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Prekäre Eheschließungen

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1.3 Die politische Sprengkraft des Populationismus bei Jean-Louis Muret

Im gleichen politischen Klima wie Carrard, Bertrand und Pagan trat ein Jahr später der waadtländische Geistliche Jean-Louis Muret mit einer Zuschrift an die Oekonomische Gesellschaft von Bern auf. Auch seine Abhandlung beschäftigte sich mit dem Zustand der Bevölkerung, allerdings explizit mit derjenigen in der Waadt. Seine Feststellungen und die daraus abgeleiteten Forderungen zur Bevölkerungsvermehrung unterschieden sich höchstens geringfügig vom bisher Präsentierten. In Bezug auf die Eheschließung forderte auch er ihre Begünstigung aus den bereits bekannten ökonomischen, gesundheitlichen und moralischen Gründen.1 Die populationistische Logik dahinter glich der seiner Vorgänger.

Verbal in seiner Kritik nicht expliziter als Carrard, machte auch er die Berner Obrigkeit für den Bevölkerungsrückgang verantwortlich. Die gegenwärtige Entvölkerung erfolgte laut Muret „aus moralischen gründen“.2 Die sittlichen Zustände in Bern spiegelten in seiner Sicht die verfehlte Bevölkerungspolitik der Obrigkeit. Was seine Studie allerdings von den Darstellungen der zuvor präsentierten Populationisten grundlegend unterschied, waren die statistische Datengrundlage und die mathematische Methode, die er anwandte und die nachhaltigen Eindruck hinterließen.3 Sein Vorhaben in Bezug auf die Eheschließung exemplifizierend, formulierte er:

„Was […] den ehestand belanget, wenn solcher gegen den ledigen stande verglichen wird, so begreiffet man leicht, daß der vorzug auf der seite des standes sey, der den absichten des Schöpfers entspricht. Da Mann und Weib zum Ehestande beruffen sind, so ist es voraus zu vermuthen, daß ihnen die erfüllung dieses beruffes nicht schädlich seyn, sondern vielmehr zu ihrer gesundheit und erhaltung des lebens beytragen soll; allein das ist eine würkliche wahrheit, die sich besser durch berechnung, als durch theologische gründe erweisen läßt.“4

Schon seit 1761 arbeitete der Pfarrer Muret als Sekretär des Ablegers der Oekonomischen Gesellschaft in Vevey – dessen Gründer er auch war – an seiner Studie zur Waadtländer Bevölkerungsentwicklung. Dazu erhob er eine Reihe von Daten, die zum Teil bis ins 16. Jahrhundert zurückreichten. Er berief sich in seiner Analyse daneben auf die von der Regierung erhobenen Zahlen der Volkszählung von 1764 sowie auf Taufziffern aus 46 Kirchgemeinden. Diese hatte er sich von Pfarrkollegen liefern lassen. Das erworbene Datenmaterial breitete er auf 270 Seiten aus. Davon waren 130 Seiten Text, die gewissermaßen einen 140 Seiten langen Anhang, bestehend aus Tabellen und Bevölkerungszahlen unterschiedlichster Art, ausführlich und detailreich kommentierten.5 Auf die genannten, staatspolitisch betrachtet vertraulichen, Bevölkerungsdaten hatte er nur in seiner Funktion als Pfarrer Zugriff. Aus seinen Datenreihen zur Waadt, die er für repräsentativ für das gesamte Berner Territorium hielt,6 leitete er induktiv den Befund ab, dass sich die Bevölkerung im Rückgang befinde.7 Damit stellte er seine Herrschaftskritik auf eine Grundlage, die wesentlich mehr Sprengkraft enthielt und folglich ungleich höhere Wellen in der politischen Öffentlichkeit von Bern schlug als die bisher vorgestellten Schriften. Mit seiner umfangreichen Schrift veröffentlichte er sicherheitspolitisch sensibles Datenmaterial und stellte damit die Regierung bloß, die eine strikte Arkanpolitik verfolgte. Das oberste Prinzip dieser Politik war die Geheimhaltung von Regierungsgeheimnissen.8

Die statistisch ausgewiesene Obrigkeitskritik, die durch Murets Studie zum Ausdruck kam, wurde durch die Vorrede der Oekonomischen Gesellschaft noch verschärft. Unter expliziter Bezugnahme auf die Bevölkerungsanalysen des Pfarrers wurde im Vorwort bemerkt, dass eine erfolgreiche Regierung ihre Bevölkerung zu vermehren wissen würde:

„In diesem neuen Jahrgange erscheinet vorerst die längste angekündete Abhandlung von dem Zustande der Bevölkerung unsers Landes. Ein immer wichtiger gegenstand. Denn darauf kommt alle Staatskunst an; die kenntniß von der zahl und geschäftigkeit der Untergebenen ist einem Fürsten unentbehrlich. Sein beruf, seine vorschrift ist, die gröste mögliche zahl von menschen zu beglüken. Die Bevölkerung ist die probe der Regierung. Ist jene blühend, ist sie im anwuchse; so schliessen wir, die verfassung, und welches eine folge davon ist, die verwaltung ist gut.“9

Berns Bevölkerung schien im Rückgang begriffen. Ergo wurde hier unverhohlen formuliert, dass die Potentaten Berns die angesprochene Probe nicht bestanden und ihre Pflicht nicht erfüllt hatten. Der Erfolg einer Regierung wurde im Geist der aufgeklärten Staatsräson von den gelehrten Zeitgenossen an ihrer Bevölkerungspolitik und der Zahl der Untertanen gemessen. Murets Kritik traf die Berner Obrigkeit also im Kern ihres eigenen Herrschaftsverständnisses.10 Die Ausführungen des Geistlichen waren folglich politisch höchst brisant. Ein Untertan aus der Waadt – als Pfarrer zwar zweifellos gebildet und vor Ort eine besondere Zwitterstellung zwischen Obrigkeit und Lokalbevölkerung einnehmend, aber trotz dieses Wissens und seiner Stellung als lokaler Beamter von der politischen Partizipation ausgeschlossen11 – kritisierte mehr oder weniger öffentlich die Bevölkerungspolitik der gnädigen Herren von Bern:

„Obwohl indessen aus der vergleichung der Tauf- und Todtenregister erhellet, daß (wenn jedoch die Auswanderung ausgenommen wird) sogar bey dem gegenwärtigen zustande der sache, ein ziemlich beträchtlicher überschuß, und ein sicheres erholungsmittel vorhanden wäre, das land wieder zu bevölkern, so fehlet doch noch vieles daran, daß das land alle seine vortheile sich zu nuzen mache.“12

In Murets Argumentation erschien die restriktive Ehegesetzgebung, die eine große Zahl der Menschen von der Ehe ausschloss, nicht nur nutzlos, sondern vollkommen verfehlt. Denn sie verhinderte, dass sich die Bevölkerung vermehrte, obwohl genügend Ressourcen dazu vorhanden waren.13 Murets preisgekrönte Schrift brachte das politische Parkett von Bern zum Beben: Eine konservative Mehrheit im Rat stieß sich daran, dass Mitglieder aus den eigenen Reihen in einer privaten Vereinigung – gemeint war die Oekonomische Gesellschaft – einer Kritik Raum boten, die die Wirksamkeit der obrigkeitlichen Bevölkerungspolitik offen in Frage stellte. Albrecht von Haller, der zu dem Zeitpunkt amtierender Präsident der Oekonomischen Gesellschaft war, wurde daraufhin vom amtierenden Schultheißen Johann Anton Tillier vorgeladen. Der Regierungsvorsteher tadelte den Repräsentanten der Sozietät für die öffentliche Einmischung in staatspolitisch sensible Angelegenheiten. Haller thematisierte die Vorladung in einem Schreiben an Samuel Auguste André Tissot: Man fürchte sich in Bern vor privater Kritik an der Regierungspraxis, womit er gleich noch die Ignoranz der in seinen Augen konservativen Regierung der Kritik aussetzte.14

Murets Studie und die ebenfalls kritische Stellungnahme der Oekonomischen Gesellschaft in der Vorrede zum selben Heft der Abhandlungen führten in der Folge dazu, dass der Rat der Sozietät die Beschäftigung mit regierungsrelevanten Themen – was im zeitgenössischen gouvernementalen Verständnis bevölkerungspolitische Gegenstände waren – untersagte. Zusätzlich verbot man den Regierungsmitgliedern der Gesellschaft die Teilnahme an den Versammlungen der Helvetischen Gesellschaft.15 Es wurde befürchtet, dass durch regierungskritische Gesellschaftsglieder Bernische Staatsgeheimnisse nach Schinznach getragen würden und den Miteidgenossen zu militärischen, demographischen und wirtschaftlichen Vorteilen verhelfen könnten. In konservativen Regierungskreisen bestand die latente Angst vor politischem Einfluss aus den aufklärerischen Kreisen der Helvetischen Gesellschaft. Die Ableger der Oekonomischen Gesellschaft in Berns Landschaft wurden mittels Mandat vom 20. September 1766 fortan unter die Aufsicht der betreffenden Landvögte gestellt.16

Nach Muret meldete sich noch Charles-Louis Loys de Cheseaux mit einer populationistischen Zuschrift zum Zustand der Bevölkerung, worin die Förderung der Eheschließung wiederum eine wesentliche Rolle für das Bevölkerungswachstum spielte.17 Die Schrift war in ihrer Tonalität allerdings ausgesprochen zurückhaltend. Trotzdem wurde auch dort in der „Seltenheit der Ehen“ eine maßgebliche Ursache für den Bevölkerungsrückgang gesehen.18 Der gemäßigte Ton dürfte eine direkte Folge der vorausgegangenen Rüge von Seiten der Obrigkeit an die Adresse Murets und der Oekonomischen Gesellschaft gewesen sein. Auch die Oekonomische Gesellschaft war offensichtlich darum bemüht, die Wogen zu glätten, wenn sie im Vorwort zu Loys Schrift die Hoffnung ausdrückte, eine der Regierungsmeinung entgegengesetzte Position publizieren zu dürfen, ohne dass ihr politisches Kalkül zur Last gelegt würde.

1.4 Von der Angst vor der Entvölkerung zur Angst vor der Überbevölkerung

Schon in den 1760er Jahren gab es in der Oekonomischen Gesellschaft allerdings auch Stimmen, die dem propagierten Populationismus gegenüber kritisch eingestellt waren. Sie schlugen eine ganz andere, nämlich patriarchale Ehepolitik vor, die viel stärker „der Tradition des Hausvater-Modells“ folgte1 – so zum Beispiel der Berner Landgeistliche Albrecht Stapfer,2 der für einen prosperierenden Landbau klassisch anmutende patriarchale Maßnahmen propagierte: Die Eltern sollten darauf achten, dass ihre Kinder eher spät heirateten, weil in seinen Augen Verehelichungen in jungen Jahren meistens unglücklich endeten.3 Wer sich dagegen im reifen Alter traute, tat das nicht „aus einem jugendlichen und hizigen triebe“, sondern „[gründet] sich zugleich auf vernunft“, woraus eine „zärtliche und unzertrennliche freundschaft“ in der Ehe resultiere.4 Diese Beziehungsgrundlage ließ auch in der Auffassung des Vikars den Nachwuchs „gesünder und stärker“ werden, weil die Erziehung in diesen kooperativen Ehen besser gewährleistet werden könne. Zudem stellte diese Freundschaft die Basis dar, um „einem hauswesen recht vorzustehen“.5 Die Verantwortung lag nach Stapfers Auffassung bei den Eltern, „dass sie ihren kindern nicht allzuviele freyheit in dieser so wichtigen sache gestatten“.6 Vätern und Müttern oblag es, ihre Kinder von „böser gesellschaft“ in „weinhäuser[n]“ fernzuhalten.7 Denn dort würde sich die ausgelassene Jugend treffen, die Söhne und Töchter verführte. Er warnte in durchaus aufklärerischem Duktus vor den ländlichen Gepflogenheiten der Eheanbahnung, die entweder zu unglücklichen Ehen oder einem zahlreichen unehelichen Nachwuchs führen würden.8 Stapfer forderte deswegen, dass die Eltern besonders die Schamhaftigkeit ihrer Söhne pflegten. Sie sollten diese fördern, indem sie den männlichen Nachwuchs abends im Haus behielten. Dadurch würden die Söhne vom nächtlichen Umherschweifen ab- und somit von den liederlichen Mägden ferngehalten, die in Stapfers Vorstellung nur listig danach trachteten, die Söhne „anzuloken“.9 Aus den elterlich unkontrollierten Verbindungen konnten nur zwei denkbar schlechte Szenarien resultieren. Entweder mussten die Eltern eine Frau in ihrem Haus aufnehmen, die ihnen missfiel, oder der Sohn musste in einer hier ständisch-patriarchal gedachten Ehrgesellschaft „für sein ganzes leben einen schandflek“ tragen, der ihn zeitlebens „an einer guten heyrath hindert[e]“.10 In Stapfers konservativer Abhandlung war es somit nicht vordringlich die Aufgabe des Staates, ehefördernde Maßnahmen zur Bevölkerungsvermehrung zu betreiben. Im Vordergrund stand die Obliegenheit der Eltern, die Eheschließungen ihrer Kinder in patriarchaler Manier zu kontrollieren, restriktiv zu verwalten und in die richtigen Bahnen zu lenken. Dazu sollten Väter und Mütter – nicht die Regierung – Rahmenbedingungen schaffen, damit sich die Kinder bei Tag treffen konnten. Die Eltern der potenziellen Eheleute sollten sich vorgängig kennen. Als einzige ehefördernde Maßnahme schlug der Pfarrhelfer von Oberdiessbach die Aufweichung der örtlichen Endogamie vor. Erhöhte eheliche Mobilität würde dazu führen, dass weiterhin standesgerecht geheiratet werden könnte. Denn aufgrund der streng eingehaltenen lokalen Endogamie war es für reiche Bauern schwierig, dem „sohne ein weib von seinem stande zu finden, weil ihm keine töchtern, als die von seiner gegend bekannt sind, und auf dem lande heyrathen sich die reichen eben so ungerne an ärmere, als in den städten.“11

 

Stapfers tendenziell konservative Stimme war aber trotz der Auszeichnung mit einem Preis durch die Gesellschaft in den 1760er Jahren in Bern nicht die dominante in bevölkerungspolitischen Fragen. Nachdem in dieser Zeit der bevölkerungspolitische Diskurs von der Angst beherrscht wurde, die Landbevölkerung sei in drastischer Abnahme begriffen, kamen in der Oekonomischen Gesellschaft Berns allerdings bereits gegen Ende der 1770er Jahre breiter abgestützte Zweifel an dieser Annahme auf. Die anhand sozialhistorischer Analysen konstatierte Lücke in Berns Bevölkerung, die ein nachholendes Bevölkerungswachstum nach sich zog, wurde zwischen ca. 1750 und 1770 allmählich geschlossen. Das zeitlich verschobene Wachstum führte dazu, dass um 1770 die Bevölkerung auch in Bern merklich zu wachsen begann. Denn jetzt war das Bevölkerungsdefizit, das die Rote Ruhr 1750 verursacht hatte, ausgeglichen und die Bevölkerung wuchs über den Umfang vor 1750 hinaus. Dadurch offenbarte sich im Kanton Bern dasselbe demographische Phänomen wie in der restlichen Eidgenossenschaft: Die Differenz zwischen Geburten- und Sterberate entwickelte sich zu Gunsten eines anhaltenden Wachstums.12

Das für Bern neuartige Bevölkerungswachstum, das das Trauma der Roten Ruhr, die Furcht vor drohender wirtschaftlicher Stagnation und die Angst vor schwindender militärischer Stärke in der öffentlichen Diskussion in den Hintergrund treten ließ, nahmen die Zeitgenossen etwas verzögert wahr. 1778 überlegte die Oekonomische Gesellschaft in einer ihrer Sitzungen, eine Preisfrage auszuschreiben, deren Inhalt nahelegt, dass das Wachstumsphänomen im Kreis der Sozietät durchaus registriert wurde. Man war sich in den Reihen der Gesellschaft nicht mehr sicher, ob die gegenwärtige Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik der Regierung immer noch den aktuellen Bevölkerungszuständen im Territorium entsprach. Damit stand die Frage zur Debatte, ob eine große Bevölkerung wirklich automatisch zu einer prosperierenden Wirtschaft, militärischer Stärke und in der Folge zur maximalen Glückseligkeit im Sinne des Wohlstands eines Volks führte – oder aber eine Bedrohung für die Versorgungslage Berns darstellte. Gefährdete nicht gerade der drohende Versorgungsnotstand, den eine über die agrarischen Ressourcen hinauswachsende Bevölkerung erwarten ließ, die Zufriedenheit der Untertanen und damit die Stabilität der politischen Ordnung und Ruhe? Zwar vertagte die Gesellschaft eine Entscheidung über die Beantwortung dieser Frage.13 Die Debatte in der Sozietät offenbart jedoch, dass die zuvor von Entvölkerungsängsten genährte Stimmung aufgrund der Erfahrungen, die seit den 1770er Jahren mit dem aufholenden Wachstum in Bern gemacht wurden,14 langsam umschlug: Aus versorgungspolitischen Erwägungen begann man, sich zunehmend vor der Überbevölkerung zu fürchten. Inwiefern auch die Hungersnot von 1770/71 eine Rolle für diese Wende im bevölkerungspolitischen Diskurs spielte, darüber lässt sich hier im Zusammenhang mit Bern nur mutmaßen. In Bezug auf die gesamte Schweiz hat Rudolf Braun erwähnt, dass die Versorgungskrise zwischenzeitlich zu einer steigenden Zahl besitzarmer und -loser Menschen geführt hatte und sich deswegen die kritischen Stimmen zumindest mittelfristig mehrten.15 Fest steht, dass Karl Ludwig von Haller in seinem Gutachten zu den Wettschriften „Nahrungssorgen“ thematisierte und als Resultat einer zu stark anwachsenden Unterschicht interpretierte.16 Dieser in Bern in den 1770er Jahren vorerst angedeutete Wandel in der öffentlichen Bevölkerungsdebatte stellte keinesfalls ein lokales oder lediglich eidgenössisches Phänomen dar. Die geschichtswissenschaftliche Literatur zeigt, dass in den bevölkerungspolitischen Ansichten am Ausgang des 18. Jahrhunderts allgemein ein regelrechter „Paradigmenwechsel“ in Gang war.17 Dieser begann sich in Bern allerdings bereits zehn bis fünfzehn Jahre früher abzuzeichnen, als dies generell die Literatur veranschlagt.18

1.5 Die letzte total revidierte Ehegesetzordnung unter dem Ancien Régime (1787)

Die Bevölkerungstheoretiker in Bern nahmen während den 1760er Jahren kontroverse Positionen zur restriktiven Ehegesetzgebung ein. Dagegen stellte die oben erwähnte Auseinandersetzung der Oekonomischen Gesellschaft mit dem Bevölkerungswachstum seit den späten 1770er Jahren eine tendenzielle Annäherung zwischen Bevölkerungstheorie und Eherecht dar. Die Angst vor der Entvölkerung wich im halböffentlichen Kreis der Theoretiker allmählich Befürchtungen vor einer zu stark und zu schnell anwachsenden Bevölkerung. Ihre Versorgung, so die Angst, würde die natürlichen Ressourcen Berns in zunehmendem Maß (über)strapazieren. Physiokratische Überzeugungen gewannen im Lager der Oekonomischen Gesellschaft auf Kosten kameralistischer Ansichten an Boden. Gleichzeitig blieb die ehegesetzliche Lage unverändert und restriktiv. Sie verschärfte sich sogar mit dem letzten umfassenden Revisionsprozess unter dem Ancien Régime und der daraus resultierenden letzten Bernischen Ehegerichtsordnung von 1787. Denn diese Ordnung prononcierte die Exklusivität und damit den ständischen Charakter des ehelichen Status.1 Die Magistraten verfolgten mit dem letzten vollständigen Revisionsprozess – danach wurde die Satzung bis zur Einführung des Zivilgesetzbuchs (1824/26) nur noch partiell abgeändert oder in Teilaspekten aufgehoben – nicht nur die Intention, die Ehegesetze den zeitgenössischen Gesellschaftsverhältnissen anzupassen, sondern sie auch im Sinne ihrer Effektivität „zu verbessern“.2 Was für Schultheiß, Kleinen und Großen Rat dabei ‚verbessern‘ bedeutete, ging unmissverständlich aus der Präambel der Ordnung hervor: Es galt primär „die so schädlichen folgen des lasters der unreinigkeit, die menge der bastarden, und die den gemeinden obliegend (!) lästende erhaltung derselben“ einzudämmen.3 Uneheliche Nachkommen wurden im Geist dieser Ordnung primär als materielle Belastung der kommunalen Ressourcen identifiziert. Im Zentrum der Ordnungsanstrengungen stand aber nicht mehr die Herstellung der gesellschaftlichen Reinheit per se, sondern die effiziente Abwehr der Folgen der moralischen Unreinheit: kostspielige und ressourcenzehrende mittellose Kinder armer Eltern.4 Um den sittlichen Wandel sämtlicher Gesellschaftsglieder zu steigern, sollten entsprechend der tatsächlich sehr reformiert formulierten Vorrede, erstens, „die ehen befördert“ und, zweitens, aber die Eltern dennoch zu „sorgfältigerer aufsicht über ihre kinder“ angehalten werden.5

Die Präambel der fast ein halbes Jahrhundert zuvor revidierten Ehegesetzordnung von 1743 hatte über das Problem der überproportionalen Vermehrung mittelloser Schichten noch geschwiegen. Dagegen wurde der rasante Anstieg mittelloser Bevölkerungsgruppen in der Fassung von 1787 unumwunden thematisiert und in den Mittelpunkt der Revisionsabsichten gestellt. Um das Problem in den Griff zu bekommen, war man seitens des Berner Patriziats bereit, die Autorität der lokalen Chorgerichte und des Oberchorgerichts durch „mehrere Gewalt“ zu stärken.6 Um verheimlichte Schwangerschaften, Abtreibungen und Kindsmorde zu bekämpfen, war man außerdem gewillt, die Strafen für illegitime Schwangerschaften zu mildern. Was es für die Gesetzgeber allerdings hieß, die Eheschließungen zu fördern, erschließt sich nicht auf Anhieb und erscheint danach diffus und paradox. Zwar wurde das Alter der Ehemündigkeit tatsächlich zögerlich um ein Jahr gesenkt – was als ehefördernde Maßnahme interpretiert werden kann. Dadurch endete das Zugrecht des Vaters „oder deren, die an vaters statt sind, als der mutter, großvater, großmutter, vögten oder nächsten verwandten“, mit dem Antritt des 24. Lebensjahrs.7 Doch die Einschränkungen gegen AlmosenempfängerInnen, die 1743 Eingang in die Ordnung fanden, wurden unverändert belassen: In der Stadt genossen die Gesellschaften das Vetorecht gegen Ehen ihrer Unterstützungsbedürftigen, auf dem Land waren es die Honoratioren, die nun nach Erreichen des 24. Lebensjahrs im Namen der Gemeinden gegen Armenehen opponieren durften. Wer Almosen empfing, konnte an der Ehe gehindert werden, bis die Steuern zurückbezahlt waren. Wer während seiner Erziehung Almosen in Anspruch genommen hatte, durfte mindestens bis zum 24. Lebensjahr an der Eheschließung gehindert werden, auch wenn von Gesellschaft oder Gemeinde aktuell keine Unterstützungsleistungen mehr bezogen wurden. Somit ist anzunehmen, dass einerseits das bevölkerungspolitische Interesse der Herrschaft an der Eheschließung wuchs, weil man die Zahl der unehelich Geborenen zu verringern wünschte. Doch andererseits bestand dieses Interesse keinesfalls darin, prekäre Eheschließungen generell zuzulassen. Vielmehr galt es, diese laut der Zentralaussage der Präambel unbedingt zu verhindern. Oberstes Gebot war es, der rasch anwachsenden Schicht armer Menschen und unterstützungsbedürftiger Familien Einhalt zu gebieten.8 Ökonomistische Überzeugungen ließen in immer ausgeprägterer und offenkundigerer Weise religiös akzentuierte Sittlichkeits- und Moralvorstellungen in den Hintergrund treten. Während 1743 die „fortpflanzung wahrer gottesforcht, christlichen lebens, handels und wandels“ noch an oberster Stelle der Chorgerichtssatzung stand,9 „erwarte[te]“ die Berner Obrigkeit 1787 nur noch abschließend und sogar etwas selbstgefällig „zuversichtlich den göttlichen segen“ für ihre unter wirtschaftlichen Vorzeichen revidierten Ehegesetze10. Illegitimität wurde dadurch ein verhältnismäßig kleineres Problem, sobald die materielle Versorgung der Kinder gewährleistet war. Heiraten mit unzureichendem Auskommen hingegen wurde im Zuge der bereits konstatierten allgemeinen Ökonomisierung stärker problematisiert. Und so erstaunt es wenig, dass gerade kirchliche Funktionsträger diese gesetzlichen Entwicklungen kritisierten.