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Prekäre Eheschließungen

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Die Oekonomische Gesellschaft von Bern und die Furcht vor der Entvölkerung

Ganz im reformabsolutistischen Geist stand auch das Programm der Oekonomischen Gesellschaft von Bern. Sie wurde im Jahr 1759 in Reaktion auf eine Missernte und die allgemein missliche Versorgungslage aufgrund des Siebenjährigen Kriegs im umliegenden Europa von Johann Rudolf Tschiffeli gegründet. Es war auch die Oekonomische Gesellschaft, die über ihre zahlreichen personellen Querverbindungen mit den Berner Räten die Volkszählung angeregt hatte und dadurch zu deren Durchführung beitrug.1 Das tat sie auf drei Wegen: erstens mit der Ausschreibung ihrer Preisfragen und den Veröffentlichungen der Preisschriften, die das Thema publik machten. Zweitens trugen Mitglieder der Gesellschaft in ihrer Funktion als Ratsherren die Diskussion mittels Vorstößen in den Großen Rat. Und drittens saßen Exponenten der Sozietät in der Almosen-Revisions-Kommission, also in genau jenem Gremium, das die Volkszählung umsetzte.2

Die Sozietät bildete in den folgenden Jahren das eidgenössische Zentrum des zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Interesses: Sie wusste herausragende Denker ihrer Zeit in den eigenen Reihen – z. B. Albrecht von Haller, Niklaus Emmanuel Tscharner und Samuel Engel – und zählte namhafte Männer wie Hans Caspar Hirzel, Isaak Iselin, Carl von Linné, Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau und Voltaire zu ihrem korrespondierenden Netzwerk.3 Damit wirkte sie über die Eidgenossenschaft hinaus. Das umfassende Reformprogramm der Sozietät sollte „‚die Lebenssäfte des Landes‘ in Gang setzen und ’dem schmachtenden Körper Nahrung, Gesundheit, Stärke und Wohlstand’ bringen“.4 Anfänglich standen die agrarwirtschaftlichen Reformbestrebungen ganz deutlich im Mittelpunkt der öffentlich ausgeschriebenen Preisfragen und damit im Zentrum des Reforminteresses. So ergänzten sie das merkantilistisch gefärbte Vorgehen des bernischen Kommerzienrats, der mittels Förderung der lokalen Heimindustrien versuchte, eine aktive Handelsbilanz zu erwirken.5 Seit den 1760er Jahren kamen vermehrt auch Zuschriften hinzu, die sich dezidiert bevölkerungspolitischen Fragen stellten, und als sich kameralistische und physiokratische Überlegungen zur Wirtschaft in spezifischer Weise zu überlagern begannen.6 Außerdem wurde in diesen Zuschriften auch die Forderung nach einem neuen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehungsverhältnis zwischen Regierung und Regierten, beziehungsweise zwischen dem sich ausbildenden modernen Staat und der Bevölkerung, laut.7

Praktisch zeitgleich mit der erwähnten Bevölkerungszählung schrieb die Gesellschaft 1764 eine Preisfrage aus. Diese forderte als Antwort einen umfassenden Bericht zum Zustand der Bevölkerung des gesamten Territoriums von Bern oder eines einzelnen Bezirks. In der Vorrede zu den publizierten Abhandlungen und Beobachtungen kam Vinzenz Bernhard Tscharner, der Präsident der Gesellschaft, auf die Entvölkerung zu sprechen. Sie war seinen Aussagen zufolge im ganzen Land beträchtlich, aber an einigen Orten stärker ausgeprägt als an anderen. Bisher wäre der Bevölkerungsrückgang aber zu wenig analysiert und berechnet worden und die Bemühungen zu dessen Verhinderung zu spärlich ausgefallen. Der Staatsräson verpflichtet, gab er in populationistischem Geist zu Protokoll:

„Ohne von diesem ersten grundgeseze aller bürgerlichen gesellschaften zu reden, daß nemlich ihre verfassung abzielen soll, so eine grosse anzahl von menschen, als immer nach den phisischen umständen des landes möglich ist, glüklich zu machen; wenn man das volk auch blosserdingen als das erste werkzeug der macht und stärke eines Staates betrachten will; so darf die erhaltung und vermehrung der einwohner nicht ohne schwächung desselben verabsäumet werden. Wir wünschten, daß das nachdenken über diese materie zu der entdekung sichrer und geschikter mittel, oder starker und dennoch der freyheit unnachtheiliger beweggründe führen möchte, diesem ausreissen so vieler unterthanen der Republik zu steuren, die der betrugliche reiz der fremden kriegsdienste, ein leichtgläubiger ehrgeiz, oder die blinde hofnung sich zu bereichern, täglich dem vaterlande entziehn.“8

Die von Tscharner hergestellten Beziehungen zwischen Bevölkerungsvermehrung, Wirtschaft und Glück sind nicht zu überlesen. Dabei kam der Vermehrung der Bevölkerung eine Vorrangstellung als ‚erstes Werkzeug der Macht und Stärke‘ des Staates zu. Um diese Ressource hatte sich der Staat zu kümmern. Damit wurde ihre – statistisch erfasste – Größe zum Maßstab für die Qualität der Regierungstätigkeit. Die Regierung musste Sorge um ihre Bevölkerung tragen. Dadurch trat sie in ein neues Beziehungsverhältnis zu ihren Untertanen. Diese Beziehung bestand fortan tendenziell nicht mehr darin, den Gehorsam der Untertanen per Disziplinierung und mittels effizienter Vollstreckung von Gesetzen einzufordern, sicherzustellen und im Gegenzug Schutz und Schirm zu gewähren. Vielmehr ging es jetzt darum, die Bevölkerung zu hegen und zu pflegen, sich mit ‚policeylichen‘ Maßnahmen um die Gesundheit und die Fruchtbarkeit des Volkskörpers zu kümmern, sodass dieser gedeihen konnte. Im Gegenzug verlangte der moderne Staat in statu nascendi quasi als Bezahlung Loyalität in Form von patriotischer Liebe und steigenden fiskalischen Einnahmen.9 Es ist hier für Bern die Geburtsstunde jener Politik zu beobachten, deren Technologie in der Regierung der Bevölkerung besteht und von Foucault mit dem Begriff ‚Biopolitik‘ bezeichnet worden ist10.

Mit ihren ausgeschriebenen Preisfragen thematisierte die Sozietät die Bevölkerungspolitik im Berner Kontext folglich explizit und öffentlich. Dadurch ergaben sich gleichzeitig zwei Gelegenheiten für die gelehrten Eliten, die zum Teil durchaus in einem Unterordnungsverhältnis zur aristokratischen Regierung der Stadtrepublik standen: Sie konnten in den Zuschriften ihre Meinungen und Einschätzungen zu vormals und eigentlich nach wie vor geheimen Staatsangelegenheiten öffentlich formulieren. Durch die Publikation dieser Ansichten flossen außerdem neuartige Informationen, insbesondere an gebildete Untertanen, was wiederum bei diesen eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik zuließ.11 Für die vorliegende Studie sind einige Einsendungen auf die Preisfrage besonders interessant, weil sie sich explizit mit der Frage der richtigen obrigkeitlichen Ehepolitik auseinandersetzten. Diese Schriften fokussierten exakt jenen biopolitischen „Kreuzungspunkt von ‚Körper‘ und ‚Bevölkerung‘“, den Foucault „zur zentralen Zielscheibe für eine Macht“ erklärt hat, „deren Organisation […] auf der Verwaltung des Lebens […] beruht“.12 Es sind dies in chronologischer Reihenfolge die Schriften von Benjamin Samuel Carrard (1765), Jean Bertrand (1765), Abraham Pagan (1765), Jean Louis Muret (1766) und Charles-Louis Loys de Cheseaux (1766). Sie offenbaren die Diskrepanz zwischen der bevölkerungspolitischen Debatte, die „eine grosse Bevölkerung als Massstab der Glückseligkeit unter allen Umständen“ propagierte, und dem rigiden Berner Ehegesetz.13 Hier deutet sich bereits an, in welchem gouvernemental induzierten Dilemma sich die Eherichter mit ihren Urteilen über weite Strecken des Untersuchungszeitraums befanden.

Die publizierte Zuschrift, die sich am weitläufigsten mit der Eheschließung als Mittel zur Verhinderung der Entvölkerung der Landschaft auseinandersetzte, war jene aus der Feder des Theologen Benjamin Samuel Carrard. Sie verdient hier besondere Beachtung. Der Waadtländer hatte, sehr wahrscheinlich aufgrund der herrschenden kirchlichen Orthodoxie in Bern, auf eine Laufbahn als Pfarrer verzichtet und gehörte somit potenziell zu einer eher herrschaftskritischen Bildungselite in der Berner Landschaft. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung amtete er als Pfarrhelfer in Orbe, einer Gemeinde in der Waadt.14 Für seine Schrift, die das Accessit für die Publikation erhielt,15 wurde er mit einer silbernen Denkmünze ausgezeichnet.16 Dies bedeutet, dass er mit seinen publizierten, kritischen Überlegungen zumindest im genannten halböffentlichen Raum der gelehrten Elite einige Aufmerksamkeit erregte. In seiner Zusendung an die Oekonomische Gesellschaft reflektierte er den Charakter der Gesetzgebung, die eine Regierung zu erlassen hätte, um Wohlstand und Glück in der Bevölkerung zu steigern, also Fortschritt zu generieren. Die Schrift umfasste zwei Teile, die jene für das damalige Bern typische Mischung aus merkantilistischer und physiokratischer Wirtschaftspolitik widerspiegelten:17 Der erste Teil konzentrierte sich auf die Möglichkeiten der Steigerung der agrarischen Ressourcen im Ackerbau und die gesetzlichen Maßnahmen, die dafür in physiokratischer Gesinnung in die Wege geleitet werden mussten. Voraussetzung für einen florierenden Staat stellte ihm zufolge eine intakte Landwirtschaft dar. Sie erforderte die Umsetzung einer Reihe paternalistischer Reformen, damit die landwirtschaftlichen Erträge bereits vor dem Einsetzen des Bevölkerungswachstums gesteigert werden konnten. Die Fortsetzungsschrift widmete sich der populationistischen Herausforderung, das Bevölkerungswachstum anzukurbeln. Denn dieses bildete für den Autor die Grundlage eines prosperierenden Gewerbes und eines mächtigen Staats.18 Dabei spielte für den Landgeistlichen die Heiratspolitik eine zentrale Rolle: „Eine kluge politic wird also erfordern, die heyrathen zu begünstigen, und ihre fruchtbarkeit aufzumuntern, um soviel mehr, als es zugleich das sicherste mittel ist, die Bevölkerung zu befördern“, lautete sein vorweggenommenes Fazit.19

Zuvorderst unternahm der Theologe den Versuch, in aufklärerischer Manier zu beweisen, wieso die Ehe die populationistisch gesehen ‚nützlichste‘ Institution der Fortpflanzung sei. Als Anhänger der sogenannten ‚natürlichen Theologie‘, gewissermaßen des aufgeklärten Flügels der zeitgenössischen Theologie, verwies er dabei unablässig auf den Sinn und die ‚Nützlichkeit‘ der göttlichen Ordnung. Sie befand sich in seinen Augen in vollkommener Harmonie mit Natur und Vernunft.20 Außerhalb dieser natürlichen Ordnung waren, seiner Auffassung nach, die Frauen wesentlich weniger fruchtbar, wodurch das potentielle Wachstum der Bevölkerung nicht ausgeschöpft werden konnte.21 Die Ehe war seiner Meinung nach auch das probateste Mittel zur Reduktion der Kindersterblichkeit. Nur Kinder aus ehelichen Verhältnissen erfuhren „die ganze sorgfalt eines vaters und einer mutter“ und hatten deshalb bessere Überlebenschancen.22 Die erzieherische Vernachlässigung der Kinder hatte aber nicht nur Konsequenzen für deren Gesundheit und Sterblichkeit, sondern ließ sie in aufklärungspädagogischer Sichtweise auch zu „schlechte[n] glieder[n] der gesellschaft“ werden.23

 

Dem utilitaristischen Beweis der Nützlichkeit der ehelichen Ordnung folgte ein Plan zu deren Ausweitung auf immer mehr Menschen: Als erstes forderte Carrard ganz grundsätzlich den Abbau von Ehehindernissen. Damit verband er unmissverständliche Forderungen nach Gleichheit.24 Der Zugang zur Ehe sollte quasi demokratisiert werden, um „ihre freyheit auf festen fuß zu setzen“ und damit das Bevölkerungswachstum zu fördern.25 Carrard deutete die Ehe somit explizit als nützliches Freiheitsrecht. Diese Freiheitsforderung war der Gegenentwurf zum ständisch-patriarchalen Ehegesetz in Bern, das die Untertanen in zunehmendem Maß von der Ehe ausschloss. Dabei beabsichtigte Carrard mittels Eheschließungen „den wohlstand in allen classen der einwohner auszubreiten“ und „das glük aller bürger gleich zu verschaffen“.26 Im Zuge dieser Forderung verlangte der Theologe die Reduktion von Abgaben der Untertanen: „[D]urch die fehler der Regierung, durch schwere auflagen, durch einen mangel des schuzes zum vortheil der anschlägigkeit, durch vereinigung aller glüksgüter auf wenige geschlechter, durch vorzüge, die man einem allzuzahlreichen adel gestatet“, müsse die Zahl der Eheschließungen und damit die Fruchtbarkeit sinken.27 Dieser Anspruch auf Demokratisierung der Eheschließung aus der Feder eines Waadtländer Pfarrhelfers in einem Herrschaftsgebiet mit vermeintlich abnehmender Bevölkerung muss folglich als massive aufklärerische Kritik an einer patrizischen Regierung interpretiert werden – so auch wenn er schrieb: „Diese üble politic verstopft die quellen ihres reichthums sehr geschwinde: sie macht, daß die anzahl der Heyrathen abnihmt, daß das volk und mit demselben die summ der abgaben sich vermindert.“28

Auf die Grundsatzforderung nach der Demokratisierung der Eheschließung folgten in Carrards Argumentation sieben weitere Maßnahmen zur „aufmunterung zum Heyrathen und zur fruchtbarkeit“.29 Diese erscheinen aus heutiger Sicht teilweise eher disparat. Sie umfassten so unterschiedliche Anliegen wie die Förderung der Fischzucht zur Steigerung der Ernährungsgesundheit, die Steuerung des mütterlichen Stillverhaltens, die Verhinderung der Abwanderung von Bauern in die Stadt sowie typische zeitgenössische Luxuskritik, die die Verkleinerung des Dienstbotenstandes forderte und eine ‚natürliche‘ Lebensweise propagierte.30 In ihrem Kern mahnten sie aber immer die Sorgfaltspflicht der Obrigkeit gegenüber ihrer Bevölkerung an und fußten im Wesentlichen auf dem Ziel der Bevölkerungsvermehrung. Im Hinblick auf die weiter unten zu untersuchende Ehegerichtspraxis und die ehepolitische Urteilslogik der Richter interessieren insbesondere die Forderung nach der Bekämpfung der Unkeuschheit und die allgemeine Stigmatisierung von Ehelosigkeit und Witwenheiraten. Im Zusammenhang mit der Unkeuschheit kontrastierte Carrard in idealtypisch aufklärerischer Weise die leidenschaftliche mit der vernünftigen Liebe. Den Ursprung der Leidenschaft verortete er in der „sträflichen lust“ und der „anziehende[n] kraft“, die „eine unaufhörliche verschiedenheit“ auslöste.31 Ihr stellte er die „innigste […] verbindung“ gegenüber, die aus einer „gegenseitigen hochschäzung, aus einer gemeinschaftlichen dienstfertigkeit“ und der gemeinsamen Kindererziehung herrührte.32 Um die beständigen und ungleich fruchtbareren Eheverbindungen zu fördern und den außerehelichen Leichtsinn zu bekämpfen, forderte der Theologe die konsequente Durchsetzung strenger Sittengesetze mittels disziplinierender Strafen.33 Die Richter müssten unabhängig vom Stand der devianten Subjekte unparteiisch und konsequent urteilen, weil ansonsten die Gesetze wirkungslos würden.34 Im Rahmen einer „gesunde[n] staatskunst […] unter einer guten Regierung“ propagierte Carrard außerdem die allgemeine Stigmatisierung des ehelosen Standes und die Heiraten von Witwen.35 Dazu forderte er unter anderem explizit die Senkung des gesetzlichen Ehemündigkeitsalters, um „die kinder nicht allzulange der väterlichen gewalt zu unterwerfen, und dieselben vor dem unwillen der väter in sicherheit zu sezen“.36 Die Obrigkeit sollte also das patriarchale Zugrecht eindämmen, um die Ehen ihrer Bevölkerung in jüngerem Alter zu fördern. Denn Eltern würden zusehends aus „hochmuth, eigennuz, oder nur aus eigensinn“ ihre Kinder in deren fruchtbarsten Jahren am Heiraten hindern und „durch übelangewendte widersprüche für immer das heyrathen ekelhaft machen“.37 Daneben sprach er sich für die Bekämpfung von Witwenheiraten aus, weil er sie aufgrund der zum Teil großen Altersdifferenz der Ehepartner oder des hohen Alters beider involvierter Eheleute für unnatürlich und ungesund hielt.38 Deswegen „sollten die geseze mit der natur übereinstimmen, und einen ekel ab dergleichen Ehen einflössen.“39

Carrard war mit seinem detailreichen Vorschlag zur Förderung der Ehe zwecks Bevölkerungsvermehrung zwar sehr konkret und pointiert und hat hier deswegen detaillierte Erwähnung erfahren. Er war aber keineswegs allein. Mit ihm konkurrierte Jean Bertrand, der die Preisfrage gewann. Dieser war ebenfalls ein Waadtländer Theologe und der Bruder des ungleich bekannteren zeitweiligen Sekretärs der Oekonomischen Gesellschaft Elie Bertrand.40 Und auch er war der Meinung, dass „Heyrathen ohne widerspruch die versichertsten und tüchtigsten mittel sind, dem Staate kinder zu verschaffen und zu seinem nutzen zu erziehn“.41 Neben den zwei Theologen, die mit ihren Schriften um den ersten Platz konkurrierten, meldete sich auch noch Abraham Pagan, Sekretär der Zweigstelle Nidau der Oekonomischen Gesellschaft,42 auf dieselbe Preisausschreibung mit einem Beitrag, der allerdings keine Auszeichnung erhielt.43 Er teilte mit den beiden Vorgängern die populationistische Sicht und sprach sich deshalb ebenfalls für die Vermehrung der Eheschließungen aus. Allen erwähnten Autoren waren, neben geringfügigen Nuancen, zentrale Gemeinsamkeiten in ihrer Auffassung zur Bevölkerungspolitik zu eigen: Der größte Reichtum eines Staates war in ihren Augen dessen Bevölkerung. Je größer die Bevölkerung, desto mächtiger der Staat, desto prosperierender die Wirtschaft, desto größer und verbreiteter letztlich das Glück und der Wohlstand. Durch diese Spielart des Utilitarismus wurde aus Untertanen eine Bevölkerung, die ihrerseits zum zentralen Objekt der Regierung avancierte.44 Eine schwindende Bevölkerung wurde zum maßgebenden Indikator verfehlter Herrschaftstätigkeit. Eines der ‚nützlichsten‘, also in utilitaristischem Sinn effektivsten populationistischen Mittel, um die Fruchtbarkeit und Fortpflanzung zu steigern, war eindeutig die Förderung der Eheschließungen. Dadurch wurde die Institution der Ehe unmittelbar mit dem Fortschritt in Verbindung gebracht. Die Ehe, interpretiert als Ausgangspunkt der Familie, wurde zu jenem „Element innerhalb der Bevölkerung“, das Foucault in seinen Analysen zur Gouvernementalität „als grundlegendes Relais zu deren Regierung“ bezeichnet hat. Die Ehe wird in seinen Worten ein „privilegiertes Segment, weil man, wenn man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, hinsichtlich der Demographie, der Kinderzahl, hinsichtlich der Konsumtion etwas erreichen will, sich an die Familie wenden muss“.45 Die Ehe war natürlich, nützlich und gesund und entsprach in der Logik der natürlichen Theologie zugleich der moralischen göttlichen Ordnung. Diese und die Natur befanden sich folglich in vollkommenem Einklang. Indes avancierte die Eheschließung damit in der Auffassung dieser Populationisten zu einem Naturrecht, das es unter den Auspizien des Fortschritts zu fördern galt. Nach physiokratischem Vorbild sollte die Natur zum Ausgangspunkt sämtlicher Beziehungen werden und deren Steuerung determinieren. Die Regenten hatten das Wesen dieser Natur zu erkennen, um demselben zum Durchbruch zu verhelfen. Der Fortschritt folgte der Natur. Insofern ging „der Ausübung der Gouvernementalität“ in dieser Auffassung „eine bestimmte Natürlichkeit, die der Regierungspraxis selbst eigentümlich [war]“, voraus.46

Eheschließungen konnten durch eine paternalistische Regierung mit verschiedenen wirtschaftlichen und gesetzlichen Mitteln gefördert werden. Am stärksten betont wurde in den Forderungen die Herabsetzung gesetzlicher und finanzieller Zugangskriterien zur Ehe. Gleichzeitig sollten Eheschließungen mittels Vorsorgefonds, Steuern und Verdienstmöglichkeiten für Mittellose subventioniert und mit dem exklusiven Zugang zu Ämtern für die Aristokratie privilegiert werden. Aber auch die Förderung bestimmter Gewerbe und die Bekämpfung des Luxus sollten die Eheschließungen vermehren. Mit diesen Maßnahmen war implizit die Forderung nach der Demokratisierung der Ehe verbunden. Die bevölkerungspolitischen Zuschriften und ihre Autoren standen somit in einem fundamentalen Widerspruch zur ständischen Eheordnung und deren patriarchalen Gesetzen. Die hier vorgestellte propagierte fortschrittsoptimistische und reformorientierte Bevölkerungspolitik verband sich außerdem mit einer spezifischen Kritik am Luxus und der ständischen Ordnung: Das standesgemäße Leben und die damit verbundene ‚Üppigkeit‘ verschlangen demzufolge finanzielle Mittel und humane Ressourcen in Form von Dienstpersonal, die man besser für Eheschließungen einsetzen konnte.

In dieser biopolitischen Logik traten Regierung und Regierte in ein spezifisches Beziehungsverhältnis. Dieses war diskursiv tendenziell von ‚Zärtlichkeit‘, ‚Zuneigung‘ und ‚Liebe‘ geprägt und fand mehr Entsprechung in der elterlichen Liebe zu den Kindern als in der strengen patriarchalen Disziplinierung. Die Sorge um die Bevölkerung zeichnete sich als oberste politische Maxime dieser Populationisten ab. Wie der liebevolle Vater seinen Kindern, sollte sich „das Vaterland“ seiner Bevölkerung zuwenden.47 Wie „eine zärtliche mutter […], die für alle die eine zärtliche sorgfalt trägt, denen sie das leben gegeben hat“, musste sich die Regierung um ihre Bürger kümmern.48 Damit benannte Carrard exakt jene Liebesanalogie, auf die Sandro Guzzi-Heeb hinweist, wenn er anführt, dass die Aufklärung die Liebe zum generellen Beziehungscode erklärt hatte. In der Überlagerung von elterlicher Liebe, Patriotismus und paternalistischer Zuneigung des Souveräns für seine Bevölkerung kam hier eine neue umfassende gouvernementale Logik zum Ausdruck: „Les politiques de reproduction, les interventions poupulationnistes sont conceptualisées en terme d’actes pour le bien-être du peuple.“49