscht hätte. ›Ich bin in meinem Leben einige sehr unangenehme Beziehungen eingegangen‹, sagte sie, ›von denen ich nichts mehr wissen will. Ich möchte nicht mehr an die Vergangenheit denken müssen, da sie mir sehr schmerzlich ist. Wenn Sie mich nehmen, Hilton, werden Sie eine Frau bekommen, die sich persönlich nichts vorzuwerfen hat; doch werden Sie sich mit meinem Wort zufriedengeben und mir erlauben müssen, von all dem zu schweigen, was vor der Zeit geschah, da ich die Ihre wurde. Sind Ihnen diese Bedingungen zu hart, so gehen Sie nach Norfolk zurück und überlassen mich dem einsamen Leben, in dem Sie mich angetroffen haben.‹ Es war der Tag vor unserer Hochzeit, da sie diese Worte zu mir sprach. Ich sagte ihr, ich sei es zufrieden, sie zu ihren Bedingungen zu nehmen, und ich habe mein Wort getreulich gehalten.

Nun, wir sind jetzt ein Jahr lang verheiratet und waren sehr glücklich. Aber vor einem Monat, Ende Juni, gewahrte ich an ihr zum ersten Mal Anzeichen von Betrübnis. Eines Tages erhielt meine Frau einen Brief aus Amerika. Ich erkannte dies an der amerikanischen Briefmarke. Sie wurde leichenblaß, las den Brief und warf ihn ins Feuer. Sie äußerte sich nachher nicht mehr darüber, und ich auch nicht, denn versprochen ist versprochen; aber seither hat sie keine unbeschwerte Stunde mehr gehabt. Sie sieht ständig verängstigt aus – als ob sie etwas erwarte oder befürchte. Sie täte besser daran, sich mir anzuvertrauen. Sie würde den besten Freund in mir finden. Doch kann ich nichts sagen, ehe sie nicht den Anfang gemacht hat. Und bedenken Sie, Mr. Holmes, sie ist eine wahrheitsliebende Frau, und was auch immer Schlimmes in ihrem früheren Leben vorgefallen sein mag: Es ist nicht ihre Schuld gewesen. Ich bin ja nur ein einfacher Gutsherr aus Norfolk, doch stellt niemand in ganz England die Ehre seiner Familie höher als ich. Sie weiß das wohl, und sie wußte es auch, ehe sie mich heiratete. Sie würde sie nie beflecken – dessen bin ich sicher.

Nun komme ich zu dem seltsamen Teil meiner Geschichte. Vor etwa einer Woche – es war am vorigen Dienstag – entdeckte ich auf einem Fensterbrett eine Reihe komischer kleiner tanzender Figuren, wie die auf dem Papier hier. Sie waren mit Kreide hingekritzelt. Ich glaubte, der Stalljunge hätte sie gemalt, aber der Bursche hat mir geschworen, daß er nichts davon wüßte. Jedenfalls sind sie in der Nacht dort hingekommen. Ich ließ sie abwaschen und sprach erst danach zu meiner Frau davon. Zu meiner Überraschung nahm sie dies sehr ernst und bat mich, falls noch mehr dergleichen auftauchen sollte, es ihr zu zeigen. Eine Woche lang geschah nichts, aber dann fand ich gestern früh diesen Zettel auf der Sonnenuhr in meinem Garten. Ich zeigte ihn Elsie, worauf sie in Ohnmacht fiel. Seitdem macht sie den Eindruck einer Traumwandlerin, sie ist wie betäubt, und das Entsetzen lauert ständig in ihrem Blick. Da schrieb ich Ihnen und schickte dieses Blatt, Mr. Holmes! So etwas konnte ich nicht der Polizei übergeben, denn die hätten mich ausgelacht, aber Sie werden mir sagen, was ich tun soll. Ich bin kein reicher Mann; aber wenn meiner kleinen Frau irgendeine Gefahr droht, würde ich meinen letzten Heller hergeben, um sie zu schützen.«

 

Ein edles Geschöpf, dieser Mann vom guten alten englischen Boden – schlicht, offen und freundlich mit seinen großen, ernsten blauen Augen und seinem klaren, ebenmäßigen Gesicht. Aus seinen Zügen leuchteten Liebe und Vertrauen zu seiner Frau. Holmes hatte seiner Erzählung mit äußerster Konzentration zugehört, und jetzt verharrte er eine Zeitlang in Schweigen versunken.

»Glauben Sie nicht, Mr. Cubitt«, sagte er schließlich, »Sie täten am besten daran, sich direkt an Ihre Frau zu wenden und sie zu bitten, Ihnen ihr Geheimnis mitzuteilen?«

Hilton Cubitt schüttelte sein massives Haupt.

»Versprochen ist versprochen, Mr. Holmes. Wenn Elsie mir etwas mitzuteilen wünschte, würde sie das tun. Wenn aber nicht, darf ich sie nicht dazu zwingen. Jedoch darf ich mit gutem Recht meinen eigenen Weg gehen – und das werde ich tun.«

»Dann will ich Ihnen von ganzem Herzen helfen. Zunächst einmal, haben Sie irgendwelche Fremden in Ihrer Nachbarschaft bemerkt?«

»Nein.«

»Ich nehme an, dies ist ein sehr ruhiger Ort. Da würde doch jedes neue Gesicht Aufsehen machen?«

»In der unmittelbaren Nachbarschaft schon. Aber etwas weiter weg haben wir ein paar kleine Badeorte, und die Bauern nehmen Logiergäste auf.«

»Diese Hieroglyphen haben offenbar eine Bedeutung. Sollte es eine rein willkürliche sein, dürften wir sie wohl unmöglich herausfinden. Sollte sie hingegen System haben, werden wir der Sache zweifellos auf den Grund kommen. Aber dieses eine Stück hier ist so kurz, daß ich nichts tun kann, und was Sie mir berichtet haben, ist so unbestimmt, daß wir zu einer Nachforschung noch keine Grundlage haben. Ich schlage daher vor, Sie kehren nach Norfolk zurück, verhalten sich dort sehr wachsam und fertigen von allen tanzenden Männchen, die noch auftauchen mögen, genaue Kopien an. Es ist jammerschade, daß wir von den Kreidezeichen auf dem Fensterbrett keine Abschrift besitzen. Forschen Sie auch diskret nach, ob in der Nachbarschaft irgendwelche Fremden aufgetaucht sind. Wenn Sie ein wenig neues Material gesammelt haben, kommen Sie wieder zu mir. Einen besseren Rat kann ich Ihnen jetzt nicht geben, Mr. Hilton Cubitt. Sollten sich dringende neue Entwicklungen ergeben, so bin ich stets bereit, Sie unverzüglich in Ihrer Heimat aufzusuchen.«

Das Gespräch hatte Sherlock Holmes sehr nachdenklich gemacht, und in den nächsten Tagen beobachtete ich mehrmals, wie er das Blatt aus seinem Notizbuch nahm und lange und ernst die seltsamen Figuren darauf betrachtete. Jedoch erst zwei Wochen später sprach er wieder über diese Angelegenheit. Es war an einem Nachmittag, und ich wollte gerade ausgehen, als er mich zurückrief.

»Sie sollten besser hierbleiben, Watson.«

»Warum?«

»Weil ich heute morgen ein Telegramm von Hilton Cubitt bekommen habe – sie erinnern sich doch an Hilton Cubitt, den mit den tanzenden Männchen? Er wollte um ein Uhr zwanzig in Liverpool Street ankommen und dürfte daher jeden Moment hier sein. Ich schließe aus seinem Telegramm, daß einige neue und wichtige Dinge vorgefallen sind.«

Wir brauchten nicht lange zu warten, denn unser Gutsherr aus Norfolk kam direkt vom Bahnhof zu uns, so schnell ihn ein Hansom bringen konnte. Er wirkte besorgt und niedergeschlagen; seine Augen waren müde und seine Stirn zerfurcht.

»Die Sache geht mir langsam auf die Nerven, Mr. Holmes«, begann er, indem er sich erschöpft in einen Lehnstuhl sinken ließ. »Es ist schon schlimm genug, das Gefühl zu haben, man sei von unsichtbaren und unbekannten Leuten umgeben, die irgend etwas im Schilde führen; wenn man aber darüber hinaus mitansehen muß, daß dies die eigene Frau stückweise dem Tode näherbringt, dann wird es nahezu unerträglich. Sie welkt darunter hin – verwelkt glattweg vor meinen Augen.«

»Hat sie schon etwas verlauten lassen?«

»Nein, Mr. Holmes, kein Wort. Aber das arme Mädel hat ein paarmal reden wollen, konnte sich aber nicht dazu überwinden. Ich habe versucht, ihr zu helfen; aber ich habe es wohl zu plump angestellt und sie so noch mehr davon abgeschreckt. Sie sprach dann von meiner alten Familie, unserem Ruf in der Grafschaft, unserem Stolz auf unsere unbefleckte Ehre – und stets hatte ich dabei das Gefühl, sie wollte ihre Sache loswerden; doch irgendwie gelangte sie nie dazu.«

»Aber Sie haben selbst etwas herausgefunden?«

»Eine ganze Menge, Mr. Holmes. Ich habe einige Reihen neuer tanzender Männchen für Sie, und, was noch wichtiger ist, ich habe den Kerl gesehen.«

»Was – den Mann, der sie zeichnet?«

»Ja, ich sah ihn bei seiner Arbeit. Aber ich will Ihnen alles der Reihe nach erzählen. Als ich von meinem Besuch bei Ihnen zurückkam, fand ich am Morgen darauf als allererstes einen neuen Satz tanzender Männchen. Sie waren mit Kreide auf das schwarze Holztor des Geräteschuppens gemalt, der an unserer Wiese steht; man kann ihn von unseren Vorderfenstern ganz überblicken. Ich habe sie genau abgemalt; hier bitte.« Er entfaltete ein Stück Papier und legte es auf den Tisch.


»Ausgezeichnet!« sagte Holmes. »Ausgezeichnet! Fahren Sie bitte fort.«

»Nachdem ich die Zeichnung abgemalt hatte, wischte ich sie weg. Aber zwei Tage darauf war eine neue Inschrift da. Sehen Sie, hier:«


Holmes rieb sich die Hände und kicherte vor Vergnügen.

»Unser Material wächst rapide an«, sagte er.

»Drei Tage darauf lag eine auf Papier gekritzelte Botschaft unter einem Kieselstein auf der Sonnenuhr. Hier ist sie. Wie Sie sehen, entsprechen die Figuren genau den vorigen. Hierauf beschloß ich, mich auf die Lauer zu legen. Ich nahm daher meinen Revolver und wachte in meinem Arbeitszimmer, von wo aus man die Wiese und den Garten überblicken kann. Es war etwa zwei Uhr morgens; ich saß am Fenster, alles war dunkel, bis auf das Mondlicht draußen; da vernahm ich hinter mir Schritte, und meine Frau erschien im Morgenmantel. Sie flehte mich an, ins Bett zu kommen. Ich sagte ihr ganz offen, daß ich denjenigen zu sehen wünschte, der uns so albern an der Nase herumführte. Sie erwiderte, das Ganze sei irgendein dummer Streich, dem ich keine Beachtung schenken sollte.

›Wenn es dich wirklich beunruhigt, Hilton, könnten wir beide doch verreisen und so der Belästigung aus dem Weg gehen.‹

›Was – wir sollten uns von einem Possenreißer aus dem Haus vertreiben lassen?‹ sagte ich. ›Ha, die ganze Grafschaft würde uns ja auslachen!‹

›Ach, komm ins Bett‹, sagte sie. ›Morgen besprechen wir die Sache dann.‹

Als sie das sagte, sah ich plötzlich im Mondlicht ihr bleiches Gesicht noch bleicher werden, und ihre Hand klammerte sich an meine Schulter. Im Schatten des Geräteschuppens bewegte sich etwas. Ich sah eine dunkle geduckte Gestalt um die Ecke schleichen und vor dem Tor sich niederkauern. Ich ergriff meine Pistole und wollte hinauslaufen, aber meine Frau schlang ihre Arme um mich und hielt mich krampfhaft fest. Ich versuchte sie abzuschütteln, doch sie umklammerte mich in höchster Verzweiflung. Endlich kam ich frei, aber bis ich dann die Tür aufgemacht und den Schuppen erreicht hatte, war der Mensch nicht mehr da. Er hatte jedoch eine Spur seiner Anwesenheit zurückgelassen, denn an dem Tor befand sich wieder genau dieselbe Anordnung von tanzenden Männchen wie schon zweimal zuvor, die ich auf diesem Papier da abgemalt habe. Von dem Kerl war ansonsten nichts zu sehen, obwohl ich das ganze Grundstück absuchte. Aber das Erstaunliche daran ist, daß er die ganze Zeit über dagewesen sein muß, denn als ich am Morgen das Tor noch einmal untersuchte, hatte er wieder ein paar neue Figuren hingemalt, und zwar unter die Zeile, die ich schon gesehen hatte.«

»Haben Sie diese neue Zeichnung auch da?«

»Ja; sie ist sehr kurz, aber ich habe sie trotzdem abgemalt. Hier ist sie.«

Wieder zog er ein Papier hervor. Der neue Tanz sah so aus:


»Sagen Sie mir«, bat Holmes – und ich sah seinen Augen an, wie erregt er war – »war dies ein bloßer Zusatz zu dem ersten, oder erschien es vollkommen getrennt davon?«

»Es stand auf einer anderen Tafel des Tors.«

»Ausgezeichnet! Das ist bei weitem das Bedeutsamste für unsere Zwecke und macht mir Hoffnung. Nun, Mr. Hilton Cubitt, setzen Sie bitte Ihre höchst interessante Darlegung fort.«

»Mehr habe ich nicht zu sagen, Mr. Holmes, außer daß ich in dieser Nacht auf meine Frau wütend war, weil sie mich zurückgehalten hatte, als ich diesen feigen Schurken hätte überwältigen können. Angeblich hat sie befürchtet, ich könnte zu Schaden kommen. Ich aber glaubte vorübergehend, in Wirklichkeit habe sie vielleicht befürchtet, daß er zu Schaden kommen könnte, denn ich konnte nicht daran zweifeln, daß sie diesen Mann kannte und wußte, was er mit diesen komischen Zeichen sagen wollte. Aber etwas in der Stimme und den Augen meiner Frau verbietet mir jeglichen Zweifel, Mr. Holmes, und jetzt bin ich davon überzeugt, daß sie dabei wirklich nur um meine Sicherheit besorgt war. Das ist alles, und nun müssen Sie mir raten, was ich tun soll. Ich selbst würde am liebsten ein Dutzend meiner Bauernburschen im Gebüsch verstecken, und wenn dieser Kerl noch einmal kommt, ihm eine solche Abreibung verpassen, daß er uns künftig in Ruhe läßt.«

»Ich fürchte, der Fall ist für so simple Rezepte zu kompliziert«, sagte Holmes. »Wie lange können Sie in London bleiben?«

»Ich muß noch heute zurück. Ich möchte meine Frau auf keinen Fall über Nacht alleine lassen. Sie ist sehr nervös und hat mich gebeten, zurückzukommen.«

»Daran tun Sie allerdings recht. Aber wenn Sie hätten bleiben können, wäre ich in ein paar Tagen womöglich in der Lage gewesen, Sie nach Hause zu begleiten. Wenn Sie mir inzwischen diese Zettel hierlassen, werde ich Ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach in Bälde einen Besuch abstatten und Licht in Ihren Fall bringen können.«

Sherlock Holmes bewahrte seine gelassene professionelle Art, bis unser Besucher sich von uns verabschiedet hatte. Gleichwohl fiel es mir, der ich ihn so gut kannte, leicht, ihm eine beträchtliche Aufgeregtheit anzumerken. Der breite Rücken Hilton Cubitts war auch kaum durch die Tür verschwunden, als mein Gefährte an den Tisch eilte, die ganzen Zettel mit den tanzenden Männchen vor sich ausbreitete und sich an eine verwickelte und kunstvolle Rechnerei begab.

Zwei Stunden lang sah ich ihm dabei zu, wie er ein ums andere Blatt Papier mit Figuren und Buchstaben bedeckte; er war so sehr in seine Aufgabe vertieft, daß er meine Anwesenheit offenbar vergessen hatte. Ab und zu kam er voran, dann pfiff und sang er bei seinem Tun; aber manchmal verwirrte ihn etwas, und dann saß er lange da mit gefurchter Stirn und abwesendem Blick. Schließlich sprang er mit einem Ausruf der Befriedigung aus seinem Stuhl und ging händereibend im Zimmer auf und nieder. Dann schrieb er ein langes Telegramm auf ein Depeschenformular. »Falls ich die erhoffte Antwort erhalte, werden Sie Ihrer Sammlung einen sehr hübschen Fall hinzufügen können, Watson«, sagte er. »Ich denke, daß wir morgen nach Norfolk fahren und unserem Freund einige sehr bestimmte Neuigkeiten über den geheimen Hintergrund seiner Belästigung liefern können.«

Ich muß gestehen, daß ich von Neugier erfüllt war; doch war mir bewußt, daß Holmes seine Enthüllungen zu seiner Zeit und auf seine Art zu machen pflegte, und ich wartete daher ab, bis es ihm paßte, mich ins Vertrauen zu ziehen.

Aber das Antworttelegramm verzögerte sich, und es folgten zwei Tage ungeduldigen Wartens, in denen Holmes bei jedem Läuten der Torglocke die Ohren spitzte. Am Abend des zweiten Tages traf ein Brief von Hilton Cubitt ein. Bei ihm sei alles ruhig, von einer langen Inschrift abgesehen, die am Morgen auf dem Sockel der Sonnenuhr gelegen habe. Er hatte eine Abschrift davon beigelegt, die ich hier wiedergebe:

 


Holmes beugte sich einige Minuten lang über diesen grotesken Fries, dann sprang er plötzlich mit einem Ausruf der Überraschung und Bestürzung auf. Sein Gesicht machte einen besorgten und abgespannten Eindruck.

»Wir haben diese Sache lange genug treiben lassen«, sagte er. »Geht heute abend noch ein Zug nach North Walsham?«

Ich schlug den Fahrplan auf. Der letzte war gerade abgefahren.

»Dann werden wir früh frühstücken und den ersten Morgenzug nehmen«, sagte Holmes. »Wir werden dort dringendst gebraucht. Ah ja, da kommt unser Telegramm. Einen Augenblick, Mrs. Hudson – vielleicht muß ich antworten. Nein, genau wie ich's mir gedacht habe. Diese Nachricht zeigt noch eindringlicher, daß wir keine Stunde mehr verlieren dürfen, um Hilton Cubitt vom Stand der Dinge zu berichten. Unser schlichter Gutsherr aus Norfolk ist nämlich in ein ungewöhnliches und gefährliches Netz geraten.«

So stellte es sich in der Tat heraus. Und indem ich nun zum Schluß einer finstren Geschichte komme, die mir bis dahin lediglich kindisch und bizarr erschienen war, durchlebe ich noch einmal das Grauen und Entsetzen, welches mich damals erfüllte. Ich wünschte, ich hätte meinen Lesern ein erfreulicheres Ende mitzuteilen; doch ist dies hier die Chronik tatsächlicher Begebenheiten, und deren tragischer Zuspitzung muß ich nun die seltsame Kette von Ereignissen folgen lassen, die Ridling Thorpe Manor in ganz England zum Tagesgespräch machten.

Wir hatten den Zug in North Walsham kaum verlassen und unseren Bestimmungsort erwähnt, als auch schon der Bahnhofsvorsteher auf uns zueilte. »Sie sind vermutlich die Detektive aus London?« fragte er.

Ein verärgerter Ausdruck huschte über Holmes' Gesicht.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil hier eben schon Inspektor Martin aus Norwich durchgekommen ist. Aber vielleicht sind Sie ja auch die Ärzte. Sie ist nicht tot – jedenfalls noch nicht, nach dem, was man hört. Vielleicht kommen Sie noch rechtzeitig, sie zu retten – wenn auch nur für den Galgen.«

Holmes' Stirn verfinsterte sich vor Besorgnis.

»Wir sind zwar auf dem Weg nach Ridling Thorpe Manor«, sagte er, »aber wir haben keine Ahnung, was dort vorgefallen ist.«

»Eine furchtbare Sache«, sagte der Bahnhofsvorsteher. »Mr. Hilton Cubitt und seine Frau – beide erschossen. Sie hat erst ihn und dann sich selbst erschossen, sagen die Dienstboten. Er ist tot, und ihr gibt man auch keine Überlebenschance. Ach herrje! Eine der ältesten Familien in der Grafschaft Norfolk, und eine der ehrbarsten dazu.«

Ohne ein Wort zu verlieren, eilte Holmes zu einer Kutsche, und während der langen Fahrt über sieben Meilen machte er nicht ein einziges Mal den Mund auf. Selten habe ich ihn so furchtbar bedrückt gesehen. Unruhig war er schon auf der ganzen Fahrt von London her gewesen, und ich hatte beobachtet, wie er mit gespannter Sorge die Morgenzeitungen durchgeblättert hatte; aber diese jähe Verwirklichung seiner schlimmsten Befürchtungen hatte ihn in öde Melancholie gestürzt. In düstere Gedanken verloren lehnte er in seinem Sitz. Dabei umgab uns so vieles Beachtenswerte, indem wir eine geradezu einmalige englische Landschaft durchfuhren, in der einige wenige verstreute Hütten von der Lage der heutigen Bevölkerung kündeten, während gleichzeitig überall mächtige viereckige Kirchtürme aus dem flachen grünen Land stachen und vom Ruhm und Wohlstand des alten Ostanglien erzählten. Endlich erschien das violette Band der Nordsee über dem grünen Rand der Küste von Norfolk, und der Kutscher wies mit seiner Peitsche auf zwei alte Fachwerkgiebel, die aus einem kleinen Wäldchen ragten: »Ridling Thorpe Manor«, sagte er.

Als wir auf den Säuleneingang zufuhren, bemerkte ich neben dem Tennisrasen den schwarzen Geräteschuppen und die Sonnenuhr, zu denen wir solch merkwürdige Beziehungen hatten. Ein schmucker kleiner Mann mit gewichstem Schnauzbart und von behendem, munterem Wesen kam eben von einem hohen Einspänner geklettert. Er stellte sich als Inspektor Martin von der hiesigen Polizei vor und war sichtlich erstaunt, als er den Namen meines Gefährten hörte.

»Sowas, Mr. Holmes! Das Verbrechen geschah ja erst um drei Uhr heute morgen! Wie konnten Sie in London davon erfahren und so früh wie ich am Tatort sein?«

»Ich habe es vorausgeahnt und kam in der Hoffnung, es verhindern zu können.«

»Dann müssen Sie wichtige Aufschlüsse haben, von denen wir hier nichts wissen, denn man sagte den beiden nach, sie seien ein überaus glückliches Paar.«

»Meine einzigen Aufschlüsse sind die tanzenden Männchen«, sagte Holmes. »Ich werde es Ihnen später erklären. Da es nun zu spät ist, diese Tragödie zu verhindern, will ich mein Wissen vorerst dazu gebrauchen, für Gerechtigkeit zu sorgen. Werden Sie mich bei meinen Ermittlungen unterstützen, oder ist Ihnen lieber, wenn ich auf eigene Faust handle?«

»Ich wäre stolz darauf, wenn wir zusammenarbeiteten, Mr. Holmes«, sagte der Inspektor ernst.

»Wenn das so ist, würde ich jetzt gern den Stand der Ermittlungen erfahren und dann ohne jede unnötige Verzögerung das Anwesen untersuchen.«

Inspektor Martin war so klug, meinen Freund die Sache auf seine Weise betreiben zu lassen, und beschränkte sich darauf, die Ergebnisse sorgfältig zu notieren. Der hiesige Arzt, ein alter, weißhaariger Mann, war gerade aus Mrs. Hilton Cubitts Zimmer gekommen und berichtete, ihre Verletzungen seien zwar ernst, aber nicht unbedingt tödlich. Die Kugel sei ihr durch den vorderen Teil des Hirns gefahren, und es würde vermutlich einige Zeit dauern, bis sie das Bewußtsein wiedererlange. Zu der Frage, ob sie selbst oder jemand anders auf sie geschossen habe, wage er keine entschiedene Meinung zu äußern. Auf jeden Fall sei die Kugel aus sehr geringer Entfernung abgefeuert worden. In dem Zimmer habe man nur diese eine Pistole gefunden, aus der zwei Schüsse abgegeben worden seien. Mr. Hilton Cubitt sei mitten ins Herz getroffen worden. Es sei gleichermaßen vorstellbar, daß er erst auf sie und dann auf sich geschossen habe, wie auch, daß sie die Tat begangen habe, denn der Revolver habe zwischen ihnen auf dem Boden gelegen.

»Hat man die Leiche schon weggebracht?« fragte Holmes.

»Wir haben nur die Lady weggebracht. Wir konnten sie ja nicht verwundet auf dem Boden liegen lassen.«

»Wie lange sind Sie schon hier, Doktor?«

»Seit vier Uhr.«

»Sonst noch jemand?«

»Ja, unser Inspektor hier.«

»Und Sie haben nichts angerührt?«

»Nichts.«

»Sie haben sehr besonnen gehandelt. Wer hat nach Ihnen geschickt?«

»Das Hausmädchen, Saunders.«

»Hat sie Alarm geschlagen?«

»Sie und Mrs. King, die Köchin.«

»Wo sind die beiden jetzt?«

»In der Küche, nehme ich an.«

»Dann sollten wir uns unverzüglich ihre Geschichte anhören.«

Die altehrwürdige Vorhalle mit ihrer Eichentäfelung und den hohen Fenstern war zu einem Gerichtssaal geworden. Holmes saß in einem großen altmodischen Sessel; seine Augen glühten unerbittlich aus seinem hageren Gesicht. Ich konnte ihm den festen Vorsatz ansehen, sein Leben dieser Untersuchung zu widmen, bis sein Klient, den er nicht hatte retten können, schließlich gerächt wäre. Der adrette Inspektor Martin, der alte ergraute Landarzt, ich selbst sowie ein stumpfer Dorfpolizist bildeten die übrigen Mitglieder dieser merkwürdigen Gesellschaft.

Die beiden Frauen erzählten ihre Geschichte deutlich genug. Sie seien vom Geräusch einer Explosion, der eine Minute später eine zweite folgte, aus dem Schlaf gerissen worden. Sie schliefen in angrenzenden Zimmern, und Mrs. King sei zu Saunders hinübergelaufen. Zusammen seien sie die Treppe hinabgestiegen. Die Tür des Arbeitszimmers habe offen gestanden, auf dem Tisch eine Kerze gebrannt. Ihr Herr habe mitten im Raum auf dem Boden gelegen. Er sei tot gewesen. Nahe dem Fenster habe seine Frau gekauert, mit dem Kopf an die Wand gelehnt. Sie sei gräßlich verwundet gewesen, eine Gesichtshälfte blutüberströmt. Sie habe schwer geatmet, aber nichts sagen können. Der Flur sei wie das Zimmer voller Rauch und Pulvergeruch gewesen. Das Fenster sei mit Sicherheit von innen verschlossen und verriegelt gewesen. Beide Frauen waren sich in diesem Punkte einig. Sie hätten sofort nach dem Arzt und dem Inspektor schicken lassen. Dann hätten sie mit Hilfe des Knechts und des Stallburschen ihre verwundete Herrin auf deren Zimmer geschafft. Das Bett sei sowohl von ihr als auch ihrem Gatten benutzt worden. Sie habe ein Kleid getragen – er hingegen über seinem Nachthemd einen Morgenmantel. Aus dem Arbeitszimmer sei nichts entfernt worden. Soweit sie wüßten, habe es zwischen den Eheleuten nie Streit gegeben. Sie hätten sie stets als ein sehr glückliches Paar angesehen.