Die Rückkehr des Sherlock Holmes

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Der Baumeister aus Norwood

»Aus der Sicht des Kriminologen«, sagte Mr. Sherlock Holmes, »ist London seit dem Ableben des seligen Professors Moriarty eine ungemein reizlose Stadt geworden.«

»Ich kann mir kaum denken, daß Sie hiermit bei vielen anständigen Bürgern Zustimmung ernten würden«, erwiderte ich.

»Nun, nun, ich darf nicht egoistisch sein«, sagte er lächelnd, indem er seinen Stuhl vom Frühstückstisch zurückschob. »Gewiß hat die Allgemeinheit gewonnen und niemand verloren außer dem bedauernswerten arbeitslosen Fachmann, dessen Beschäftigung dahingegangen ist. Mit diesem Manne im Felde bedeutete jede Morgenzeitung unendliche Möglichkeiten. Oftmals zeigte sich nur die kleinste Spur, Watson, der leiseste Hinweis, und doch reichte dies aus, mir zu sagen, daß dieses große, böse Hirn existierte, so wie das schwächste Zittern am Rand des Netzes einen an die ekle Spinne erinnert, die in seinem Zentrum lauert. Kleine Diebstähle, mutwillige Anschläge, planlose Freveltaten – dem Manne, der den Schlüssel dazu besaß, fügte sich all dies zu einem geschlossenen Ganzen. Für den wissenschaftlichen Studenten der höheren Welt des Verbrechens bot keine andere Hauptstadt in Europa die Vorteile, die London seinerzeit besaß. Doch jetzt –« In komischer Mißbilligung der Lage, für deren Herbeiführung er selbst so viel getan hatte, zuckte er mit den Schultern.

Zu der Zeit, von der ich hier berichte, war Holmes bereits einige Monate wieder da, und ich hatte auf seine Bitte hin meine Praxis verkauft und war in die alte gemeinsame Wohnung in Baker Street zurückgezogen. Ein junger Arzt namens Verner hatte meine kleine Praxis in Kensington erworben, indem er mir mit verblüffend geringem Widerstreben den höchsten Preis zahlte, den ich zu verlangen wagte – ein Vorfall, der sich erst etliche Jahre später aufklärte, als ich nämlich herausfand, daß Verner entfernt mit Holmes verwandt war und in Wirklichkeit niemand anders als mein Freund dieses Geld zur Verfügung gestellt hatte.

Die Monate unseres Zusammenlebens waren übrigens gar nicht so ereignislos, wie er behauptet, denn beim Durchsehen meiner Aufzeichnungen stelle ich fest, daß in diesen Zeitraum zum einen der Fall mit den Papieren des ehemaligen Präsidenten Murillo, zum anderen die schockierende Affäre mit dem holländischen Dampfschiff Friesland fällt, welche uns beinahe das Leben gekostet hätte. Sein unterkühltes und stolzes Wesen war jedoch allem, was mit öffentlichem Beifall verbunden, durchaus abhold, und er verpflichtete mich in striktester Weise, nie mehr ein Wort über ihn, seine Methoden oder seine Erfolge verlauten zu lassen – ein Verbot, das, wie ich bereits erklärt habe, erst jetzt aufgehoben wurde.

Nach seinem neckischen Lamento lehnte Sherlock Holmes sich in seinen Sessel zurück und entfaltete gerade müßig die Morgenzeitung, als ein ungeheures Läuten der Glocke unsere Aufmerksamkeit auf sich zog; unmittelbar darauf folgte ein hohles Klopfgeräusch, als ob jemand mit der Faust gegen die Außentür schlüge. Sowie sie sich geöffnet hatte, kam stürmisches Rennen im Hausflur, hastige Schritte polterten die Treppe hoch, und einen Augenblick später stürzte ein wild dreinblickender, ungestümer junger Mann bleich, zerzaust und zitternd in unser Zimmer. Er sah uns beide nacheinander fragend an, und unsere fragenden Blicke machten ihm bewußt, daß er uns für seinen wenig feierlichen Eintritt eine Rechtfertigung schuldete.

»Es tut mir leid, Mr. Holmes«, schrie er. »Sie dürfen mir keinen Vorwurf machen. Ich bin dem Wahnsinn nahe. Mr. Holmes, ich bin der unglückliche John Hector McFarlane.«

Er verkündete dies, als erkläre dieser Name allein seinen Besuch und sein Gebaren, doch bemerkte ich an der teilnahmslosen Miene meines Gefährten, daß ihm dieser ebenso wenig sagte wie mir.

»Bedienen Sie sich, Mr. McFarlane«, sagte er, indem er ihm sein Zigarettenetui zuschob. »Ich bin davon überzeugt, mein Freund Dr. Watson hier würde Ihnen bei diesen Symptomen ein Beruhigungsmittel verordnen. Das Wetter war in den letzten Tagen ja überaus warm. Nun, wenn Sie sich jetzt ein wenig gelassener fühlen, würde ich mich freuen, wenn Sie sich auf diesen Stuhl setzten und uns ganz langsam und ruhig erzählten, wer Sie sind und was Sie wünschen. Sie sprachen Ihren Namen so aus, als ob ich ihn kennen müßte, aber ich versichere Ihnen, daß ich – abgesehen von den augenscheinlichen Tatsachen, daß Sie Junggeselle, Rechtsanwalt, Freimaurer und Asthmatiker sind – nicht die geringste Kenntnis von Ihnen habe.«

Vertraut, wie ich mit den Methoden meines Freundes war, fiel es mir nicht schwer, seinen Schlüssen zu folgen und die Ungepflegtheit des Äußeren, das Bündel juristischer Texte, das Amulett an der Uhr und das Keuchen, worauf sie beruhten, wahrzunehmen. Unser Klient freilich blickte verblüfft genug drein.

»Ja, all dies bin ich, Mr. Holmes, und darüber hinaus bin ich derzeit der unglücklichste Mann in ganz London. Lassen Sie mich um Himmels willen nicht im Stich, Mr. Holmes! Wenn man mich verhaften kommt, ehe ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe, veranlassen Sie die Leute, mir Zeit zu geben, damit ich Ihnen die ganze Wahrheit sagen kann. Ich könnte frohen Herzens ins Gefängnis gehen, wenn ich nur wüßte, daß Sie draußen für. mich wirken.«

»Sie verhaften!« sagte Holmes. »In der Tat höchst erfr ... höchst interessant. Was glauben Sie, unter welcher Anklage Sie verhaftet werden sollen?«

»Unter dem Verdacht, Mr. Jonas Oldacre aus Lower Norwood ermordet zu haben.«

Auf dem ausdrucksvollen Gesicht meines Gefährten zeigte sich ein Mitgefühl, das, fürchte ich, nicht frei von Befriedigung war.

»Na sowas!« sagte er; »eben erst beim Frühstück sagte ich zu meinem Freund Dr. Watson, aufsehenerregende Fälle seien aus unseren Zeitungen verschwunden.«

Unser Besucher streckte eine bebende Hand aus und ergriff den Daily Telegraph, der noch immer auf Holmes' Knie gelegen hatte.

»Wenn Sie hingesehen hätten, Sir, hätten Sie mit einem Blick erkannt, aus welchem Anlaß ich heute morgen zu Ihnen komme. Es kommt mir vor, als müßten mein Name und mein Unglück in aller Munde sein.« Er schlug die Zeitung um und wies auf die Mittelseite. »Da steht's. Und mit Ihrer Erlaubnis werde ich es Ihnen vorlesen. Hören Sie, Mr. Holmes: die Schlagzeilen lauten: RÄTSELHAFTER FALL IN LOWER NORWOOD. BEKANNTER BAUMEISTER VERSCHWUNDEN. VERDACHT AUF MORD UND BRANDSTIFTUNG. HINWEIS AUF DEN TÄTER. Dieser Hinweis wird bereits verfolgt, Mr. Holmes, und ich weiß, er führt unweigerlich zu mir. Seit der London Bridge Station folgt man mir, und ich bin sicher, man wartet nur noch auf den Haftbefehl. Es wird meiner Mutter das Herz brechen – es wird ihr das Herz brechen!« Er rang in ahnungsvoller Qual die Hände und schwankte auf seinem Stuhl vor und zurück.

Interessiert betrachtete ich diesen Mann, der eines Gewaltverbrechens beschuldigt wurde. Er hatte flachsfarbenes Haar, sah gut aus, aber auf eine schlappe, unleidliche Art: dazu seine erschrockenen blauen Augen und ein glattrasiertes Gesicht mit einem schwachen, sensiblen Mund. Er mochte etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein; seinem Anzug und Gebaren nach war er ein Gentleman. Aus der Tasche seines hellen Sommermantels ragte das Bündel indossierter Papiere, das seinen Beruf verriet.

»Wir müssen die Zeit nutzen, die uns noch bleibt«, sagte Holmes. »Watson, wären Sie so freundlich, die Zeitung zu nehmen und mir den fraglichen Artikel vorzulesen?«

Unter den lärmenden Schlagzeilen, die unser Klient bereits zitiert hatte, las ich folgende vielsagende Geschichte:

Tief in der Nacht, oder früh am heutigen Morgen, ereignete sich in Lower Norwood ein Vorfall, der, so wird befürchtet, auf ein ernstes Verbrechen hindeutet. Mr. Jonas Oldacre ist ein bekannter Einwohner dieser Vorstadt; viele Jahre lang betrieb er dort sein Geschäft als Baumeister. Mr. Oldacre ist Junggeselle, 52 Jahre alt und lebt in Deep Dene House am Sydenham- Ende der Straße dieses Namens. Er stand im Rufe eines Mannes von exzentrischen Gewohnheiten und war von verschlossenem und zurückhaltendem Wesen. Von seinem Geschäft, in dem er es zu beträchtlichem Reichtum gebracht haben soll, hat er sich seit Jahren praktisch zurückgezogen. Hinter seinem Haus befindet sich jedoch noch ein kleines Holzlager, und vorige Nacht wurde gegen zwölf Uhr Alarm gegeben, daß einer der Stapel in Flammen stehe. Die Feuerwehr war bald zur Stelle, doch brannte das trockene Holz derart zügellos, daß der Feuersbrunst erst Einhalt zu gebieten war, als der Stapel vollständig niedergebrannt war. Bis dahin hatte das Geschehen den Anschein eines gewöhnlichen Unglücksfalles, doch neue Hinweise scheinen auf ein ernstes Verbrechen hinzudeuten. Man äußerte sich erstaunt über die Abwesenheit des Hausherrn von der Brandstelle, und die folgende Nachforschung ergab, daß er aus dem Haus verschwunden war. Eine Untersuchung seines Zimmers erbrachte, daß er nicht in seinem Bett geschlafen hatte, daß sein Safe offenstand, daß eine Menge wichtiger Papiere im Zimmer verstreut herumlagen, und schließlich fanden sich Anzeichen eines mörderischen Kampfes: In dem Zimmer wurden geringe Blutspuren und ein Spazierstock aus Eichenholz entdeckt, der am Griff ebenfalls Blutflecken aufwies. Es ist bekannt, daß Mr. Jonas Oldacre in dieser Nacht einen späten Besucher in seinem Schlafzimmer empfangen hatte, und der aufgefundene Stock wurde als Eigentum dieser Person identifiziert; es handelt sich um einen jungen Londoner Anwalt namens John Hector McFarlane, Juniorpartner von Graham & McFarlane, Gresham Buildings 426, E.C. Die Polizei glaubt im Besitz von Beweisen zu sein, die ein sehr überzeugendes Motiv für das Verbrechen liefern; insgesamt ist eine sensationelle Entwicklung dieser Angelegenheit nicht auszuschließen.

LETZTE MELDUNG – Bei Drucklegung geht das Gerücht ein, Mr. John Hector McFarlane sei tatsächlich unter dem Verdacht, Mr. Jonas Oldacre ermordet zu haben, verhaftet worden. Sicher ist zumindest, daß ein Haftbefehl erlassen wurde. Die Ermittlungen in Norwood haben weitere bedenkliche Tatsachen ergeben. Außer den Anzeichen für einen Kampf im Zimmer des unglücklichen Baumeisters wurde jetzt bekannt, daß die Flügelfenster seines Schlafzimmers (das im Erdgeschoß liegt) offen gestanden hatten, daß gewisse Spuren den Eindruck erwecken, als sei ein schwerer Gegenstand zu dem Holzstapel geschleift worden, und schließlich wird behauptet, unter der Asche seien verkohlte Überreste gefunden worden. Die Polizei vermutet, daß das Opfer in seinem Schlafzimmer erschlagen, seine Papiere durchwühlt und seine Leiche zu dem Holzstapel geschleift wurde, um so alle Spuren des Verbrechens zu beseitigen. Die Durchführung der Strafermittlungen wurde in die erfahrenen Hände Inspektor Lestrades von Scotland Yard gelegt, der mit gewohnter Energie und Scharfsicht den Hinweisen nachgeht.

 

Sherlock Holmes lauschte diesem bemerkenswerten Bericht mit geschlossenen Augen und gegeneinander gestellten Fingerspitzen.

»Der Fall weist allerdings einiges Interessante auf«, sagte er auf seine müde Art. »Darf ich zunächst einmal fragen, Mr. McFarlane, wie es kommt, daß Sie noch in Freiheit sind, da doch genug Beweismaterial vorzuliegen scheint, Ihre Verhaftung zu rechtfertigen?«

»Ich lebe bei meinen Eltern in Torrington Lodge, Blackheath, Mr. Holmes; vorige Nacht aber hatte ich mit Mr. Oldacre noch sehr spät etwas Geschäftliches zu erledigen und daher in einem Hotel in Norwood Quartier genommen, um ihn von dort aus zu besuchen. Ich erfuhr von dieser Sache erst im Zug, als ich las, was Sie soeben gehört haben. Ich gewahrte sogleich die schreckliche Gefahr meiner Lage und beeilte mich, den Fall in Ihre Hände zu legen. Ich zweifle nicht daran, daß ich entweder in meinem Stadtbüro oder zu Hause verhaftet werden sollte. Jemand ist mir von der London Bridge Station gefolgt, und ich zweifle nicht – großer Gott, was ist das?«

Es war das Läuten der Glocke, dem gleich darauf schwere Schritte auf der Treppe folgten. Und schon erschien unser alter Freund Lestrade in der Tür. Hinter seinen Schultern sah ich undeutlich ein paar uniformierte Polizisten stehen.

»Mr. John Hector McFarlane«, sagte Lestrade.

Unser unglücklicher Klient erhob sich mit totenbleicher Miene.

»Ich verhafte Sie wegen vorsätzlichen Mordes an Mr. Jonas Oldacre aus Lower Norwood.«

McFarlane wandte sich uns mit verzweifelter Gebärde zu und sank wie vernichtet wieder auf seinen Stuhl.

»Einen Augenblick, Lestrade«, sagte Holmes. »Eine halbe Stunde mehr oder weniger kann Ihnen nichts bedeuten, und dieser Gentleman stand eben im Begriff, uns von dieser höchst interessanten Affäre einen Bericht zu geben, der uns bei der Aufklärung dienlich sein könnte.«

»Ich sehe keinerlei Schwierigkeiten bei der Aufklärung«, sagte Lestrade grimmig.

»Gleichwohl wäre ich, wenn Sie gestatten, sehr interessiert, seinen Bericht zu vernehmen.«

»Nun gut, Mr. Holmes, es fällt mir schwer, Ihnen etwas abzuschlagen, zumal Sie der Polizei in der Vergangenheit ein- oder zweimal nützlich gewesen sind und wir von Scotland Yard Ihnen noch eine Gefälligkeit schulden«, sagte Lestrade. »Zugleich aber muß ich bei meinem Gefangenen bleiben, und ich bin verpflichtet, ihn darauf hinzuweisen, daß alle seine Aussagen gegen ihn verwendet werden können.«

»Etwas Besseres kann ich mir nicht wünschen«, sagte unser Klient. »Ich bitte Sie um nichts weiter, als mir zuzuhören und die reine Wahrheit zu erfahren.«

Lestrade blickte auf seine Uhr. »Ich gebe Ihnen eine halbe Stunde«, sagte er.

»Zunächst muß ich erklären«, sagte McFarlane, »daß ich Mr. Jonas Oldacre nicht kannte. Sein Name war mir vertraut, da meine Eltern vor vielen Jahren mit ihm bekannt waren, aber sie verloren sich aus den Augen. Ich war daher sehr überrascht, als er gestern gegen drei Uhr nachmittags in mein Stadtbüro trat. Noch mehr aber erstaunte ich, als er mir den Zweck seines Besuchs berichtete. Er hielt mehrere Blätter aus einem Notizbuch in der Hand, die über und über vollgekritzelt waren – hier sind sie –, und legte sie auf meinen Tisch.

›Dies ist mein Testament‹, sagte er. ›Ich wünsche, Mr. McFarlane, daß Sie es in die richtige juristische Form bringen. Während Sie dies tun, werde ich hier sitzenbleiben.‹

Ich machte mich daran, es abzuschreiben, und Sie können sich mein Erstaunen vorstellen, als ich merkte, daß er, mit einigen Vorbehalten, sein ganzes Vermögen mir vermacht hatte. Er war ein merkwürdiger, kleiner, frettchenhafter Mann mit weißen Wimpern, und als ich zu ihm aufblickte, sah ich seine scharfen grauen Augen mit amüsiertem Ausdruck auf mich geheftet. Ich konnte kaum meinen Sinnen trauen, nachdem ich die Testamentsbedingungen gelesen hatte; doch er erklärte, er sei Junggeselle und habe kaum lebende Verwandte, er habe in seiner Jugend meine Eltern gekannt und von mir stets als einem sehr verdienstvollen jungen Mann sprechen hören, und er sei davon überzeugt, sein Geld ginge in würdige Hände über. Ich konnte natürlich nur meinen Dank hervorstammeln. Das Testament wurde ordnungsgemäß abgeschlossen, unterzeichnet und von meinem Buchhalter beglaubigt. Dies hier auf dem blauen Papier ist es, und diese Zettel sind, wie gesagt, der Rohentwurf. Mr. Jonas Oldacre unterrichtete mich dann von einer Anzahl Dokumente – Grundstückspachten, Besitzurkunden, Hypothekenbriefe, Interimswechsel und so weiter –, die ich sehen und verstehen müßte. Er sagte, er könne erst wieder ruhig sein, wenn das Ganze geregelt sei, und er bat mich, noch diese Nacht zu seinem Haus in Norwood hinauszukommen, das Testament mitzubringen und die Sache abzumachen. ›Denken Sie daran, mein Junge, kein Wort über diese Angelegenheit zu Ihren Eltern, ehe nicht alles geregelt ist. Wir wollen es als eine kleine Überraschung für sie aufsparen.‹ Er bestand sehr auf diesem Punkt und ließ es mich ausdrücklich versprechen.

Sie können sich vorstellen, Mr. Holmes, daß ich nicht in der Stimmung war, ihm irgendeine Bitte abzuschlagen. Er war mein Wohltäter, und ich war durchaus bestrebt, seine Wünsche in allen Einzelheiten zu erfüllen. Ich schickte daher ein Telegramm nach Hause, in dem ich mitteilte, ich hätte ein wichtiges Geschäft vor und könne unmöglich sagen, wann ich heimkehren würde. Mr. Oldacre hatte mir gesagt, er würde gern um neun Uhr mit mir zu Abend essen, da er vor dieser Zeit wahrscheinlich nicht zu Hause wäre. Ich hatte jedoch einige Schwierigkeiten, sein Haus zu finden, und es war schon fast halb zehn, als ich dort eintraf. Ich fand ihn –«

»Einen Augenblick!« sagte Holmes. »Wer öffnete die Tür?«

»Eine mittelaltrige Frau, vermutlich seine Haushälterin.«

»Und es war sie, nehme ich an, die Ihren Namen angegeben hat?«

»In der Tat«, sagte McFarlane.

»Fahren Sie bitte fort.«

Mr. McFarlane fuhr sich über die feuchte Stirn und setzte dann seinen Bericht fort:

»Diese Frau führte mich in ein Wohnzimmer, in dem ein schlichtes Mahl vorbereitet war. Danach führte Mr. Oldacre mich in sein Schlafzimmer, worin sich ein schwerer Safe befand. Diesen öffnete er und entnahm ihm einen Packen Dokumente, die wir zusammen durchgingen. Zwischen elf und zwölf wurden wir damit fertig. Er bemerkte, daß wir die Haushälterin nicht stören dürften. Er brachte mich durch seine Verandatür nach draußen, welche die ganze Zeit über offengestanden hatte.«

»War die Jalousie herabgelassen?« fragte Holmes.

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie war nur halb unten. Ja, ich erinnere mich, wie er sie hochzog, um die Verandatür aufzumachen. Ich konnte meinen Stock nicht finden, und er sagte: ›Lassen Sie nur, mein Junge; ich werde Sie ja jetzt häufig sehen, hoffe ich, und ich werde Ihren Stock aufbewahren, bis Sie wiederkommen und ihn zurückhaben wollen.‹ So verließ ich ihn, der Safe stand offen, und die Papiere lagen in Päckchen geordnet auf dem Tisch. Es war so spät, daß ich nicht mehr nach Blackheath zurückfahren konnte; und so verbrachte ich die Nacht im Anerley Arms, und weiter erfuhr ich nichts, bis ich heute morgen von dieser schrecklichen Sache las.«

»Haben Sie noch weitere Fragen, Mr. Holmes?« sagte Lestrade, dessen Brauen im Verlauf dieser bemerkenswerten Erklärung ein paarmal in die Höhe gegangen waren.

»Erst wenn ich in Blackheath gewesen bin.«

»Sie meinen: in Norwood«, sagte Lestrade.

»Oh, ja: das muß ich zweifellos gemeint haben«, sagte Holmes mit seinem rätselhaften Lächeln. Lestrade wußte aus mehr Erfahrungen, als er einzuräumen gewillt war, daß jenes rasiermesserscharfe Hirn Dinge zu durchschneiden vermochte, die für das seine undurchdringlich waren. Ich sah, wie er meinen Gefährten neugierig anblickte.

»Ich denke, ich sollte bald mal mit Ihnen reden, Mr. Sherlock Holmes«, sagte er. »Nun, Mr. McFarlane, vor der Tür stehen zwei meiner Beamten, und draußen wartet eine Droschke.« Der elende junge Mann erhob sich, warf uns einen letzten flehentlichen Blick zu und ging aus dem Zimmer. Die Polizisten brachten ihn zu der Kutsche, aber Lestrade blieb noch.

Holmes hatte die Blätter, die den Rohentwurf des Testamentes enthielten, aufgehoben und betrachtete sie mit äußerst gespannter Miene.

»Es gibt einiges zu diesem Dokument zu bemerken, Lestrade, nicht wahr?« sagte er und schob ihm die Zettel zu.

Der Beamte sah sie verwirrt an.

»Ich kann nur die ersten Zeilen lesen, und diese hier in der Mitte der zweiten Seite, und ein paar am Schluß. Die stehen da wie gedruckt«, sagte er; »aber dazwischen ist die Schrift sehr undeutlich, und an drei Stellen kann ich überhaupt nichts lesen.«

»Was schließen Sie daraus?« fragte Holmes.

»Nun, was schließen Sie daraus?«

»Daß es in einem Zug geschrieben wurde; die leserliche Schrift steht für Bahnhöfe, die unleserliche für Fahrt, und die völlig unleserliche für das Überfahren von Weichen. Ein gewiefter Fachmann würde sofort erklären, daß diese Aufzeichnungen in einer Vorstadtbahn entstanden sind, da es nur in der unmittelbaren Umgebung einer großen Stadt eine so rasche Folge von Weichen geben kann. Nehmen wir an, die Niederschrift des Testaments habe die gesamte Fahrzeit in Anspruch genommen, dann war es ein Schnellzug, der nur einmal zwischen Norwood und London Bridge gehalten hat.«

Lestrade begann zu lachen.

»Das ist mir zu hoch, wenn Sie mit Ihren Theorien anfangen, Mr. Holmes«, sagte er. »Was hat denn das mit diesem Fall zu tun?«

»Nun, es bestätigt die Geschichte des jungen Mannes insoweit, als das Testament von Jonas Oldacre gestern auf seiner Fahrt geschrieben wurde. Ist es nicht verwunderlich, daß jemand ein derart wichtiges Dokument auf so willkürliche Weise niederschreibt? Dies legt nahe, daß er nicht glaubte, es würde von sonderlich praktischer Bedeutung sein. So könnte jemand ein Testament schreiben, von dem er nicht glaubt, daß es jemals in Kraft treten würde.«

»Nun, er schrieb damit zugleich sein eigenes Todesurteil«, sagte Lestrade.

»Oh, meinen Sie?«

»Sie nicht?«

»Nun, durchaus möglich; aber der Fall ist mir noch nicht klar.«

»Nicht klar? Na, wenn das nicht klar ist, was könnte denn klarer sein? Plötzlich erfahrt ein junger Mann, daß er ein Vermögen erben wird, wenn ein älterer Mann stirbt. Was macht er da? Er erzählt niemandem davon, sondern richtet es so ein, daß er unter irgendeinem Vorwand seinen Klienten noch in derselben Nacht besuchen kann; erwartet, bis die einzige andere Person im Haus zu Bett gegangen ist, und ermordet den Mann sodann in der Abgeschiedenheit seines Zimmers, verbrennt die Leiche auf dem Holzstapel und entschwindet in ein nahegelegenes Hotel. Im Zimmer und auch auf dem Stock befinden sich nur sehr geringe Blutspuren. Vermutlich hatte er sich vorgestellt, sein Verbrechen ginge unblutig vonstatten, und gehofft, mit der Verbrennung der Leiche alle Spurender Art seines Todes verbergen zu können – Spuren, die aus irgendeinem Grund auf ihn hätten weisen müssen. Liegt all dies nicht auf der Hand?«

»Es liegt mir, mein guter Lestrade, ein wenig zu sehr auf der Hand«, sagte Holmes. »Bei Ihren ansonsten großen Talenten lassen Sie es an der Phantasie fehlen; doch wenn Sie sich für einen Moment an die Stelle des jungen Mannes versetzen könnten: Würden Sie gleich die Nacht nach der Aufstellung des Testaments wählen, um Ihr Verbrechen zu begehen? Erschiene es Ihnen nicht gefährlich, eine so enge Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen herzustellen? Des weiteren, würden Sie es ausgerechnet zu einem Zeitpunkt machen, wenn bekannt ist, daß Sie sich in dem Haus befinden, wenn eine Bedienstete Sie eingelassen hat? Und schließlich, würden Sie sich so viel Mühe geben, die Leiche verschwinden zu lassen, und dann Ihren Stock liegen lassen, zum Zeichen, daß Sie der Täter sind? Bekennen Sie, Lestrade, daß all dies höchst unwahrscheinlich ist.«

 

»Was den Stock betrifft, Mr. Holmes, so wissen Sie so gut wie ich, daß ein Verbrecher oft nervös ist und Dinge tut, die ein besonnener Mensch unterlassen würde. Sehr wahrscheinlich hatte er Angst, in das Zimmer zurückzugehen. Geben Sie mir eine andere Theorie, die besser den Tatsachen entspricht.«

»Ich könnte Ihnen sehr leicht ein halbes Dutzend geben«, sagte Holmes. »Hier habe ich zum Beispiel eine sehr denkbare und sogar wahrscheinliche. Ich will sie Ihnen schenken. Der ältere Mann fuhrt Dokumente vor, die offensichtlich wertvoll sind. Ein vorbeikommender Landstreicher sieht sie durch die Verandatür deren Jalousie nur halb herabgezogen ist. Anwalt ab. Der Landstreicher tritt auf! Er packt einen Stock, den er dort liegen sieht, tötet Oldacre, und läuft davon, nachdem er die Leiche verbrannt hat.«

»Warum sollte der Landstreicher die Leiche verbrennen?«

»Was das betrifft: warum sollte McFarlane?«

»Um Beweismaterial zu beseitigen.«

»Der Landstreicher wollte womöglich verbergen, daß überhaupt ein Mord stattgefunden hatte.«

»Und warum hat er dann nichts mitgehen lassen?«

»Weil es sich um Papiere handelte, die er nicht veräußern konnte.«

Lestrade schüttelte den Kopf, obwohl mir schien, er sei sich nicht mehr so absolut sicher wie vorhin.

»Nun, Mr. Holmes, Sie mögen Ihren Landstreicher suchen, und solange Sie ihn aufspüren, werden wir uns an unseren Mann halten. Die Zukunft wird erweisen, wer von uns recht hat. Beachten Sie nur dies, Mr. Holmes: Soweit wir wissen, wurde keines der Papiere entfernt, und der Gefangene ist der einzige Mensch auf der Welt, der keinen Grund hatte, sie zu entfernen, da er ihr rechtmäßiger Erbe war und in jedem Fall in ihren Besitz gelangt wäre.«

Diese Bemerkung schien meinen Freund betroffen zu machen.

»Ich möchte ja gar nicht abstreiten, daß die Beweise in mancher Hinsicht sehr stark für Ihre Theorie sprechen«, sagte er. »Ich will nur darauf hinweisen, daß es auch andere mögliche Theorien gibt. Wie Sie sagen, die Zukunft wird es zeigen. Guten Morgen! Ich stehe dafür, daß ich im Lauf des Tages in Norwood auftauchen und nachsehen werde, wie Sie weiterkommen.«

Als der Kriminalbeamte gegangen war, stand mein Freund auf und bereitete sich mit der Munterkeit eines Mannes, der eine erfreuliche Aufgabe vor sich hat, aufsein Tagewerk vor.

»Als erstes, Watson«, sagte er, während er sich in seinen Gehrock warf, »muß ich mich, wie gesagt, in Richtung Blackheath bewegen.«

»Und warum nicht Norwood?«

»Weil in diesem Fall ein merkwürdiger Umstand eng mit einem anderen merkwürdigen Umstand zusammenhängt. Die Polizei begeht den Fehler, ihre Aufmerksamkeit auf den zweiten zu konzentrieren, da dies zufällig der wirklich kriminelle von den beiden ist. Für mich besteht jedoch unstreitig der logische Weg, diesen Fall anzugehen, darin, zunächst einmal zu versuchen, ein wenig Licht in den ersten Umstand zu bringen – das seltsame, so plötzlich und einem so unvermuteten Erben gemachte Testament. Das mag die folgenden Ereignisse ein wenig durchschaubarer machen. Nein, mein Lieber, ich glaube nicht, daß Sie mir helfen können. Gefahr ist nicht zu erwarten, sonst würde ich nicht im Traum daran denken, ohne Sie loszuziehen. Ich hoffe, Ihnen heute abend berichten zu können, daß ich in der Lage war, etwas für diesen unglücklichen Jüngling zu tun, der sich unter meinen Schutz gestellt hat.«

Es war schon spät, als mein Freund zurückkam, und ein Blick in sein abgespanntes und besorgtes Gesicht sagte mir, daß sich die hohen Erwartungen, mit denen er aufgebrochen war, nicht erfüllt hatten. Eine Stunde lang brummte er auf seiner Geige herum, um seine aufgewühlte Stimmung zu beruhigen. Endlich warf er das Instrument hin und stürzte sich in einen ausführlichen Bericht seiner Mißgeschicke.

»Es geht alles schief, Watson – so schief, wie es nur gehen kann. Lestrade gegenüber blieb ich kühn genug, aber ich glaube wahrhaftig, diesmal ist der Bursche auf der richtigen Spur, und wir sind auf der falschen. Alle meine Ahnungen gehen in eine Richtung, und alle Tatsachen gehen in die andere; und ich fürchte sehr, die britischen Geschworenen haben jene Höhe der Intelligenz noch nicht erreicht, die sie meinen Theorien den Vorzug vor Lestrades Tatsachen geben lassen würde.«

»Waren Sie in Blackheath?«

»Ja, Watson, ich war dort, und ich fand sehr schnell heraus, daß der selige Oldacre ein ganz beträchtlicher Lump gewesen sein muß. McFarlanes Vater war unterwegs auf der Suche nach seinem Sohn. Die Mutter war zu Hause – eine kleine, schlappe, blauäugige Person, die vor Angst und Entrüstung bebte. Sie wollte natürlich nicht einmal die Möglichkeit seiner Schuld zugeben. Ebensowenig drückte sie jedoch Überraschung oder Bedauern über das Schicksal Oldacres aus. Im Gegenteil, sie sprach von ihm mit solcher Bitterkeit, daß sie die Sache für die Polizei unbewußt noch erheblich klarer machte; denn wenn ihr Sohn sie so von diesem Manne hatte reden hören, würde ihn dies natürlich für Haß und Gewalttat prädisponieren. ›Er war eher ein bösartiger und verschlagener Affe als ein Mensch‹, sagte sie, ›das war er schon immer, seit seiner Jugend.‹

›Sie kannten ihn seit damals?‹ fragte ich.

›Ja, ich kannte ihn gut; tatsächlich hat er früher einmal um mich geworben. Dem Himmel sei Dank, daß ich so klug war, mich von ihm abzuwenden und einen besseren, wenn auch ärmeren Mann zu heiraten. Ich war bereits mit ihm verlobt, Mr. Holmes, als ich von einer schrecklichen Geschichte erfuhr, wie er in einem Vogelhaus eine Katze freigelassen hatte, und da grauste es mir so vor seiner brutalen Grausamkeit, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.‹ Sie durchstöberte ein Schreibpult und zog dann eine böswillig mit einem Messer entstellte und verstümmelte Photographie einer Frau hervor. ›Dies ist ein Bild von mir‹, sagte sie. ›Er schickte es mir an meinem Hochzeitstag in diesem Zustand und mit seinem Fluch.‹

›Nun‹, sagte ich, ›immerhin hat er Ihnen jetzt vergeben, hat er doch sein ganzes Vermögen Ihrem Sohn vermacht.‹

›Weder mein Sohn noch ich selbst will irgend etwas von Jonas Oldacre geschenkt haben, sei er tot oder lebendig‹, rief sie temperamentvoll aus. ›So wahr ein Gott im Himmel ist, Mr. Holmes, und so wahr dieser Gott diesen bösen Mann bestraft hat, so wahr wird er auch, wenn es ihn gutdünkt, erweisen, daß die Hände meines Sohnes schuldlos an seinem Blute sind.‹

Nun, ich folgte noch einigen Hinweisen, geriet aber auf nichts, was unsere Hypothese stützen wollte, sondern nur auf manches, was dagegen sprach. Endlich gab ich es auf und verfügte mich nach Norwood.

Das Deep Dene House ist eine große moderne Villa aus knallroten Backsteinen und steht hinten auf dem Grundstück; davor befindet sich ein Rasen mit Lorbeersträuchern. Ein Stück weg von der Straße liegt zur Rechten das Holzlager, wo der Brand stattgefunden hatte. Auf diesem Notizbuchblatt hier ist ein grober Lageplan. Das Fenster links ist dasjenige, das in Oldacres Zimmer führt. Wie Sie sehen, kann man von der Straße aus hineinblicken. Dies ist so ziemlich der einzige Trost, der mir heute zuteil wurde. Lestrade war nicht da, doch gab sich sein Oberpolizist die Ehre. Man hatte soeben einen großen Schatz gefunden. Nachdem man den Morgen damit verbracht hatte, in der Asche des abgebrannten Holzstapels herumzuwühlen, hatte man neben den verkohlten organischen Überresten mehrere verfärbte Metallscheibchen sichergestellt. Ich untersuchte sie sorgfältig, und es stellte sich zweifelsfrei heraus, daß es sich um Hosenknöpfe handelte. Ich erkannte sogar, daß einer davon mit ›Hyams‹, dem Namen von Oldacres Schneider, gezeichnet war. Dann untersuchte ich den Rasen sehr gewissenhaft nach Spuren und Zeichen, aber diese Dürre hat alles hart wie Eisen werden lassen. Es war nichts zu sehen, außer daß jemand oder ein Bündel durch eine niedrige Ligusterhecke gezogen worden war, die parallel zu dem Holzstapel steht. All das paßt natürlich zu der offiziellen Theorie. Ich kroch mit der Augustsonne auf dem Rücken über den Rasen. Doch als ich mich nach einer Stunde erhob, war ich nicht klüger als zuvor.