Za darmo

Bergrichters Erdenwallen

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VI

Noch nie befand sich der Richter in ähnlicher, fieberhafter Erregung als eben jetzt, da der Gendarm Sittl seinen Rapport erstattet, und den Schraubenzieher auf den Amtstisch gelegt hat. Sittl sagte präcis aus, daß der verdächtige Weirather thatsächlich Plattfüße, den rätselhaften Zettel als sein Eigentum bezeichnet habe.

„Was ischt 's mit dem Zettel?“ fragte hastig der Richter.

„Weirather wollte ihn zurückhaben und wurde ordentlich grob, als ich die Ausfolgerung verweigerte. Eine Erklärung aber gab er über den Inhalt des Zettels nicht. Im Streit gelang es mir aber, den Schraubenzieher zu erwischen und einzustecken.“

„Nun, denn an's Werk!“ rief Ehrenstraßer, nahm den Akt vom Pult, las die Maße über das Instrument heraus und begann am Schraubenzieher zu messen. Bleich vor Erregung konstatierte der Richter, daß die Maße haarscharf auf den Millimeter stimmten. Genauer ist niemals eine Untersuchung und Protokollführung vorgenommen worden, und nun lohnt sich solche Genauigkeit in überraschender Weise geradezu wunderbar. Aber es reicht alles nicht aus, den Weirather zu verhaften. „Wir müssen noch wissen, ob der Verdächtige den Schraubenzieher bereits vor dem Einbruche im Besitze gehabt oder erst hintendrein erworben hat. Recherchieren Sie sofort bei hiesigen Kaufleuten oder auch bei dem Werkzeughändler am Marktplatze unter Vorzeigung des Instrumentes, das Sie aber nicht aus der Hand geben dürfen. – Kommen Sie aber möglichst rasch zurück!“

Eine andere Arbeit zu beginnen, war dem Richter in solcher Erregung schlechterdings nicht möglich. Immer wieder las er den Akt Amareller durch und eine gewiße Befriedigung erfüllte sein Herz. Wird es doch nur seiner Gründlichkeit zu danken sein, daß Licht in die dunkle Sache gebracht und ein Verbrecher dem Richter zugebracht werden kann.

Perathoner, der dicke Amtsdiener, meldete einen Herrn, der in dringlicher Angelegenheit den Herrn Bezirksrichter zu sprechen wünsche.

„Ich habe keine Zeit!“

„Der Herr ischt gut gekleidet, und macht seine Sache sehr pressant!“

„Gut denn, lassen Sie ihn vor! Gott, diese ewigen Störungen!“ Wenige Minuten später dienerte ein Herr in die Kanzlei, bei dessen Anblick Ehrenstraßer sich des Gedankens nicht erwehren konnte, daß er es mit frecher Zudringlichkeit irgend eines Agenten zu thun habe.

Doch die Anrede des Fremden verscheuchte solche Vermutung, denn der Besucher begann zu erklären, daß er gekommen sei, vom löblichen Gericht eine Auskunft über einen gewissen Weirather zu erbitten.

„Weirather? Jenen Geizhals? Ich muß Ihnen bemerken, daß das k. k. Bezirksgericht kein Auskunftsbüreau ischt. Wer sind Sie und was wollen Sie?“

„Ich erlaube mir, mich vorzustellen: Christian Egger aus Innsbruck!“

„Und was wollen Sie?“

„Ich hätte gern eine Auskunft über einen gewissen Weirather, Kaufmann, allhier.“

„Kaufmann?“ fragte Ehrenstraßer gedehnt. „Kenne keinen Weirather hier, und wie schon gesagt, das Bezirksgericht ischt kein Auskunftsbüreau.“

„Entschuldigen Herr Bezirksrichter! Aber vielleicht haben Sie doch die Güte, mir zu sagen, wie es geschäftlich um Herrn Ratschiller steht!“

„Herr, sind Sie des Teufels? Was kümmert das mich!“

„Verzeihung! Ich dachte nur, ein Richter kennt alle Leute im Orte. Bedauere, wenn ich mich geirrt habe. Vielleicht haben aber Herr Bezirksrichter selbst Bedarf, unsere Gesellschaft versichert zu äußerst coulanten Bedingungen …“

„Dacht' ich's doch! Herr, scheeren Sie sich gefälligst sofort hinaus!“

„Ich bitte sehr, bitte gleich! Solche Bedingungen gewährt Ihnen keine andere Gesellschaft! Wir sind unerreicht in Koulanz, namentlich Beamten in Staatsstellungen gegenüber! Prämien können sogar in Monatsraten bezahlt werden!“

„Hinaus! Das fehlte gerade noch, daß ich mir die kostbare Arbeitszeit von einem Assekuranzagenten wegnehmen lasse. Hinaus, oder ich lasse Sie durch den Amtsdiener wegführen!“

„Bedauere sehr! 'pfehl mich, habe die Ehre! Vielleicht überlegen Sie sich die Sache! Ich bleibe einige Tage hier, wohne im ‚Ochsen‘. Bitte sehr, Christian Egger ischt mein Name. Habe die Ehre, mich ganz gehorsamst zu empfehlen! Ergebenster Diener!“

Mit drohend erhobenem Arm wies Ehrenstraßer zur Thüre, durch welche der Agent verschwand.

„Eine solche Frechheit ischt mir doch noch nicht vorgekommen!“ sprach ingrimmig der Richter vor sich hin, und machte zur Beruhigung seiner Nerven einige Gänge durch das kahle Zimmer.

Mittlerweile kam Sittl zurück mit dem Bescheid des Werkzeughändlers, daß der Schraubenzieher von Weirather schon vor etwa zwei Jahren gekauft worden sei. Der Händler erinnerte sich deshalb an diesen Kauf so genau, weil der Weirather ganz besonders arg feilschte und den Preis drücken wollte.

Nur um den Geizhals los zu werden, habe der Händler das Instrument schließlich zum Selbstkostenpreis abgegeben.

„So, dann wollen wir den sauberen Vogel einfangen!“ sagte Ehrenstraßer, zog die Uhr, und ordnete nun an, daß der Gendarm Sittl sogleich in voller Armatur hinaus zu Weirather gehen, und den Bauer verhaften solle, und zwar in der Weise, daß vom Angeschuldigten nichts, aber auch nicht das Geringste beseitigt werden könne. Ehrenstraßer will selbst nachkommen, und Hausdurchsuchung vornehmen, während welcher Weirather dem Untersuchungsgefängnis eingeliefert werden solle.

So geschah es. Der Richter folgte in Civil mit seinem Aktuar dem vorausgegangenen Gendarm, und erreichte das Gehöft in dem Augenblick, da der zeternde Bauer die Fesseln um die Hände erhielt. Der gellende Protest gegen „Gewalt und Hausfriedensbruch“ blieb völlig unbeachtet, Weirather mußte mit.

Ehrenstraßer aber begann ruhig und sicher seines Amtes zu walten. Sein Suchen galt hauptsächlich den Schuhen des Verhafteten, die er endlich in der Küche unter dem Herd entdeckte. Und richtig fand der Richter zu seiner großen Freude ein Paar Bundschuhe, die das Fußeisen sowie die Reihenfolge der Nägel verkehrt, also das Eisen an der Fußspitze, und demgemäß die Nägel in der Richtung zur Ferse eingeschlagen enthalten. Dadurch ist das Rätsel der seltsamen Fußspur im Moosboden erklärt. Es gilt nur noch die Schuhe mit den im Akt befindlichen Spurweiten zu vergleichen. Selbstverständlich nahm der Richter auch noch sämtliche Papiere Weirathers zur Prüfung mit. Der Aktuar trug die Schuhe.

Noch am selben Abend war alles im reinen. Es stimmten die Spuren mit den Schuhen, und die Papiere ergaben den Beweis für ein weit verzweigtes Wuchergeschäft. Bloß der Zettel ist noch rätselhaft.

Das Verhör am nächsten Morgen blieb resultatlos, Weirather leugnete alles. Der Richter wurde fast etwas nervös ob solcher Verstocktheit und sagte dem Bauer den Diebstahl auf Grund der Untersuchungsergebnisse auf den Kopf zu.

Weirather blieb dabei, von nichts zu wissen.

Als Ehrenstraßer auf den rätselhaften Zettel anspielte und versuchte, durch denselben näheres aus dem Verhafteten herauszubringen, begann Weirather höhnisch zu lachen.

Der Richter verbot solches Benehmen energisch und drohte mit spezieller Strafe. Und im Dialekt fügte Ehrenstraßer hinzu. „Gieb das Leugnen auf, es nützt dich nichts, Weirather! Den Diebstahl beim Amareller hast du vollführt, kein anderer. Es stimmt alles haarscharf, und deine Verurteilung ischt sicher. Der verdächtige Zettel gehört dir, du hast es selbst eingestanden.“

Wieder lachte Weirather höhnisch auf und sprach. „Lassen S' Ihnen nicht auslachen, Herr Richter! Seller Zettel ischt nicht verdächtig!“

„Was soll der Zettel dann bedeuten?“

„Eine Aufschreibung ischt er, weiter nichts!“

„Wieso? Eine richtige Aufschreibung sieht anders aus!“

„Schon möglich, Herr! Aber ich kann's halt nicht anders!“

Ein jäher Gedanke durchzuckte den Richter. „Kannst du etwa gar nicht schreiben und lesen, wie's Brauch ischt?“

„Nein!“

„Dann wären die Zeichen und Ziffern lediglich Notizen aus deinem Wirtschaftsleben?“

„Ja! Ich kann nur die Ziffern machen, wie sie auf den Tarokkarten stehen.“

„Erkläre das, Weirather!“

„Selles Schwein auf dem Zettel hab' ich verkauft und um 25 Gulden und 10 Gulden Anzahlung 'kriegt. Fünf Metzen Kartoffel verkauft um 12 Gulden 50 Kreuzer. Auf die Hand geliehen 50 Gulden 20 Kreuzer.“

„Gut! Dann kommt die zweite Abteilung, die mit einem Zeichen, ähnlich einem Wagen beginnt. Was bedeutet das?“

„Sell ischt die Gegenleistung. Mein Schuldner gab mir entgegen: 2 Wagenfuhren, angerechnet mit 5 Gulden, 2 Faß Wein im Wert von 15 Gulden, Barzahlung 11 Gulden, 15 Klafter Holz, für die ich 7 Gulden rechne, 25 Bäume zu 5 Gulden.“

„Na, das Rechnen verstehst du bei allem Mangel der Elementarbildung vorzüglich. Da heißt die letzte Aufzählung wohl so viel, als daß du bei dem Geschäft 61 Gulden allweil noch verdient hast?“

„Vom Verdienen lebt der Mensch!“

„Das ischt kein Verdienen mehr, das ischt Wucher! Hast mit dem Amareller auch solche ‚Geschäfte‘ gemacht?“

„Es ischt nie recht 'gangen! Der laßt zu wenig aus!“

„Das kann man einem klugen Hausvater auch nicht verübeln. Ich mein' immer, der Geiz hat dich arg in den Klauen. Wieviel ischt dir der Amareller schuldig?“

„Nichts mehr!“

„Also hat er dich in der letzten Zeit ausbezahlt? Das wundert mich, denn er wird nach dem Verschwinden seines Geldes aus der Truhe nicht viel Bargeld mehr gehabt haben. War der Amareller immer zäh im Zahlen?“

Der kordiale Ton in der Rede des Richters veranlaßte den Verhafteten zum Plaudern, er schläferte die Besorgnis ein, der Bauer vergaß auf seine Situation vor Gericht und redete sich warm. „Ein saumiger Tropf ischt er allweil g'wesen! Nichts zu kriegen, allweil im Rückstand, allweil Ausreden, ein Jammerer jahraus und jahrein, und immerfort wieder leihen, bis er mir so ein halbtausend Gulden schuldig worden ischt!“

Ehrenstraßer horchte bei Nennung dieser Summe auf, doch ließ er den sichtlich erbosten Bauer weiterreden.

 

„Zahlt hat er nicht, auf die Anforderung ischt er grob worden; 's Vieh hat er verkauft und 's Geld dafür eingesteckt. Ich hab' wieder nichts 'kriegt, und so hab ich mir 's Geld halt selber g'holt!“

Ehrenstraßer blinzelte dem Protokollführer zu, der indeß jedes Wort des Verhafteten bereits zu Papier gebracht hat und insbesondere die letzte Aussage fixierte.

Der Richter warf nun in harmloser Weise ein. „Ja, ja, ganz recht, Weirather! Aber ich mein', der Amareller wird selles Geld nicht gutwillig hergegeben haben?“

„Ich hab' den Tropf auch nimmer g'fragt. Wo er 's Geld verwahrt, hab' ich ja gewußt, und so bin ich halt es holen 'gangen!“

„Ganz richtig! Du bischt es holen gegangen. Wahrscheinlich in der Nacht?“

„Freilich!“

„Und wegen des Sultan hast deine Hündin mitgenommen?“

„Ich selber hab' keinen Hund; selle Matz hab' ich z' leihen g'nommen, und so hat der Sultan keine G'schichten gemacht.“

„Dann bist durchs Fenstergitter eingestiegen, gel?“

Der starre Blick des Aktuars brachte Weirather die Gefahr in Erinnerung; der Bauer überlegte einen Augenblick und dann erklärte er: „So hab' ich halt gedenkt, könnt' man's machen, aber ich hab' die Sach' dann decht wieder überlegt und sie dann bleiben lassen. Selles denken ischt aber, mein' ich, noch keine Sünd' und nicht straffällig.“

Mit leiser Ironie sprach der Richter. „Das wirst du schon sehen, Weirather! Bis zum Einsteigen hast jetzt alles schön und ordnungsmäßig eingestanden, das ischt die Hauptsache. So, und nun werden wir dich mit dem Maßstab messen.“

Der Bauer machte einen Luftsprung vor Schrecken und auf dieses Geräusch hin erschien Perathoner, der Amtsdiener, vorsichtshalber in der Thüre, so daß ein Fluchtversuch unmöglich ward.

„Amtsdiener, halten Sie mal den Inquisiten!“ befahl der Richter, nahm den Maßstab vom Tisch und näherte sich dem Bauer, der heillos zeterte.

„Ruhig, Weirather! Es geschieht dir weiter nichts! Wir wollen nur wissen, wie dick dein Schädel ischt!“

„Das braucht Ihr nicht zu wissen, mein Schädel ischt meine Sach', und die Dicke auch!“

„Ruhig jetzt! Es ischt gleich geschehen!“

„Ich mag aber nicht! Zu was willst meine Schädeldicken wissen?“

„Das kann ich dir schon sagen, Weirather! Ich will wissen, ob du mit deinem Dickschädel und dem Arm dazu durchs Fenstergitter durchschlupfen konntest.“

„Nicht messen, ich bitt'. Lieber sag ich's freiwillig. Ja, durchkrochen bin ich!“

„Na, also! Dann ischt die Maßprobe nicht mehr nötig! Also zum Protokoll: Inkulpant gesteht zu, durch das vergitterte Fenster eingestiegen zu sein.“

Weirather stand nun wieder trotzig vor dem Amtstisch, während der Amtsdiener zur Bewachung an der Thüre blieb. Der Richter forderte den Bauer auf, weiter zu erzählen, doch Weirather blieb stumm.

„Also, du willst nichts weiter sagen. Auch recht. Es wäre aber besser, wenn du dein Gewissen erleichtern würdest durch ein volles Geständnis. Dem Teufel bischt ja decht verfallen infolge des verübten Verbrechens, der Schwarze wird dich bei lebendigem Leib' holen, mein' ich!“

Verstockt stand der Bauer.

„Wie du willst! Aktuar, öffnen Sie das Fenster!“ befahl der Richter, der nun mit dem Aberglauben der Gebirgler rechnete und daraufhin eine Probe machen wollte.

Weirather wurde unruhig, es quälte ihn eine ersichtliche Angst, und kleinlaut fragte er nach dem Grunde des Fensteröffnens.

„Warum ich das Fenster öffnen ließ, willst wissen? Das kann ich dir schon sagen. Dem Teufel bischt verfallen und der wird jetzt gleich zum Fenster hereinfahren und dich holen beim lebendigen Leib'. Damit der Teufel leichter herein kann, ischt das Fenster aufgemacht worden!“

Jetzt zitterte der Bauer an Händen und Füßen, bebend und kläglich schrie er. „Loßt 'n nit einer! Ich sag' alles, macht das Fenster wieder zu!“

„So fang' nur an zu erzählen!“ gebot schmunzelnd der Richter, der seine Rechnung richtig sah. Ehrenstraßer schloß selbst das Fenster, indes der Aktuar sich wieder schreibfertig machte.

Zögernd, immer den Blick auf das Fenster gerichtet, begann Weirather zu gestehen, daß er sich durch das Gitter zwängte, eine Fensterscheibe mit Pechpflaster verklebte und dann eindrückte, worauf die Fensterriegel leicht zu öffnen waren.

„Bischt denn nicht gestört worden bei dieser Arbeit?“ fragte der Richter.

„Gehört hab' ich wohl etwas, wird wohl ein Knechtl zu den Madelen 'gangen sein. Sell war günstig.“

„Und dann bischt in die anstoßende Kammer, wo die Truhe steht und hast die Truhe mit dem Schraubenzieher aufgesprengt?“

„Ja, ganz richtig!“

„Das Geld hast genommen?“

„Ischt ja decht mein Geld g'wesen!“

„Das ischt halt Ansichtssache. Wie bischt denn wieder fort?“

„Gleich nur hinten außi!“

„Wieso hinten?“

„Durch 'n Stallgang und Katschaus!“

„So, so! Das genügt! Man führe den Inkulpaten in seine Zelle!“

Weirather warf noch einen sorgenvollen Blick auf das Fenster und ließ sich dann widerstandslos abführen.

Zur Erledigung dieses Falles ist nur noch nötig, den Amareller in Bezug auf sein Schuldverhältnis zu Weirather zu verhören, dann kann der Inkulpat dem Kreisgericht zur Aburteilung überstellt werden. Und das Verhör ergab, daß Amareller wohl etwas über hundert Gulden dem Geizhals schuldig ist, jedoch nicht mehr, und Weirather ein berüchtigter Wucherer sei. Amareller hätte gern gewußt, ob man den Einbrecher und Dieb schon gefaßt habe, doch wurde ihm keine Mitteilung hierüber gemacht. Daß Weirather, von dessen Verhaftung man in der ganzen Gegend sprach, identisch mit dem Dieb sein könnte, hielt selbst Amareller für unmöglich.

Nun konnte der dickleibig gewordene Akt per Post an das Kreisgericht abgehen, wohin Weirather im Schubwege transportiert wurde.

„Eine Nummer wieder einmal glücklich erledigt!“ murmelte befriedigt der pflichttreue Richter.

VII

Winter ist's geworden im Tiroler Land, weiß die Fluren, wie die stolzen, himmelragenden Berge. Wer den Winter mit seinen Schrecken gründlich kennen lernen will, darf nicht in der Thalung oder im Amtsstädtchen bleiben, sondern muß in die Höhe wandern, wohin kein Postwägelchen mehr führt, sondern nur schlechte Saumwege, die nach grimmigem Schneefall auch nicht mehr passierbar sind. Winter in Latschwies auf der Höhe! Die richtige Einöde im unwirtlichen Hochgebirge und dennoch besiedelt. Der winzige Ort hat seinen Namen eigentlich völlig zu Recht; wo noch Wiesengrund vorhanden ist, wuchsen die Latschen schier hinein, die Legföhren mit ihren schwarzgrünen Nadeln. Korn wird nicht reif da heroben und selbst dem Hafer fliegt der Schnee häufig auf den noch grünen Halm. Die Latschwieser Höfler treiben etwas Viehzucht und schätzen sich glücklich, wenn zum Herbst die Erdäpfel (Kartoffeln) eßbar geworden sind. Winters über gleichen die Einödbauern so ziemlich den Eskimos, und das Eingeschneitwerden sind sie von altersher gewohnt.

Das Dörfchen besitzt eine Franziskanerexpositur, ein Klösterl, alt und baufällig, mit einer Miniaturkirche, und ein Pater des Franziskanerordens mit einem Frater (dienender Klosterbruder) hat hier zu wohnen und die kleine Gemeinde zu pastorieren. Hier leben, heißt entbehren, auf alles zu verzichten.

Grau und alt ist Pater Ambros in dieser Expositur geworden, ein Vater seiner Gemeinde, die in jeder Not und Sorge zum „Einödpater“ kommt. Der schlichte alte Mönch muß den Latschwiesern alles in einer Person sein. Priester, Arzt, Lehrer, Apotheker, Advokat und Viehdoktor. Pater Ambros leistet solche Dienste seit Jahren und bekommt nie einen Heller dafür. Den Meßwein schickt das Mutterkloster aus der Amtsstadt und etwas Brot zweimal im Monat. Sonst ist die Expositur auf die Milde der armen Gemeinde angewiesen. Fällt eine Kuh oder ein Jungrind ab, giebt es auch im Klösterl Fleisch, sonst aber muß der Plenten (Buchweizen), Kraut und die Kartoffel genügen. Im Herbst ist eigentlich die üppigste Zeit für die Bewohner der Expositur; da kommt der Jagdherr in die Berge, und von der Strecke wird dem Klösterl regelmäßig eine Gemse und ein geringer Hirsch überwiesen. Von solchem Reichtum giebt aber die Expositur wieder an die Dörfler ab, und so ist's ein ständiger Tauschhandel zwischen der Gemeinde und dem kleinen Kloster.

Die Bauern haben ihren Einödpater gern, denn er ist wirklich der Helfer in allen Nöten, und dann kostet er der Gemeinde kein Bargeld. Als es einmal hieß, das Klösterl solle aufgelassen und in ein Pfarrhaus mit einem Weltgeistlichen umgewandelt werden, da protestierten die Latschwieser energisch und erklärten, ihnen passe der alte Pater besser, als der gescheiteste Pfarrer. Lieber ein grober Franziskaner als ein geschniegelter Stadtgeistlicher, der sich vor dem Schnee fürchtet und vom Vieh nichts versteht, so lautete die Meinung in Latschwies, und richtig setzte die Gemeinde es durch, daß Pater Ambros verblieb.

Den Bauschaden im Klösterl besserte man zur Not aus, d.h. Steine, Mörtel und Holz fuhren die Dörfler an, das Bauen aber mußte der Einödpater selber besorgen, und er that es, unterstützt vom Frater Marian, einem hüstelnden, mageren Klosterbruder, der aus dem welschen Süden stammt und schwer leidet unter dem rauhen Klima des Hochlandes im Norden Tirols.

Da half aller Zuspruch des an die scharfe Bergluft gewohnten alten Paters wenig, der Klosterbruder vertrug sie nicht, doch hielt er klaglos aus und hüstelte dazu. Seine Gedanken weilten freilich sehr häufig im sonnigen Süden.

Jetzt im Winter ist's ein eintönig Leben im Klösterl; der kirchlichen Verrichtungen sind wenig und auch sonst nur kleine Arbeit. Frater Marian sägt und hackt Holz, derweil der Einödpater die Kinder in dem zum Schulzimmer adaptierten Speisezimmer unterrichtet.

Am 27. November war es. Um 10 Uhr entließ Pater Ambros die Schuljugend, welche im Bereich des Klösterls ruhig und bescheiden von dannen schlich, hinter der Pforte aber auf dem tiefverschneiten Sträßlein sofort in zwei feindliche Teile sich trennte und ein regelrechtes Schneeballenbombardement eröffnete. Dabei konnte es nicht anders sein, daß sich mancher Ball an die Fenster des Klösterls verirrte und dumpf an die Scheiben fiel, was zur Folge hatte, daß der Einödpater den grauen Kopf hinausstreckte und der Jugend im rauhesten Bergdialekt zurief: „Pack's enk durch oder ich kimm decht mit 'm großen Stekken!“

Wohl schienen einige Bengels Lust zu haben, Schneeballen nach dem würdigen Altpriester zu werfen, doch die verständigeren Kinder wehrten ab, und mählich trollte die Schar davon, bis über die Kniee im Schnee watend.

Pater Ambros verließ bald darauf das Klösterl, um einen Krankenbesuch zu machen, welcher dem Strugglmoidele gilt. Das ist ein altes Weibel, lahm, schier taub und blind, das von der Gutherzigkeit der Nachbarn mit Milch und Brot versehen wurde, um nicht zu verhungern. Den Namen mochte das Weibel aus der Jugendzeit ins Alter herüber bekommen haben, denn meist war der Struggl (Strudel, gerollte Mehlspeise mit Apfel- oder Topfeneinlage und mit heißer Butter übergossen) des Mädels Lieblingsspeise, und der Volkswitz brachte der damals schwarzhaarigen Marie den Spitznamen Strugglmoidele auf.

Besagtes altes Weibel hatte den Einödpater um seinen Besuch bitten lassen, wasmaßen dem Moidele das Kirchgehen nimmer möglich ist und es Gottes Wort doch von Zeit zu Zeit hören möchte.

Der Gang zum Strugglweibele ist zur Sommerszeit insofern keine Kleinigkeit, als die Hütte der Moidel sehr hoch oben liegt und der Anstieg mühsam ist. Jetzt, im Winter, bei Hochschnee, heißt es steigen und waten mit Kraft und Ausdauer.

Unverdrossen stapft Pater Ambros aufwärts und nach einer Stunde war er bei der Hütte oben. Erst den Schnee abgestreift, dann trat der Einödpater ein. Richtig hockt's Moidele beim warmen Ofen, den eine gutmütige Nachbarin dem armen Weibel tüchtig angeheizt hatte.

Da es schneehell war, vermochte das Strugglmoidele den Franziskaner zu erkennen, und dankbar begrüßte es den Priester: „Grüß Enen Gott! Ischt decht a Plag' mit mir, Hearr!“

„Macht nichts, Moidele! Zum Plagen sind die Leut' auf der Welt! Nun, wie geht's, Weibele?“

„'s Reißen hun ich halt soviel stark und 's Drucken! Ich moan', es werd mer wohl 's Herz oh bald abdrucken, aftn ischt's gar!“

„Na, na! Nur nicht gleich das Schlimmste glauben, Moidele! Sein Kreuz muß jeder Mensch tragen, du auch, und mußt halt denken, du kommst aftn leichter in 'n Himmel!“

„Ischt ein Kreuz bei dem Schnee, selles Himmelfahren!“

„Nun, wer weiß! Vielleicht kannst in einer linden Sommernacht auffahren!“ lachte gutmütig der alte Pater.

„Weiß nit, ob ich's derkraften kann bis zu seller linden Zeit! 's Rheumatisch hun (habe) ich schun (schon) arg, ich möcht' wirklich gern beichten!“

 

„Das kannst ja, Moidele! Ich bin bereit! Hast Reu' und Leid schon gemacht, so kannst gleich anfangen!“ sagte der alte würdige Priester und setzte sich zum Weibele auf die Ofenbank.

„Na, Hearr, so than mer nit, so kann ich nit beichten!“

„Warum denn nicht? Ich bin ja da, der Priester, und du bischt das frommgläubige Beichtkind. Was fehlt denn?“

„Die Seichgazen!“

Verwundert sah der Priester auf das alte Weibel; ein solcher Fall ist ihm in seiner dreißigjährigen Seelsorgepraxis noch nicht vorgekommen und trotz aller Erfahrung weiß er nicht, was das alte Weibel will.

Eigensinnig beharrte Moidele auf ihrem Willen; ohne Seichgazen kann sie nicht beichten.

„Ja, was ischt denn selle Seichgazen?“

„Geath 's nur auß'n in die Kuchl, ober 'm Schüsselg'stöll ischt sie, Des söcht sie gleich, die Seichgazen! Geath nur, Hearr, ich thue mich so viel hart giahn (gehen)!“

„Da bin ich aber selber wirklich neugierig!“ murmelte Pater Ambros und verfügte sich in die rauchgeschwärzte, winzige Küche, um im Dämmerschein nach der rätselhaften Seichgazen zu forschen. Über dem Schüsselgestell steckt richtig ein Instrument, das der Einödpater als ein viereckiges Sieb zum Seihen erkennt. Sollte das die geforderte „Seichgazen“ sein?

Pater Ambros nahm dieses Kücheninstrument vom Gestell herab und trug es in die Stube. „Ischt es das rechte?“

„Ja wohl! Selle Gazen muß ich hun (haben)!“

Jetzt wußte der alte Pater Bescheid; dieses Kücheninstrument mußte bei dem alten Weibele das – Beichtgitter des Beichtstuhles in der Kirche ersetzen, Moidele will diese Illusion vor Augen haben.

„Also stellen wir die Gazen auf!“ sagte der Einödpater und hielt das Instrument zwischen sich und dem alten Weibel.

„So, Hearr! Jetzt kann ich beichten!“ sagte Moidele.

Nach frommem Zuspruch und dem Versprechen, von den Mehlvorräten des Klösterls etwas heraufzuschicken, verließ der Priester die Hütte, und stieg vorsichtig den Steilhang durch den Schnee wieder hinab.

Pater Ambros verzehrte mit dem Frater Marian das karge Mittagsmahl, bestehend aus Bohnensuppe und aufgeschmelzten Plenten. Schon wollte der Klosterbruder abräumen, da sprach der alte Priester: „Heute wollen wir uns ein Viertel Röthel gönnen, Marian, denn heute feiern wir ein Abschiedsfest!“

Verwundert blickte der bleiche, abgehärmte Frater auf Pater Ambros.

„Jawohl, es ischt schon so! Heute nachmittag 1/2-2 Uhr fällt der letzte Sonnenstrahl auf unser Klösterl. Wir müssen daher von Frau Sonne auf lange Zeit Abschied nehmen!“

„Ach so! Ich glaubte schon —“

„Auch deine Stunde wird schlagen! Aber für uns ischt es heute ein Abschiedsfest. Die Sonne wird uns nun durch volle 87 Tage meiden, weil sie über die hohen Berge nicht mehr zu uns herein kann. Wir müssen es daher wie die alten Spartaner machen und im Schatten kämpfen. Wird am 22. Februar gut Wetter sein, so bekommen wir an diesem Tage wieder den ersten Sonnenstrahl im neuen Jahre.“

Betrübt ließ Frater Marian den Kopf sinken.

„Mußt nicht mutlos werden, Bruder! Es sind die schlimmsten Tage nicht, die sonnenlos vergehen und grau in grau verrinnen! Fehlt uns das helle Licht, thut uns die Dunkelheit nicht so weh. Unsere Pflicht ischt es, zu dulden; wir müssen wie die Bergbauern in der Einöde das gemeinsame Geschick tragen, gottergeben und gefügig. Nicht jeder kann im sonnigen Süden leben, der auch nicht alle Wonne in sich schließt. Und wir Franziskaner sind nicht zu einem wonnevollen Leben bestimmt. Aber zum Sonnenabschiedstag wollen wir einen Schluck Wein nehmen. Hol ein Flaschele, Marian!“

Eben will sich der Bruder entfernen und die Flasche Wein holen, da gellt die Pfortenglocke durch das Klösterl.

„Ei der Tausend! Wer mag wohl so stürmisch läuten? Sieh' nach, Marian!“

Schlürfenden Trittes begiebt sich der Frater zur Pforte und läßt einen Bergbauernbuben ein, der dringend nach dem Einödpater verlangt. Ambros kam selbst herbei, zu sehen, was es an der Pforte gebe, und so konnte er gleich hören, was der Bube will.

„Ich bin der Bub' vom Zacher am Joch! 'm Vaterle hat ein Baumstamm beim Schlittelen 'druckt und er laßt bitten um die baldige Wegzehrung! 'leicht geath's schiech.“

„Gleich, Zacher! Hast etwan Hunger?“

„Ich dank'! Ein Trum Brot und ein Eichtel Speck hab' ich schon 'gessen! Schlaun dich, Pater, es wird gleich wieder wahen (schneetreiben) und aftn find' ich neammer z'ruck im Schnee!“

Pater Ambros hieß den Buben sich in der Pförtnerstube wärmen und machte sich zum Versehgang auf das Joch bereit. Hurtig wird der Habit hochgeschürzt, denn es wird schwer steigen heißen, dann bekommt der Zachenbub' des Paters Bergstock, das Glöcklein und die Laterne zu tragen, indes Ambros ins Kirchlein eilt, um die Bursa mit der hl. Wegzehrung zu holen.

Still und stetig begann es zu schneien aus dem nun grauverhängten Firmament.

Pater Ambros mit dem voranschreitenden, das Glöcklein schwingenden Zacherbuben verläßt das Klösterl. Nur im nächsten am Sträßlein liegenden Gehöft ist der rasche Aufbruch zum winterlichen Speisgang beobachtet worden, und die Inwohner knieen nun im Schnee und bekreuzigen sich.

Leise betend schreitet der Priester an den frommen Leuten vorüber, die dann im Klösterl fragen, wem der Speisgang gelte.

Der arme Zacher am Joch! Und der arme Pater, der durch den Schnee hinauf muß zur Höhe!

Vor dem Jochberg angekommen, bleibt der Zachenbub' erschrocken stehen. Alles verweht! Die halbe Stunde hat genügt, seine eigene Spur, die er beim Abwärtssteigen getreten, völlig zu verdecken. Und jetzt wirbelt das weiße Geflock so dicht herunter, daß man kaum auf zehn Schritte voraus sehen kann.

Auch Pater Ambros hält inne, er sucht mit den Augen die Anstiegsrichtung. Die Bursa in der linken Hand haltend, stochert er mit dem Bergstock in der rechten nach festem Grund. Wohl über zwei Meter tiefer Schnee und weich dazu, ohne Harst. Dazu bläst der Bergwind aus dem Klammloch wild und kalt und jagt Flugschnee den Wanderern entgegen. Ein böses Steigen, aber es muß gewagt werden. Verlangt ja ein Sterbender nach dem letzten Trost der Religion! Der alte Priester steigt an, er will voraus Schneetreten, auf daß der schwache Bub leichter hinterdrein steigen kann. Langsam geht es aufwärts, immer wieder sinkt der Pater bis an die Hüften im Schnee ein und es bedarf langer Zeit, bis Ambros sich wieder herauszuarbeiten vermag. Einige Schritte weiter beginnt dieselbe Mühe wieder und wieder. Der Einödpater erkennt, daß er die Hände völlig frei haben muß; er versorgt die Bursa auf seiner Brust unter dem Habit, zieht das Cingulum fester, und mit einem Gebet auf den Lippen klimmt er mit Hilfe des Steckens schrittweise durch den immer tiefer werdenden Schnee aufwärts. Eine Stunde vergeht, und kaum eine Viertelstunde Weges ist zurückgelegt. Dafür wütet jetzt aber ein Sturm, der jedes Lebewesen vernichten will, und wild heranbraust. Wind und Schneetreiben ringsum, so dicht und vehement, daß der erschöpfte Wanderer die Augen schließen muß. Pater Ambros zieht den Buben fest an sich, just in dem Augenblick, da der kleine Zacher ohnmächtig zusammensinkt.

Ratlos, zu Tode erschöpft, steht zitternd und keuchend der Pater im Schnee. Wohin nun? Wo Rettung finden? Der Blick verwehrt nach oben wie nach unten, ein wirbelndes, weißes Chaos ringsum. Hier steckenbleiben, heißt sterben. Die Gefahr ist da, der weiße Tod lauert auf zwei Opfer. Keine Hilfe! Rufen und Schreien verschlingt der tosende Sturm, es wäre auch unnütz, ohne den Wind, denn in dieser Wildnis ist kein Mensch zu treffen.

Den Pater dauert der Bub, der sein junges Leben lassen muß in der Schneewüste. Doch was gethan werden kann, soll geschehen. Ambros reibt des Buben Schläfe mit Schnee ein, netzt dessen Lippen mit Schneewasser, das er in den geballten Händen erzeugte, und nach langem Bemühen schlägt der Knabe die Augen auf: „Hoam möcht' ich!“ wimmert er.

„Ich auch!“ meint der Pater. „Aber zuerst müssen wir schauen, aus dem gefährlichen Schneeloch zu kommen!“