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Prekäre Eheschließungen

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Die verzögerte Ausschreibung der Preisfrage

Die Rhetorik der Ehegerichtsordnung und der Geist der zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Diskussion kamen sich immer näher und überlagerten sich 1791. Denn jetzt schrieben die Verantwortlichen der Oekonomischen Gesellschaft explizit eine Preisfrage aus, deren Beantwortung sich mit den Vorzügen und Nachteilen einer Bevölkerungsvermehrung auseinanderzusetzen hatte. Die Bevölkerungszunahme war in der Wahrnehmung der Zeitgenossen mittlerweile eine unbezweifelbare Tatsache geworden, die selbst in den Kreisen der Oekonomischen Gesellschaft nicht mehr positiv bewertet wurde.1 Karl Ludwig Haller stellte als Sekretär der Gesellschaft 1796 in der Neuesten Sammlung von Abhandlungen der Berner Sozietät den in den 1760er Jahren noch gelobten Populationismus durchaus tendenziös in Frage:

„Schon seit einiger Zeit hatte man in verschiedenen Staaten, und auch in dem hiesigen, zu bemerken angefangen, daß die besonders seit König Friedrich II. so sehr in Umlauf gekommene, und fast von allen Regierungen befolgte Maxime, die Bevölkerung ihrer Staaten so sehr immer möglich zu befördern, nicht unbedingt richtig sey, und daß der beständige Anwachs einer nur durch unzureichende oder unsichere Erwerbungsarten sich ernährenden, meistentheils eigenthumslosen Volksmenge, dem Staate in mancherley Rücksichten nachtheilig und beschwerlicher werden könne. Durch diese und andere Betrachtungen ward demnach die ökonomische Gesellschaft veranlasset, im Jahr 1791 mit einem Preis von 20 Dukaten die Beantwortung der Frage auszuschreiben: In wiefern die zunehmende Bevölkerung für den Canton Bern und seine verschiedenen Distrikte vortheilhaft oder nachtheilig sey?“2

Auf die Ausschreibung der Frage gingen zwei Antworten ein, wobei die eine von der Redaktion aber wegen mangelnder Gründlichkeit nicht publiziert wurde. Die andere, bereits 1792 eingereichte und schon damals von der Versammlung preisgekrönte, aber erst vier Jahre später publizierte Antwort, wurde wiederum von einem Pfarrer verfasst.3 Allerdings handelte es sich nun nicht um einen waadtländischen Landgeistlichen, sondern um einen noch in der Ausbildung befindlichen Pfarrvikar, der laut einem Nachruf in der Eidgenossenschaft weit herumgekommen war.4 Gottlieb Siegmund Gruner, der noch im Jahr der Publikation das Amt des scheidenden Sekretärs Karl Ludwig von Haller übernahm und bis 1807 innehaben sollte, bezog eingehend Stellung zur Frage, ob es die Bevölkerung zu vermehren galt oder ob man sie davon abhalten sollte.5

Der traditionelle Geist dieser Schrift wird schnell ersichtlich, wenn man sie vor dem populationistischen Hintergrund der Waadtländer Geistlichen liest, die ihre Einschriften rund ein Vierteljahrhundert früher formuliert hatten. Gruners Publikation war geradezu eine Abrechnung mit dem merkantilistisch geprägten Populationismus. Laut dem Autor entsprach die populationistische Bevölkerungstheorie einer Täuschung, die den unbescheidenen „Launen“ Einzelner entsprang.6 Sie schenkten seiner Meinung nach abstrakten Größen wie Volksmenge, Reichtum, Handel, Manufakturen etc. aus egoistischen wirtschaftlichen Motiven mehr Glauben als der materiellen Realität des Gemeinwesens, die es für Gruner primär zu berücksichtigen galt. Den Merkantilisten warf er deswegen in diskreditierender Weise Spekulation vor, während er sich der empirischen Faktizität rühmte. Nur tyrannische Despoten könnten sich eine uneingeschränkte Vermehrung ihrer Untertanen wünschen, weil ihnen deren Wohl gleichgültig wäre, so Gruner. Eine menschenliebende und landesväterliche Regierung müsse sich wegen der uneingeschränkten Bevölkerungsvermehrung über die Grenzen der natürlichen Ressourcen hinaus hingegen Sorgen machen, weil die Versorgung ihrer geliebten Untertanen auf dem Spiel stünde.7 Damit verriet der Antwortende unverhohlen seine physiokratische Gegenposition: Das wahre Wohl lag für ihn nicht in merkantilistischen Einbildungen, sondern erschöpfte sich in den Grenzen der durch den Menschen zu steigernden Fruchtbarkeit und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die der Boden hergab. In dieser bevölkerungspolitischen Logik waren also vor allem Landarbeiter nötig, die die natürlichen Ressourcen bewirtschafteten und optimal ausnutzten. Wo die Bauern ihren Beruf gegen vermeintlich lukrativere und scheinbar bequemere Erwerbsarbeit eintauschten, würden sie die durch die Landwirtschaft garantierte Nahrungssicherheit aufgeben.8 In Gruners Schrift lässt sich somit die pessimistische Interpretation des Übergangs von einer ständisch organisierten Gesellschaft hin zu einer Klassengesellschaft finden. Wenn der Bauer „seinen Stand verlässt“, beginnt die dystopische Klassengesellschaft, weil er die Produktionsmittel aus der Hand gibt und zum abhängigen Arbeiter oder Händler wird.9 Daraus resultierte ein System, in dem immer weniger produzierende Bauern eine wachsende Schicht handeltreibender Spekulanten und über ihre Verhältnisse lebender Konsumenten ernähren müssten.

„Wenn dieser Stand mit seinen Sitten der sich mehrenden Volksmenge weichen muß, so wird er von einer Klasse verdrängt, die, was er uns verschafte, in viel geringerem Maße hervorbringt und hingegen in grösserm verzehrt.“10

Gruner erachtete folglich nur ein den organischen Ressourcen entsprechendes Bevölkerungswachstum als für den Staat wünschenswerte Entwicklung. Zudem sollte dieses von den hofbesitzenden Bauern ausgehen.11 Im Zuge seiner bevölkerungspolitischen Überlegungen spielten zur Regulierung der Gesellschaftsgröße deshalb auch ehepolitische Erwägungen eine zentrale Rolle. Dabei unterschied sich der Physiokrat in seiner Argumentation von den kameralistisch inspirierten Populationisten darin nicht, dass die Ehe als einzige legitime Ordnung der Sexualität und Fortpflanzung gelten sollte. Doch die daraus abgeleiteten heiratspolitischen Forderungen waren komplett verschieden. Während die Populationisten mit der Herabsetzung der Volljährigkeit versuchten, junge Männer und Frauen der väterlichen Gewalt zu entwinden, galt es für Gruner im Umkehrschluss, den Zugang zur Eheschließung durch die Stärkung der patriarchalen Kontrolle zu erschweren. Die Ehe sollte restriktiv verwaltet und an Besitz, Arbeit und Vermögen geknüpft werden. Sie sollte bestimmt nicht demokratisiert und breiteren Schichten zugänglich gemacht werden. In Bezug auf die ehepolitischen Folgen kritisierte Gruner ganz besonders die in Bern weitverbreitete Realteilung. Dagegen hob er die Vorzüge der Primogenitur hervor: Wo Väter nicht jedem Sohn, sondern nur dem Erstgeborenen ihren Besitz hinterließen, da wären die Ehen rarer, stabiler und glücklicher, aber auch fruchtbarer.12 Dass in diesem Erbschaftssystem einige Söhne unverheiratet bleiben mussten, war Gruner gerne bereit hinzunehmen. Denn dadurch blieb der Besitz zusammen und band die ledigen Söhne an den elterlichen Hof. Sie mussten in der Theorie des Vikars deshalb nicht in jungem Alter verkostgeldet werden, weil sie auf dem elterlichen Hof gebraucht wurden. Das hatte den positiven Effekt, dass sie ortsansässig und der Aufsicht und Kontrolle der lokalen Gemeinschaft unterstellt blieben. Auf diese Weise konnte „daher jedem Hange zum Leichtsinne, zur Liederlichkeit oder Verschwendung beyzeiten vorgebeugt […] werden“.13 Wo hingegen die Grundgüter durch Realteilung kontinuierlich verkleinert würden, stellten dem Vikar zufolge Heim- und Fabrikarbeit eine verführerische Alternative zum Getreideanbau dar. Das Resultat war in den Augen Gruners Sittenzerfall und die ungebremste „Vermehrung armseliger Haushaltungen und unnützer, unglücklicher Menschen“.14 In seiner Abhandlung war es deswegen auch eine besondere Qualität kommunaler agrarischer Verfassungen, hohe Einzugsgelder für Neuankömmlinge und Einheiratende zu verlangen. Gruner interpretierte es geradezu als einen Akt der landesväterlichen Güte, Eheschließungen von Armen, die bei ihm per se leichtsinnig waren, mit diesem Mittel zu verhindern. Denn der Pfarrvikar stellte Armutsphänomene in einen kausalen Zusammenhang mit sexueller Unreinheit. Das tat er, indem er den Tatbestand des Leichtsinns zum Normalfall des sexuellen Kontakts in den unteren Bevölkerungsschichten erhob. „Der die Armuth gewöhnlich begleitende Leichtsinn“ und „besonderer niedriger Eigennuz“ dieser spezifischen Bevölkerungsschicht gingen für ihn einher. Es war in seinen Augen der sexuelle Leichtsinn der Armen, der sämtliche Solidarität in den Gemeinden lähmte und die gemeinnützigen Institutionen bedrohte.15 Bei Gruner erschienen moralischer Zerfall und sexuelle Promiskuität als logische Konsequenzen von wirtschaftlichem Abstieg und materieller Armut. Hiermit wurde eine direkte Kausalität zwischen Prekarität und Sittenlosigkeit hergestellt.16 Die armen Gesellschaftsschichten stellten damit ein permanentes Sicherheitsrisiko für die Wohlfahrt und die Sitten der Gesellschaft dar.17

Folglich redete der Vikar, nach der populationistischen Konjunktur, mit seiner Zuschrift also wieder einer dezidiert disziplinarischen Ehepolitik das Wort, der es um die Verknappung der Eheschließungen und die Stärkung patriarchaler Macht ging. Dagegen tadelte er den in seinen Augen in der zeitgenössischen Ehepolitik nach wie vor beobachtbaren „zu starken Einfluß“ des populationistisch-merkantilistischen „Bevölkerungsgrundsaz“, der seiner Ansicht nach nichts anderes besagte, als „dass die Vermehrung des Volks, besonders der Armen, ohne Einschränkung zu begünstigen seye“.18

Bezogen auf die Normen und bevölkerungspolitischen Debatten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich also abschließend sagen: Während man sich in den 1760er Jahren in den Reihen der Oekonomischen Gesellschaft von Bern vor einer Entvölkerung fürchtete und daher die Lösung staats- und wirtschaftspolitischer Herausforderungen, die unentwirrbar zusammengedacht wurden, in der Peuplierung der Landschaft erspähte, kippte der Diskurs gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Bern allmählich ins Gegenteil. Sowohl die 1787 revidierte Ehegesetzordnung als auch Gruners exemplarische Preisschrift verraten, dass man die Bevölkerungsvermehrung zunehmend als Ursprung allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und moralischen Übels sah. Beiden Diskurspositionen war bei aller Widersprüchlichkeit allerdings gemein, dass wirtschafts- und staatspolitische Fragen fortan über die Steuerung der Bevölkerung gelöst werden sollten und die Ehepolitik dabei die Rolle eines Scharniers in der Herrschaftspolitik einnahm. Das zentrale politische Handlungsmotiv bildete die Sorge um die Bevölkerung. Die skizzierten Positionen innerhalb dieses biopolitischen Diskurses werden weiter unten in Bezug auf die Urteilssprechung im Oberchorgericht erneut in Betracht gezogen.

 

2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742–1798

Im Anschluss an die Darstellung der durch Gesetze und bevölkerungspolitische Debatten normierten Eheschließung geht es im zweiten Kapitel einerseits um die an den prekarisierten Eheschließungen beteiligten AkteurInnen. Andererseits steht der taktische Umgang der verschiedenen AkteurInnen mit dem historisch spezifischen ehelichen Handlungsrahmen im Zentrum. Dazu werden in den anschließenden Ausführungen die ehewilligen Paare – wie es das Quellenmaterial eben zulässt – bestmöglich identifiziert und die gegen deren Eheschließungen opponierenden Gruppen so genau wie möglich bezeichnet. In einem weiteren Schritt sollen dann die zentralen Argumente der opponierenden Parteien aus den Ehegerichtsakten herausgearbeitet werden, die die hier untersuchten Heiratsbegehren prekarisierten. Darauf bezogen werden die Taktiken der heiratswilligen AkteurInnen eruiert, die diese anwendeten, um ihre eigensinnigen Ehebegehren gegen die prekarisierenden Einsprachen gerichtlich legitimieren zu lassen. Dabei wird sichtbar, auf welche Ressourcen sich Ehewillige und OpponentInnen bezogen und welche Mittel sie einsetzten, um ihre konträren Interessen durchzusetzen.

2.1 Soziale Vielfalt heiratswilliger AkteurInnen

Eine konsequente quantitative soziale Einteilung nach Unter-, Mittel- und Oberschicht, wie sie zum Beispiel Alexandra Lutz für konfligierende Eheleute in der Propstei Münsterdorf in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorgenommen hat,1 lässt sich für die AkteurInnen prekärer Eheschließungen aus den summarisch verfassten Protokollen des bernischen Oberchorgerichts nicht herleiten. Zu spärlich und unsystematisch sind die Angaben des Gerichtsschreibers zu Rechtstiteln, Beruf und Besitzstand der einzelnen Protagonisten in den Rekursmanualen zwischen 1742 und 1798. Allerdings dürfte der grundsätzliche Ehewille auch weniger von der sozialen Zugehörigkeit abhängig gewesen sein, als die von Lutz untersuchten vor Gericht angezeigten Scheidungsklagen. Letztere korrelierten stärker mit schichtspezifischen Erwartungen und soziokulturellen Vorstellungen, die im konkreten Eheleben nicht erfüllt wurden. Außerdem betrafen diese Urteile Menschen, die die Gnade der Eheschließung bereits empfangen durften. Unabhängig vom Stand waren mit jeder Eheschließung Statusgewinn, Rechte und Privilegien verbunden, weshalb sie auch aus allen sozialen Schichten begehrt wurde. Auch wenn es für die verschiedenen Stände zum Teil unterschiedliche Vorrechte waren, die aus der Heirat folgten, war der Heiratswunsch wohl weniger von der Wirtschafts- und Lebensform als allgemein von Vorteilen und standesspezifischen Besitzverhältnissen abhängig. Auch wenn die rollenspezifischen Erwartungen gegenüber dem Ehepartner je nach Stand variierten, stellte die Ehe als Institution, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, stände- und auch geschlechterübergreifend eine außerordentlich begehrte Ressource dar.2

In Bezug auf die prekären Eheschließungen scheinen also Schicht oder Stand nicht unbedingt die signifikanten Kriterien für deren Charakterisierung zu sein. Lutz ordnet auffällig viele Ehekonflikte aufgrund von Berufs-, Besitz- und Statusbezeichnungen in den Quellen sozial der Unterschicht zu, die Mittelschicht kommt bezüglich der verursachten Fälle in der Mitte zu liegen und die Oberschicht ist in den gerichtlichen Konflikten in absoluten Zahlen unterrepräsentiert – 63% (151) der 241 Fälle, in denen auf eine Schichtzugehörigkeit der Paare geschlossen werden konnte, resultierten aus der Unterschicht, 21% (51) wurden durch die Mittelschicht verursacht und 16% (39) wurden durch die Oberschicht ausgelöst.3 Diese Zahlen entsprechen großzügig gerechnet den relativen Bevölkerungsanteilen der jeweiligen Schicht in der Frühen Neuzeit. Meine Quellen zeigen ebenfalls, dass die matrimoniale Prekarität AkteurInnen aus allen Schichten und Ständen erreichen und in Bezug auf die Eheschließung zu Subalternen degradieren konnte. Ihnen allen konnte der Zugang zum privilegierten Stand der Ehe potentiell verwehrt werden:4 Im Zeitraum zwischen 1742–1798 wurde im Rahmen der hier untersuchten Samples, die zusammen 61 Fälle prekärer Eheschließungen umfassen, mindestens gegen sechs Eheaspirationen Hindernisse geltend gemacht oder das Zugrecht eingefordert, von denen der ehewillige Mann ein Burger der Stadt Bern war, also der privilegierten städtischen Elite angehörte.5 In einem weiteren Fall war der Bräutigam ein Kleinburger Berns, also einer jener bevorzugten Stadtbürger, denen zwar dieselben Rechte und Privilegien zu Teil wurden wie den Burgern. Vom Regiment und den Ämtern blieben sie hingegen ausgeschlossen.6 Mindestens weitere sieben besaßen das Bürgerrecht von Städten auf der Berner Landschaft,7 das ebenfalls mit erheblichen lokalen Vorrechten verbunden war.

Der geburtsständische Status blieb bei den betroffenen Frauen wesentlich öfter unerwähnt als bei den Männern. Dabei zeigt der Titel Jungfrau, respektive ‚Jungfr‘, nicht unbedingt die Keuschheit der Braut, sondern den Stand der Frau an. Darauf lässt die Verwendung des Titels auch bei schwangeren Frauen schließen. Lediglich zwei Frauen stammten demnach aus der bernischen Burgerschaft,8 eine weitere war Kleinburgerin von Bern.9 Zwei stammten aus Basel,10 eine aus Straßburg;11 sie besaßen das jeweilige Bürgerrecht. Drei weitere Frauen, deren Status sich eruieren lässt, waren Angehörige der jeweiligen lokalen Elite kleinerer Städte auf dem Kantonsgebiet.12

Nicht nur der Stand spielte eine untergeordnete Rolle für die eheliche Unsicherheit. Die Einsprüche und das interponierte Zugrecht konnten den Sohn eines lokalen Chorweibels,13 den Verwandten einer wohlhabenden Tante14 oder den Notarssohn mit Befugnis zum notarius publicus15 ebenso treffen wie den verurteilten Kriminellen, der aufgrund von illegalem Lohstampfen zwei Jahre aus Bern verbannt worden war.16 Gegen Militärs – ob Söldner17 oder Korporal18 –, Dienstboten,19 Müllermeister,20 Schneider,21 Wirte,22 Gerbermeister,23 Kunstmaler,24 Strumpfweber,25 Spezierer (Gemischtwarenhändler) und Handelsmänner26 wurden gleichermaßen Einsprachen und Zugrechtsklagen erhoben. Die wenigen Frauen, von denen wir aus den Quellen Informationen zu ihrem Stand oder Beruf erhalten, wurden vor allem über das Ansehen der Familie oder den Status und den Beruf ihrer Väter objektiviert: Sie stammten von „honnethen“, beziehungsweise „ehrlichen“ Leuten27, oder aber einer berüchtigten Familie ab,28 waren die Tochter eines Ratsherrn29, Pfrundvogts30, Wachtmeisters31 oder Handwerksmeisters.32 Nur drei ehewillige Frauen wurden über ihre persönliche berufliche Tätigkeit identifiziert: eine Magd33, eine Wäscherin34 und eine Dienstbotin. Allerdings war für den Status der Letzteren wohl wichtiger, dass sie „in einem Ehrenhaus in würklichen Diensten stehend; ohne gröste Berschwärde ihrer Herrschaft“ arbeitete.35 An den erwähnten Berufen von Männern fällt außerdem auf, dass vor allem bürgerliche und Handwerksberufe vom Gerichtschreiber erfasst wurden. Zudem wurde der Rechtsstand, außer bei einer Heimatlosen,36 nur dann im Protokoll notiert, wenn er mit städtischen Bürgerrechten zusammenhing. Die Protokolle zu den 25 Fällen, die aufgrund der Bezeichnung des Mannes eine ungefähre schichtspezifische Zuordnung zulassen, verorten die männlichen Akteure vor allem in der Aristokratie und im Handwerk. Diesen Protokollen stehen 36 Rekursurkunden gegenüber, in denen wir zur sozioökonomischen Verortung der heiratswilligen Männer nicht viel mehr als den Herkunftsort erfahren. Die geographische Herkunft lässt aber höchstens eine rurale oder urbane Sozialisation erahnen – und dies ist mit großer Unschärfe behaftet. Sie sagt allerdings nichts über den Wohn-, respektive Aufenthaltsort, die Tätigkeiten und den Stand der Brautleute aus. Agrarische Berufe finden vor 1798 in den Rekursmanualen keine explizite Erwähnung. Sie dürften aber in den 36 Fällen ohne standes- oder schichtspezifische Angaben mitvertreten sein.

Es zeichnet sich hingegen deutlich ab, dass die Mehrheit der AkteurInnen prekärer Eheschließungen eine ländliche Herkunft aufwies. Dieser Umstand vermag nicht zu erstaunen, lebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Gebiet des Stadtstaats noch der größte Teil der Bevölkerung auf dem Land und direkt von der Agrarwirtschaft.37 In 46 von 61 Fällen stammten Mann und Frau aus den ruralen Regionen Berns. In zwei Fällen stammte die eine Hälfte des Paars aus Bern und die andere aus einer ländlichen Gemeinde. Von den 13 restlichen Fällen stammten in fünf beide aus der Stadt Bern. In den anderen neun Fällen kam das Paar aus kleineren Stadtorten (Lausanne, Thun, Zofingen, Burgdorf, Murten etc.). Es bleibt außerdem zu erwähnen, dass in den Samples sowohl Fälle aus der Waadt, dem Oberland, dem Jura und dem Mitteland Niederschlag fanden. Aufgrund der Größe der Samples macht es allerdings keinen Sinn, deren Proportionalität zu analysieren. Hier soll deshalb lediglich festgehalten werden, dass alle größeren Gebiete des Kantons Bern in den Samples vertreten sind. Dabei ist immer in Rücksicht auf die beschränkte Zahl der Fälle verhältnismäßig keine Region übermäßig oft oder selten vertreten. Auffällig ist allerdings, dass lediglich 14 der als prekär charakterisierten Eheschließungen, von denen sowohl der Heimatort der Braut als auch des Bräutigams aus der Quelle eruiert werden kann, endogamer Natur waren, also von Frauen und Männern aus derselben Gemeinde oder Stadt begehrt wurden. In 44 Fällen unterschieden sich die Heimatorte der Ehewilligen. In drei Fällen fehlte die Herkunftsangabe der einen Hälfte des Paares. Rund drei Viertel der vor dem Oberchorgericht in Bern hartnäckig begehrten Eheschließungen waren also exogame Beziehungskonfigurationen. Diese Verlobungen bestanden zwischen Ehewilligen aus unterschiedlichen Heimatgemeinden und verursachten, wo vorhanden, nicht nur einen Besitztransfer zwischen Familien, sondern vor allem materielle Umverteilungen zwischen Gemeinden.

Die sozioökonomischen und kulturellen Hintergründe der beteiligten Protagonisten konnten nur für die Minderheit der Fälle ausgeleuchtet werden. Und bereits eine Analyse jener Fälle, die eine Auswertung nach Beruf und/oder Stand erlauben, ergibt, wie weitgefächert das soziale Spektrum prekärer Eheschließungen war. Sowohl das Ehevorhaben des burgerlichen Kunstmalers als auch des einfachen Dienstboten konnte durch den Widerstand aus dem sozialen Nahraum prekarisiert werden. Es lässt sich bezüglich der Charakterisierung der Prekarität von Eheaspirationen auch keine klare Grenze zwischen städtischer und ländlicher Herkunft der Ehewilligen ziehen. Folglich lässt sich die Unsicherheit in Bezug auf den Heiratsanspruch mit sozioökonomischen Parametern wie Stand, Beruf und geographischer Herkunft nicht ausreichend deutlich spezifizieren. Die eheliche Unsicherheit weist in ihren soziale Gruppen übergreifenden Charakter jene „Spuren von Gleichheit“ auf, auf die Eibach im juristischen sowie im Diskurs über die Justiz der Frühen Neuzeit gestoßen ist.38 Prekäre Eheabsichten waren ein Phänomen, das im Ancien Régime unabhängig von Schicht, Stand und Herkunft auftreten konnte. Im Vergleich mit der oben erwähnten Studie von Lutz erscheint es eher erstaunlich, dass vom Gerichtsschreiber in den Rekursurkunden so selten eindeutigere ständische (oder andere sozialstrukturelle) Zuordnungen vorgenommen wurden. Wenn die Rekursurkunde diese trotzdem erwähnte, wurde eher die Zugehörigkeit zur Aristokratie ausgewiesen als die unteren Stände bezeichnet. Schließlich entsprang die Quelle einem aristokratisch besetzten Gericht, das Urteile über Mitglieder einer ständisch organisierten Gesellschaft fällte. In Anbetracht dieses Befundes stellt sich die Frage, welche anderen Faktoren und Zuschreibungen – neben der bereits erwähnten Exogamie – aspirierte Eheschließungen deutlicher als prekäre Ehebegehren hervortreten ließen und den Eigensinn der AkteurInnen erforderlich machten. Solche möglichen anderen Faktoren sollen im folgenden Kapitel ausgeleuchtet werden.