Die Memoiren des Sherlock Holmes

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»Sie haben es vollkommen klar gemacht, Mr. Holmes.«

»Als ich nach London zurückkam, sprach ich bei der Putzmacherin vor, die Straker sofort als ausgezeichneten Kunden namens Darbyshire erkannte, der eine höchst elegante Frau mit einer großen Vorliebe für kostspielige Kleider habe. Ich zweifle nicht daran, daß diese Frau ihn bis über beide Ohren in Schulden gestürzt und so zu diesem nichtswürdigen Komplott verleitet hat.«

»Sie haben alles erklärt, mit einer Ausnahme«, rief der Colonel. »Wo war das Pferd?«

»Ach, es ging durch, und einer Ihrer Nachbarn hat sich seiner angenommen. In dieser Hinsicht sollten wir eine Amnestie ergehen lassen, denke ich. Das ist Clapham Junction, wenn ich mich nicht irre, und wir werden in weniger als zehn Minuten in Victoria sein. Sollten Sie Lust haben, in unseren Räumen eine Zigarre zu rauchen, Colonel, würde ich mich glücklich schätzen, Ihnen alle weiteren Details zu erläutern die Sie vielleicht noch interessieren.«

Das gelbe Gesicht

Bei der Veröffentlichung dieser kurzen Skizzen, die auf den zahlreichen Fällen beruhen, an denen ich, dank den einzigartigen Fähigkeiten meines Freundes, als Zuhörer und in manch seltsamem Drama gar als Akteur teilhatte, ist es nur natürlich, daß ich eher auf seine Erfolge denn auf seine Mißerfolge eingehe. Und dies geschieht nicht so sehr um seines Rufes willen, denn tatsächlich waren seine Energie und Vielseitigkeit immer dann am bewundernswertesten, wenn er mit seinem Latein am Ende war, sondern weil es dort, wo er scheiterte, sehr oft vorkam, daß auch kein anderer Erfolg hatte und die Geschichte für immer ohne Abschluß blieb. Dann und wann allerdings geschah es, daß die Wahrheit, selbst wenn er fehlging, trotzdem ans Licht kam. Ich habe Aufzeichnungen von einem runden halben Dutzend derartiger Fälle, von denen die Affaire des zweiten Flecks12 und die, von der ich jetzt berichten will, wohl die interessantesten Merkmale aufweisen.

Sherlock Holmes war ein Mensch, der sich selten um der Bewegung willen Bewegung machte. Wenige Männer waren zu größeren Kraftanstrengungen fähig, und er war in seiner Gewichtsklasse zweifellos einer der besten Boxer, die ich je gesehen habe; doch er betrachtete zweckfreie körperliche Betätigung als Energieverschwendung, und er rührte sich selten, außer wenn es irgendeinem beruflichen Ziel diente. Dann war er absolut ausdauernd und unermüdlich. Daß er sich unter solchen Umständen in Form halten konnte, ist bemerkenswert, andererseits war seine Kost überaus kärglich und seine Gewohnheiten einfach bis an die Grenze der Selbstkasteiung. Bis auf den gelegentlichen Gebrauch von Kokain hatte er keine Laster, und er nahm seine Zuflucht zu der Droge nur aus Protest gegen die Monotonie des Daseins, wenn die Fälle rar und die Zeitungen uninteressant waren.

Eines Tages zu Beginn des Frühjahrs hatte er sich so weit entspannt, daß er mich auf einen Spaziergang in den Park begleitete, wo auf den Ulmen die ersten zarten, grünen Schößlinge sprossen und die klebrigen Speerspitzen der Kastanien gerade zu fünffingrigen Blättern aufzuplatzen begannen. Zwei Stunden lang bummelten wir umher, zumeist schweigend, wie es zwei Männern ansteht, die miteinander vertraut sind. Es war schon fast fünf, als wir in die Baker Street zurückkehrten.

»Verzeihung, Sir«, sagte unser junger Hausdiener, als er die Tür öffnete; »da ist ein Gentleman dagewesen und hat nach Ihnen gefragt, Sir.«

Holmes warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Das hat man von Nachmittagsspaziergängen!« sagte er. »Dann ist dieser Gentleman also gegangen?«

»Ja, Sir.«

»Hast du ihn nicht hereingebeten?«

»Doch, Sir; er ist hereingekommen.«

»Wie lange hat er gewartet?«

»Eine halbe Stunde, Sir. Es war ein sehr unruhiger Gentleman, Sir, die ganze Zeit herumgelaufen und -gestampft, solange er da war. Ich hab vor der Tür gewartet, Sir, und ich hab ihn hören können. Schließlich geht er auf den Flur hinaus und ruft: ›Kommt denn dieser Mensch nie?‹ Das waren genau seine Worte, Sir. ›Sie brauchen nur noch ein bißchen zu warten‹, sage ich. ›Dann warte ich an der frischen Luft, denn ich bin schon halb erstickt‹, sagt er. ›Ich bin gleich wieder zurück‹, und damit springt er auf und geht hinaus, und was ich auch sagen konnte, hielt ihn nicht zurück.«

»Schon gut, du hast dein Bestes getan«, sagte Holmes, als wir unser Zimmer betraten. »Es ist freilich sehr ärgerlich, Watson. Ich brauchte dringend einen Fall, und das sieht aufgrund der Ungeduld des Mannes so aus, als wäre es etwas Wichtiges. Sieh da! Das ist nicht Ihre Pfeife auf dem Tisch! Er muß seine liegengelassen haben. Eine hübsche alte Bruyère, mit einem guten langen Mundstück aus dem, was die Tabakhändler Bernstein nennen. Ich frage mich, wieviel echte Bernsteinmundstücke es in London gibt. Manche meinen, eine darin eingeschlossene Fliege sei ein Zeichen dafür. Dabei ist das Einfügen imitierter Fliegen in imitierten Bernstein ein regelrechtes Gewerbe. Nun ja, er muß durcheinander gewesen sein, daß er eine Pfeife liegenließ, die er sichtlich hochschätzt.«

»Woher wissen Sie, daß er sie hochschätzt?« fragte ich.

»Nun ja, ich würde den ursprünglichen Preis der Pfeife mit sieben Shilling sechs Pence veranschlagen. Nun ist sie aber, wie Sie sehen, zweimal repariert worden: einmal am hölzernen Stiel und einmal am Bernstein. Jede dieser Reparaturen, die, wie Sie erkennen können, mit einem silbernen Ring ausgeführt worden sind, muß mehr als den ursprünglichen Preis der Pfeife ausgemacht haben. Der Mann muß die Pfeife hochschätzen, wenn er sie lieber flicken läßt, als sich für das gleiche Geld eine neue zu kaufen.«

»Noch etwas?« fragte ich, denn Holmes drehte die Pfeife in der Hand hin und her und starrte sie auf seine eigentümliche, gedankenvolle Weise an.

Er hielt sie hoch und klopfte mit seinem langen, dünnen Zeigefinger darauf, wie ein Professor, der über einen Knochen doziert.

»Pfeifen sind gelegentlich von außerordentlichem Interesse«, sagte er. »Nichts hat mehr Individualität, Uhren und Schnürsenkel vielleicht ausgenommen. Die Merkmale hier sind allerdings weder sehr ausgeprägt noch sehr wichtig. Der Besitzer ist offensichtlich ein kräftiger Mann, Linkshänder, mit ausgezeichnetem Gebiß, achtlos in seinen Gewohnheiten und nicht auf Sparsamkeit angewiesen.«

Mein Freund machte die Angaben ganz beiläufig, aber ich sah, daß er mir einen vielsagenden Blick zuwarf, um zu erkennen, ob ich seinem Gedankengang hatte folgen können.

»Sie meinen, ein Mann muß wohlhabend sein, wenn er eine Pfeife zu sieben Shilling raucht?« sagte ich.

»Das ist Grosvenor-Mischung zu acht Pence die Unze«, antwortete Holmes, indem er sich etwas davon auf die Handfläche klopfte. »Da er zum halben Preis einen ausgezeichneten Tabak bekommen kann, hat er Sparsamkeit nicht nötig.«

»Und die anderen Punkte?«

»Er hat die Gewohnheit, seine Pfeife an Lampen und Gasflammen anzuzünden. Sie können sehen, daß sie an einer Seite ganz verkohlt ist. Natürlich kann das nicht von einem Streichholz herrühren. Warum sollte jemand ein Streichholz seitlich an seine Pfeife halten? Aber man kann sie nicht an einer Lampe anzünden, ohne daß der Pfeifenkopf verkohlt wird. Und das auf der rechten Seite der Pfeife. Daraus schließe ich, daß er Linkshänder ist. Halten Sie Ihre eigene Pfeife an die Lampe, und Sie werden sehen, wie Sie, als Rechtshänder, unwillkürlich die linke Seite an die Flamme halten. Sie mögen es einmal anders machen, aber nicht andauernd. Diese hier ist immer so gehalten worden. Des weiteren hat er sein Bernsteinmundstück durchgebissen. Es muß einer kräftig und energisch sein und ein gutes Gebiß haben, um das fertigzubringen. Aber wenn ich mich nicht täusche, höre ich ihn auf der Treppe, und wir werden gleich etwas Interessanteres als seine Pfeife zu studieren haben.«

Einen Augenblick später öffnete sich unsere Tür, und ein hochgewachsener, junger Mann betrat das Zimmer. Er war mit einem dunkelgrauen Anzug gut, aber unauffällig gekleidet und trug einen braunen Schlapphut in der Hand. Ich hätte ihn auf ungefähr dreißig geschätzt, obgleich er tatsächlich einige Jahre älter war.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er etwas verlegen; »ich denke, ich hätte klopfen sollen. Tatsache ist, daß ich ein wenig aufgeregt bin, und dem müssen Sie alles zuschreiben.« Er strich sich mit der Hand über die Stirn wie ein Mann, der halb benommen ist, und plumpste dann eher, als daß er sich setzte, auf einen Stuhl.

»Wie ich sehe, haben Sie ein oder zwei Nächte nicht geschlafen«, sagte Holmes in seiner unbekümmerten, herzlichen Art. »Das zerrt mehr an den Nerven als die Arbeit, und sogar mehr als das Vergnügen. Darf ich fragen, wie ich Ihnen helfen kann?«

»Ich wollte Ihren Rat, Sir. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und mein ganzes Leben scheint ein Scherbenhaufen zu sein.«

»Sie möchten mich als beratenden Detektiv in Anspruch nehmen?«

»Nicht nur das. Ich möchte Ihre Meinung als einsichtiger Mann – als Mann von Welt. Ich will wissen, was ich als nächstes tun soll. Ich hoffe zu Gott, Sie werden es mir sagen können.«

Er sprach in kurzen, scharfen, abgehackten Ausbrüchen, und es schien mir, daß überhaupt zu sprechen sehr quälend für ihn war und daß sich sein Wille die ganze Zeit über gegen seine Neigungen durchsetzte.

»Es ist eine sehr heikle Angelegenheit«, sagte er. »Man spricht Fremden gegenüber nicht gern von seinen häuslichen Angelegenheiten. Es ist irgendwie schrecklich, das Verhalten der eigenen Frau mit zwei Männern zu besprechen, die ich nie zuvor gesehen habe. Es ist furchtbar, es tun zu müssen. Aber ich weiß einfach nicht mehr weiter, und ich muß einen Rat haben.«

 

»Mein lieber Mr. Grant Munro –« hob Holmes an.

Unser Besucher sprang von seinem Stuhl auf. »Was!« rief er. »Sie kennen meinen Namen?«

»Wenn Sie Ihr Incognito wahren wollen«, sagte Holmes lächelnd, »würde ich vorschlagen, daß Sie Ihren Namen nicht weiter auf das Futter Ihres Huts schreiben oder aber demjenigen, den Sie ansprechen, den Kopf des Hutes zudrehen. Ich wollte gerade sagen, daß mein Freund und ich in diesem Zimmer schon viele seltsame Geheimnisse vernommen und das Glück gehabt haben, vielen gepeinigten Seelen Frieden zu bringen. Ich bin zuversichtlich, daß wir gleiches auch für Sie zu tun vermögen. Dürfte ich Sie, da die Zeit sich als wichtig erweisen könnte, bitten, mir ohne weiteren Aufschub den Sachverhalt Ihres Falles vorzutragen?«

Wieder fuhr sich unser Besucher mit der Hand über die Stirn, als falle ihm das bitterlich schwer. An jeder Geste und Miene erkannte ich, daß er ein reservierter, verschlossener, wohl ziemlich stolzer Mann war, der eher dazu neigte, seine Wunden zu verbergen als bloßzulegen. Dann plötzlich, mit einer heftigen Bewegung seiner geschlossenen Hand, wie jemand, der alle Zurückhaltung fahren läßt, begann er.

»Der Sachverhalt ist folgender, Mr. Holmes«, sagte er. »Ich bin verheiratet, und zwar seit drei Jahren. Während dieser Zeit haben meine Frau und ich einander so zärtlich geliebt und so glücklich zusammengelebt, wie nur je zwei, die zusammengetan wurden. Wir hatten niemals Unstimmigkeiten, nicht ein einziges Mal, in Gedanken, Worten oder Taten. Und jetzt, seit letzten Montag, ist plötzlich eine Schranke zwischen uns, und ich stelle fest, daß es in ihrem Leben und ihren Gedanken etwas gibt, wovon ich so wenig weiß, als wäre sie eine Frau, die auf der Straße an mir vorüberhuscht. Wir sind einander entfremdet, und ich will wissen, warum.

Nun möchte ich Ihnen aber eines deutlich machen, bevor ich fortfahre, Mr. Holmes: Effie liebt mich –. Daran kann es nicht den geringsten Zweifel geben. Sie liebt mich von ganzem Herzen und ganzer Seele, heute noch mehr als früher. Ich weiß es, ich fühle es. Ich will nicht darüber streiten. Ein Mann erkennt ohne weiteres, ob eine Frau ihn liebt. Aber dieses Geheimnis steht zwischen uns, und wir können so lange nicht die gleichen sein, wie es nicht aufgeklärt ist.«

»Teilen Sie mir freundlicherweise den Sachverhalt mit, Mr. Munro«, sagte Holmes mit einem Anflug von Ungeduld.

»Ich möchte Ihnen erzählen, was ich von Effies Geschichte weiß. Sie war Witwe, als ich ihr zum ersten Mal begegnete, obzwar recht jung – erst fünfundzwanzig. Ihr damaliger Name war Mrs. Hebron. Sie ging in jungen Jahren nach Amerika und lebte in der Stadt Atlanta, wo sie diesen Hebron heiratete, einen Rechtsanwalt mit einer gutgehenden Kanzlei. Sie hatten ein Kind, doch dann brach dort schlimmes Gelbfieber13 aus, und sowohl ihr Gatte als auch das Kind starben daran. Ich habe seinen Totenschein gesehen. Das verleidete ihr Amerika, und sie kehrte zurück und lebte bei einer unverheirateten Tante in Pinner in Middlesex. Ich darf erwähnen, daß ihr Mann sie leidlich gutgestellt zurückgelassen hat und daß sie ein Kapital von etwa viertausendfünfhundert Pfund besaß, das er so geschickt angelegt hatte, daß es durchschnittlich sieben Prozent abwarf. Sie war erst seit sechs Monaten in Pinner, als ich sie kennenlernte; wir verliebten uns ineinander und heirateten einige Wochen später.

Ich selbst bin Hopfenhändler, und da ich über ein Einkommen von sieben- bis achthundert Pfund verfüge, sahen wir uns leidlich gutgestellt und mieteten eine hübsche Villa zu achtzig Pfund pro Jahr in Norbury14. Unser kleiner Wohnort ist sehr ländlich, wenn man bedenkt, wie nahe bei der Stadt er liegt. Ein Stückchen weiter haben wir noch ein Gasthaus und zwei Häuser, und jenseits des Feldes, das uns gegenüberliegt, ein einzelnes Cottage, und außer diesen gibt es bis halbwegs zum Bahnhof keine weiteren Häuser. Mein Geschäft führte mich zu bestimmten Zeiten in die Stadt, aber im Sommer hatte ich weniger zu tun, und dann waren meine Frau und ich in unserem Haus auf dem Lande so glücklich, wie man sich das nur wünschen konnte. Ich sage Ihnen, daß nie ein Schatten zwischen uns fiel, bis diese verfluchte Affaire begann.

Es gibt da etwas, was ich Ihnen erzählen sollte, ehe ich fortfahre. Als wir heirateten, überschrieb mir meine Frau ihr gesamtes Vermögen – eigentlich gegen meinen Willen, denn ich sah, wie unangenehm es würde, falls meine geschäftlichen Angelegenheiten schiefgingen. Dennoch wollte sie es so haben, und so geschah es. Nun ja, vor etwa sechs Wochen kam sie zu mir.

›Jack15‹, sagte sie, ›als du mein Geld an dich genommen hast, hast du gesagt, wenn ich je etwas davon wollte, brauchte ich dich nur zu fragen.‹

›Gewiß‹, sagte ich, ›es gehört alles dir.‹

›Nun gut‹, sagte sie, ›ich möchte hundert Pfund.‹

Ich war darob ein bißchen verblüfft, denn ich hatte vermutet, es ginge ihr nur um ein neues Kleid oder etwas dergleichen.

›Wofür, um alles in der Welt?‹ fragte ich.

›Oh‹, sagte sie auf ihre spielerische Weise, ›du hast doch gesagt, du seist nur mein Bankier, und Bankiers stellen niemals Fragen, wie du weißt.‹

›Wenn es dir wirklich Ernst damit ist, sollst du das Geld natürlich haben‹, sagte ich.

›O ja, es ist mir Ernst damit.‹

›Und du willst mir nicht sagen, wofür du es brauchst?‹

›Eines Tages vielleicht, aber nicht gerade jetzt, Jack.‹

So mußte ich mich zufriedengeben, obgleich es damit zum ersten Mal ein Geheimnis zwischen uns gab. Ich schrieb ihr einen Scheck aus und dachte nicht weiter an die Geschichte. Sie mag nichts mit dem zu tun haben, was hinterher kam, aber ich hielt es dennoch für angebracht, sie zu erwähnen.

Nun, ich habe Ihnen gerade erzählt, daß unweit unseres Hauses ein Cottage steht. Zwischen uns liegt nur ein Feld, aber um hinzukommen, muß man die Straße entlanggehen und dann in einen Feldweg einbiegen. Unmittelbar dahinter befindet sich ein hübsches kleines Kieferngehölz, und ich pflegte sehr gern dorthin zu schlendern, denn Bäume sind immer irgendwie anheimelnd. Das Cottage hatte acht Monate lang leer gestanden, und das war schade, denn es war ein reizendes, zweistöckiges Haus mit einer altmodischen, von Geißblatt umrankten Veranda. Ich habe so manches Mal davorgestanden und mir gedacht, was für ein schmuckes, kleines Heim es abgeben würde.

Nun denn, vergangenen Montagabend machte ich einen Spaziergang dorthin, als mir auf dem Feldweg ein leeres Fuhrwerk entgegenkam und ich auf dem Rasenstück neben der Veranda einen Stapel Teppiche und dergleichen herumliegen sah. Es war klar, daß das Cottage endlich doch vermietet worden war. Ich ging daran vorbei, und indem ich stehenblieb, wie man das als Müßiggänger eben tut, ließ ich den Blick darüberhin schweifen und fragte mich, was das für Leute sein mochten, die nun in unserer Nähe wohnten. Und während ich schaute, wurde ich plötzlich gewahr, daß mich aus einem der oberen Fenster ein Gesicht beobachtete.

Ich weiß nicht, was es mit diesem Gesicht auf sich hatte, Mr. Holmes, aber irgendwie jagte es mir einen Schauder über den Rücken. Ich stand ein Stück entfernt, so daß ich die Gesichtszüge nicht ausmachen konnte, aber das Gesicht hatte etwas Unnatürliches und Unmenschliches. Das war mein Eindruck, und ich trat rasch näher, um den Menschen, der mich da beobachtete, etwas genauer zu sehen. Doch als ich das tat, verschwand das Gesicht plötzlich, so plötzlich, daß es schien, als sei es in die Dunkelheit des Zimmers zurückgerissen worden. Ich stand fünf Minuten da, überdachte die Angelegenheit und versuchte, meine Eindrücke zu analysieren. Ich hatte nicht erkennen können, ob es das Gesicht eines Mannes oder einer Frau war. Doch es war seine Farbe, die mich am stärksten beeindruckte. Es war von einem leichenfahlen Gelb und hatte etwas Verhärtetes und Starres, das entsetzlich unnatürlich war. So verstört war ich, daß ich beschloß, mir die neuen Bewohner des Cottages etwas genauer anzusehen. Ich trat vor und klopfte an die Tür, die sofort von einer hochgewachsenen, hageren Frau mit grobem, abweisendem Gesicht geöffnet wurde.

›Was woll'n Sie denn?‹ fragte sie mit nördlichem Akzent.

›Ich bin Ihr Nachbar und wohne dort drüben‹, sagte ich mit einem Nicken zu meinem Haus hin. ›Wie ich sehe, sind Sie gerade eingezogen, da dachte ich mir, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein –‹

›Ei, wir wer'n Sie schon fragen, wenn wir Sie brauchen‹, sagte sie und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Von dieser ungehobelten Abfuhr verärgert, drehte ich mich um und ging nach Hause. Den ganzen Abend lang kam mir, obwohl ich an etwas anderes zu denken versuchte, immer wieder die Erscheinung am Fenster und die Grobheit der Frau in den Sinn. Ich beschloß, meiner Frau von ersterem nichts zu erzählen, denn sie ist eine nervöse, leicht erregbare Frau, und ich wollte nicht, daß sie den unerfreulichen Eindruck teilte, der bei mir hervorgerufen worden war. Ich sagte ihr jedoch, bevor ich einschlief, daß das Cottage inzwischen bewohnt sei, worauf sie keine Antwort gab.

Ich habe normalerweise einen überaus gesunden Schlaf. Es ist ein geläufiger Witz in der Familie, daß mich während der Nacht nichts je aufwecken könnte; in jener besonderen Nacht jedoch schlief ich – vielleicht daß ich immer noch ein bißchen aufgeregt war von meinem kleinen Abenteuer – ich schlief jedenfalls sehr viel weniger tief als normalerweise. Halb in Träumen war ich mir undeutlich bewußt, daß im Zimmer irgend etwas vorging, und ich merkte allmählich, daß meine Frau sich angekleidet hatte und Mantel und Haube überzog. Meine Lippen hatten sich schon geöffnet, um ob dieser unzeitigen Anstalten ein paar Worte der Überraschung oder Vorhaltung zu murmeln, als meine halbgeöffneten Augen plötzlich auf ihr vom Kerzenschein erleuchtetes Gesicht fielen und die Verblüffung mich stumm bleiben ließ. Sie zeigte einen Ausdruck, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte – wie ich ihn bei ihr nie für möglich gehalten hätte. Sie war leichenblaß, atmete schnell und warf, während sie ihren Mantel schloß, einen verstohlenen Blick zum Bett, um festzustellen, ob sie mich gestört hatte. Dann, da sie glaubte, ich schliefe noch, schlüpfte sie geräuschlos aus dem Zimmer, und kurz darauf vernahm ich ein helles Knarren, das nur von den Angeln der Eingangstür herrühren konnte. Ich setzte mich im Bett auf und klopfte mit den Knöcheln ans Kopfende, um mich zu vergewissern, ob ich wirklich wach sei. Dann zog ich meine Uhr unterm Kopfkissen hervor. Es war drei Uhr morgens. Was um alles in der Welt konnte meine Frau um drei Uhr morgens auf der Landstraße zu schaffen haben?

Ich hatte ungefähr zwanzig Minuten so dagesessen, die Sache in Gedanken gewälzt und versucht, eine mögliche Erklärung zu finden. Je mehr ich darüber nachdachte, desto ungewöhnlicher und unerklärlicher kam es mir vor. Ich rätselte immer noch daran herum, als ich die Tür sanft zugehen und ihre Schritte die Treppe heraufkommen hörte.

›Wo um alles in der Welt bist du gewesen, Effie?‹ fragte ich, als sie hereinkam.

Sie fuhr heftig zusammen und stieß eine Art keuchenden Schrei aus, als ich sprach, und dieser Schrei und dieses Zusammenfahren quälten mich mehr als alles andere, denn sie hatten etwas unbeschreiblich Schuldbewußtes. Meine Frau ist stets ein Mensch von freimütigem, offenem Naturell gewesen, und es machte mich frösteln, sie in ihr eigenes Zimmer schleichen und aufschreien und wimmern zu sehen, wenn ihr eigener Mann sie ansprach.

›Du bist wach, Jack?‹ rief sie mit nervösem Auflachen aus. ›Dabei dachte ich, nichts könnte dich wecken.‹

›Wo bist du gewesen?‹ fragte ich, etwas strenger.

›Es wundert mich nicht, daß du überrascht bist‹, sagte sie, und ich konnte sehen, daß ihre Finger zitterten, als sie die Schnallen ihres Mantels öffnete. ›Ich erinnere mich ja selbst nicht daran, jemals in meinem Leben so etwas getan zu haben. Tatsächlich hatte ich ein Gefühl, als würde ich ersticken, und verspürte ein regelrechtes Verlangen, ein wenig frische Luft zu schnappen. Ich glaube wirklich, ich wäre ohnmächtig geworden, wenn ich nicht nach draußen gegangen wäre. Ich habe ein paar Minuten vor der Tür gestanden, und jetzt bin ich wieder ganz wohlauf.‹

Während sie mir diese Geschichte erzählte, sah sie kein einziges Mal zu mir her, und ihre Stimme klang ganz anders als ihr üblicher Tonfall. Es war offenkundig für mich, daß sie die Unwahrheit sagte. Ich gab ihr keine Antwort, sondern drehte das Gesicht zur Wand, wehen Herzens, den Kopf voll tausend giftiger Zweifel und Verdächtigungen. Was verbarg meine Frau da vor mir? Wo war sie während jenes seltsamen Ausflugs gewesen? Ich fühlte, daß ich keinen Frieden finden würde, bis ich es wußte, und schreckte dennoch vor weiteren Fragen zurück, nachdem sie mir schon einmal die Unwahrheit gesagt hatte. Den Rest der Nacht warf und wälzte ich mich hin und her, legte mir Theorie auf Theorie zurecht, eine unwahrscheinlicher als die andere.

 

Ich hätte am folgenden Tag in die Stadt fahren müssen, aber ich war zu beunruhigt, um mich geschäftlichen Angelegenheiten zuzuwenden. Meine Frau schien ebenso durcheinander wie ich selbst, und an den kurzen, fragenden Blicken, die sie mir immer wieder zuwarf, erkannte ich, daß sie begriff, daß ich ihrer Darstellung nicht glaubte, und daß sie nicht mehr ein noch aus wußte. Wir wechselten beim Frühstück kaum ein Wort, und ich machte unmittelbar danach einen Spaziergang, um die Sache an der frischen Morgenluft zu überdenken.

Ich ging bis zum Crystal Palace16, verbrachte eine Stunde in den Anlagen und war um ein Uhr wieder zurück in Norbury. Es traf sich, daß mein Weg mich an dem Cottage vorbeiführte, und ich blieb einen Moment stehen und sah zu den Fenstern hin, ob ich nicht einen Blick auf das Gesicht erhaschen könnte, das am Vortage zu mir herausgestarrt hatte. Stellen Sie sich mein Erstaunen vor, Mr. Holmes, als, wie ich so dastand, plötzlich die Tür aufging und meine Frau herauskam.

Die Verblüffung ob ihres Anblicks verschlug mir die Sprache, aber meine Gefühle waren nichts gegen die, die sich auf ihrem Gesicht abzeichneten, als sich unsere Blicke trafen. Einen Moment lang schien sie wieder ins Haus zurückweichen zu wollen, doch als sie dann erkannte, wie nutzlos alles Versteckspiel sein mußte, trat sie vor mit kreideweißem Gesicht und einem entsetzten Blick, die das Lächeln auf ihren Lippen Lügen straften.

›Oh, Jack!‹ sagte sie, ›ich bin gerade mal hier gewesen, um zu sehen, ob ich unseren neuen Nachbarn nicht behilflich sein kann. Warum siehst du mich so an, Jack? Du bist doch nicht böse auf mich?‹

›Also‹, sagte ich, ›hierher bist du in der Nacht gegangen?‹

›Was soll das heißen?‹ rief sie.

›Du bist hierher gekommen. Dessen bin ich sicher. Wer sind diese Leute, daß du sie zu solcher Stunde besuchst?‹

›Ich bin noch nie hier gewesen.‹

›Wie kannst du so etwas behaupten, wo du weißt, daß es die Unwahrheit ist?‹ rief ich. ›Selbst deine Stimme ändert sich, während du sprichst. Wann habe ich je ein Geheimnis vor dir gehabt? Ich will jetzt rein in dieses Cottage und dieser Angelegenheit mal auf den Grund gehen.‹

›Nein, nein, Jack, um Gottes willen!‹ stieß sie in nicht zu bezähmender Erregung hervor. Und als ich auf die Tür zutrat, packte sie mich am Ärmel und zerrte mich mit krampfhafter Kraft zurück.

›Bitte, bitte, tu es nicht, Jack‹, rief sie. ›Ich schwöre, daß ich dir eines Tages alles erzähle, aber es kann nur Unglück bringen, wenn du jetzt in dieses Cottage gehst.‹ Und als ich versuchte, sie abzuschütteln, klammerte sie sich in rasendem Flehen an mich.

›Vertrau mir, Jack!‹ rief sie. ›Vertrau mir nur dieses eine Mal. Du wirst nie Grund haben, es zu bereuen. Du weißt, daß ich kein Geheimnis vor dir haben würde, wenn es nicht zu deinem eigenen Besten wäre. Unser ganzes Leben steht hier auf dem Spiel. Wenn du mit mir nach Hause kommst, wird alles gut. Wenn du dir gewaltsam Zutritt zu diesem Cottage verschaffst, ist alles vorbei zwischen uns.‹

Ein solcher Ernst, eine solche Verzweiflung lag in ihrem Verhalten, daß ihre Worte mir Einhalt geboten und ich unentschlossen vor der Tür stand.

›Ich vertraue dir unter einer Bedingung, und nur unter einer Bedingung‹, sagte ich schließlich. ›Nämlich, daß diese Heimlichtuerei von nun an ein Ende hat. Es steht dir frei, dein Geheimnis zu bewahren, aber du mußt mir versprechen, daß es keine nächtlichen Besuche mehr geben wird, nichts mehr, was hinter meinem Rücken geschieht. Ich bin bereit, das zu vergessen, was passiert ist, wenn du versprichst, daß in Zukunft nichts dergleichen mehr vorkommt.‹

›Ich war sicher, daß du mir vertrauen würdest‹, rief sie mit einem lauten Seufzer der Erleichterung. ›Es wird genau so geschehen, wie du es wünschst. Komm weg, oh, komm weg nach Hause!‹ Immer noch an meinem Ärmel zerrend, führte sie mich von dem Cottage weg. Im Gehen warf ich einen Blick zurück, und da war jenes gelbe, leichenfahle Gesicht und beobachtete uns aus dem oberen Fenster. Welche Verbindung konnte zwischen dieser Kreatur und meiner Frau bestehen? Was konnte das grobe, ungehobelte Weib, das ich am Tage zuvor gesehen hatte, mit ihr zu tun haben? Es war ein befremdliches Rätsel, und doch wußte ich, daß ich so lange keinen Seelenfrieden mehr finden würde, bis ich es gelöst hatte.

Danach blieb ich zwei Tage zu Hause, und meine Frau schien sich getreulich an unsere Vereinbarung zu halten, denn soweit ich wußte, tat sie keinen Schritt aus dem Haus. Am dritten Tage indes bekam ich reichlich Beweise, daß ihr feierliches Versprechen nicht ausreichte, sie von dem geheimnisvollen Einfluß fernzuhalten, der sie ihrem Gatten und ihrer Pflicht entzog.

Ich war an jenem Tag in die Stadt gefahren, aber ich kehrte mit dem Zug um 2 Uhr 40 anstatt mit dem um 3 Uhr 36 zurück, den ich gewöhnlich nehme. Als ich ins Haus kam, lief das Dienstmädchen mit bestürztem Gesicht in die Diele.

›Wo ist Ihre Herrin?‹ fragte ich.

›Ich glaube, sie ist spazieren gegangen‹, antwortete sie.

Sofort war ich von Argwohn erfüllt. Ich eilte nach oben, um mich zu vergewissern, daß sie nicht zu Hause war. Dabei schaute ich zufällig aus einem der oberen Fenster und sah das Mädchen, mit dem ich gerade gesprochen hatte, übers Feld auf das Cottage zulaufen. Da erkannte ich natürlich genau, was das alles zu bedeuten hatte. Meine Frau war hinübergegangen und hatte der Dienstbotin aufgetragen, sie zu holen, falls ich zurückkommen sollte. Vor Zorn bebend raste ich hinunter und stürmte hinüber, entschlossen, der Sache ein für allemal ein Ende zu machen. Ich sah meine Frau und das Mädchen auf dem Feldweg zurückeilen, aber ich blieb nicht stehen, um mit ihnen zu sprechen. In dem Cottage war das Geheimnis beschlossen, das einen Schatten über mein Leben warf. Ich schwor mir, daß es, komme, was da wolle, nicht länger ein Geheimnis bleiben sollte. Ich klopfte nicht einmal, als ich es erreichte, sondern drehte den Knauf und platzte in den Flur.

Im Erdgeschoß war alles still und ruhig. In der Küche sang ein Kessel auf dem Feuer, und eine große, schwarze Katze lag zusammengerollt in einem Korb, aber von der Frau, die ich zuvor gesehen hatte, gab es keine Spur. Ich rannte ins andere Zimmer, aber es war ebenfalls verlassen. Dann stürzte ich die Treppe hinauf, aber nur um zwei weitere leere und verlassene Zimmer vorzufinden. Es befand sich überhaupt niemand im ganzen Haus. Die Möbel und Bilder waren von der minderwertigsten und gewöhnlichsten Art, ausgenommen in der einen Kammer, an deren Fenster ich das seltsame Gesicht erblickt hatte. Diese war komfortabel und elegant, und all mein Argwohn loderte zu einer heftigen, schmerzlichen Flamme empor, als ich sah, daß auf dem Kaminsims ein Vollportrait meiner Frau stand, eine Photographie, die erst vor drei Monaten auf meinen Wunsch angefertigt worden war.

Ich blieb lange genug, um sicherzugehen, daß das Haus vollkommen leer war. Dann ging ich hinaus, mit einer Bürde auf dem Herzen, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte. Meine Frau kam in die Diele, als ich mein Haus betrat, aber ich war zu verletzt und wütend, um mit ihr zu sprechen, und drängte mich an ihr vorbei in mein Arbeitszimmer. Sie folgte mir jedoch, bevor ich die Tür schließen konnte.

›Es tut mir leid, daß ich mein Versprechen gebrochen habe, Jack‹, sagte sie, ›aber wenn du alle Umstände kennen würdest, würdest du mir gewiß verzeihen.‹