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Prekäre Eheschließungen

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1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen

Nachdem die reformatorische Vorgeschichte erörtert wurde, werden an dieser Stelle der Arbeit die Handlungsräume ausgelotet, die das ehepolitische Dispositiv den um prekäre Eheschließungen versammelten AkteurInnen im 18. Jahrhundert ließ.1 Dabei liegt der Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des Centenniums. Um dieses Dispositiv rund um die Eheschließung für Bern zu rekonstruieren, beleuchtet die vorliegende Untersuchung zum einen den relevanten ehegesetzlichen Rahmen für das Handeln der ehewilligen AkteurInnen. Das geschieht anhand von Ehegerichtsordnungen und deren Revisionen. Dabei folgt die Studie Foucaults Unterscheidung von Gesetz und Norm, nach der die Funktion des Gesetzes in der Kodifizierung und somit der schriftlichen Kondensation der Norm liegt.2 Erst die Fixierung der Norm lässt das abweichende Verhalten historischer AkteurInnen am Rande der Gesetze hervortreten.3 In den folgenden Ausführungen werden die kodifizierten Normen der Berner Herrschaft zur ehelichen Konstitution des Zusammenlebens von Mann und Frau – die familiäre Koexistenz war ausschließlich heterosexuell gedacht – zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten des 18. Jahrhunderts (1743 und 1787) miteinander verglichen. Sie werden jeweils als Ausdruck unterschiedlicher Konjunkturen bevölkerungspolitischer Logiken, Ansichten und Meinungen der Berner Regierung interpretiert, die von den Wechselwirkungen zwischen Ehe- und Sexualverhalten der AkteurInnen auf dem Land sowie in der Stadt und der obrigkeitlichen Wahrnehmung sozioökonomischer Verhältnisse im Herrschaftsgebiet Berns abhingen. Da sich die vorliegende Arbeit der Erforschung der Sattelzeit widmet, stellt die revidierte bernische Chorgerichtssatzung von 1743 formal einen idealen Anfangspunkt für diese Studie dar. Zudem fiel das Erscheinen des oberchorgerichtlichen Rekursmanuals beinahe exakt mit der Einsetzung dieser revidierten Ehegerichtsordnung zusammen und stand in direktem Zusammenhang damit. Die vom Gerichtsschreiber verfassten Manuale bilden die materielle Grundlage für die weiteren Untersuchungen zur Akteurspraxis von Heiratswilligen, eheeinsprechenden Personen und Parteien sowie der Gerichtstätigkeit.

Zum anderen wird für den angestrebten Vergleich die bevölkerungspolitische Debatte rund um die Oekonomische Gesellschaft in Bern berücksichtigt. Diese spätaufklärerische Sozietät war „die erste bedeutende kontinentaleurop[äische] […] dieser Art“.4 Sie setzte sich im Rahmen eines umfassenden Ökonomieverständnisses, das auch die Bevölkerungsentwicklung einschloss, mit den relativ unflexiblen ehepolitischen Strukturen auseinander und kritisierte oder stützte diese je nach Zeitpunkt. Die gelehrte Gesellschaft verschrieb sich dabei dem Generieren, Diskutieren, Verbreiten und Umsetzen von nützlichem Wissen, um die Produktion insbesondere in der Agrarwirtschaft zu steigern. Sie setzte sich in ihren sogenannten ‚Preisfragen‘ in politisch brisanter Weise mit dem Verhältnis von Bevölkerungswachstum und Ressourcen auseinander, indem sie wiederholt die Frage aufwarf, wie eine Regierung dieses Verhältnis erfolgreich steuern sollte. Für hochstehende Beiträge zur Beantwortung dieser Fragen wurden Preise ausgeschrieben und die Publikation der Schreiben in Aussicht gestellt. Damit wandte die Sozietät ein zeitgenössisch bekanntes Mittel zur Wissensgenerierung an, das schon zuvor in anderen Gelehrtengesellschaften und Akademien angewandt wurde.5 Mitglieder und Assoziierte setzten sich dezidiert mit der konkreten Frage auseinander, „wie man am besten regiert“, weil sie an „der Rationalisierung der Regierungspraxis bei der Ausübung der politischen Souveränität“ interessiert waren.6 Ihre Abhandlungen bildeten – im Kontrast zu den relativ starren obrigkeitlichen Ehegerichtsordnungen – eine unmittelbare und dynamische diskursive Auseinandersetzung mit der aktuellen Wahrnehmung demographischer Zustände und Entwicklungen ab.

Dabei bezogen einige Autoren in den auf Preisfragen hin eingereichten Schriften spezifisch Stellung zur obrigkeitlichen Ehenormierung als Kontroll- und Steuerungsinstrument bevölkerungspolitischer Bestrebungen. Darin kritisierten sie zum Teil die obrigkeitliche Bevölkerungspolitik mehr oder weniger offenkundig. Hier sollen diejenigen bevölkerungspolitisch einschlägigen Eingaben an die Oekonomische Gesellschaft in die Untersuchung des normativen Handlungsrahmens miteinbezogen werden, die die Eheschließung als Regulativ des Bevölkerungswachstums thematisierten. Sie geben Auskunft über zeitgenössische Wahrnehmungen und Einschätzungen der sozioökonomischen Zustände des Kantons in der entstehenden politischen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts. Die öffentliche Debatte fand in Auseinandersetzung mit den herrschenden Gesetzen und der Erfahrung der ehegerichtlichen Praxis statt. Sie war über die Ehepraxis der Bevölkerung ebenso informiert wie sie dieselbe theoretisch und schreibend zu beeinflussen versuchte, indem sie auf Reformen in der Gesetzgebung drängte oder kritisch auf neue Mandate und Verordnungen reagierte.

1.1 Die revidierte Ehegerichtssatzung von 1743: ‚Heyl und Wolfahrt‘ unter ‚abgeänderte[r] lebens-manier der menschen‘

Der Anfang des Untersuchungszeitraums dieser Studie fällt, wie erwähnt, mit dem Erlass der revidierten Chorgerichtssatzung 1743 zusammen. Mit der Erneuerung der Satzung beanspruchten Schultheiß, Kleiner und Großer Rat dem Verfall der sittlichen Ordnung entgegenzuwirken und die Gesetze der „abgeänderte[n] lebens-manier der menschen“ anzupassen.1 Die obrigkeitliche Anstrengung der Gesetzesrevision diente offensichtlich dazu, den Bürgern, Untertanen und anderen im Herrschaftsgebiet wohnhaften Menschen gesetzliche Bestimmungen in Erinnerung zu rufen, damit diese nicht in „Vergess gestellt“ wurden.2 Vor allem aber wurden sie erinnert und modifiziert, um kontinuierliche Herrschaft unter veränderten Vorzeichen zu reproduzieren, sodass „Heyl und Wolfahrt“, also Sitte und Ökonomie, im Sinne der herrschenden Staatsräson reproduziert werden konnten.3 Dieser Vorgang kann als „Prozesscharakter der Konstruktion“ analysiert werden:4 Den Potentaten ging es darum, bestehende Machtunterschiede unter transformierten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Schließlich sollte die Adjustierung der Gesetze dazu führen, „Zucht und Ehrbarkeit“ unter veränderten soziokulturellen Bedingungen in ihrer Wirkung fortbestehen zu lassen. Berns Machthaber erkannten zweifelsohne die „ohnumgängliche Nothdurfft“ der fortlaufenden Anpassung der Ordnung an die Zeitumstände, wenn sie ihre Herrschaft aufrechterhalten wollten.5

Dass die Ehe- und Sexualpraktiken der AkteurInnen die Gesetze im „Justiz-Alltag ‚abschliffen‘“ und durch die Aneignung veränderten, ist folglich nicht nur aus historischer Distanz zu ersehen.6 Auch Burgern und Räten, in deren Namen die Ordnung erlassen wurde, war offensichtlich wohlbekannt, dass die Wirkung von Gesetzen nachlassen konnte.7 Was Burghartz für die Ordnung der Geschlechter konzeptionell gefasst hat, schien den Berner Machthabern bei der Revision ihrer Ehegesetzordnung als Funktionsmechanismus gegenwärtig gewesen zu sein. Moderate gesetzliche Anpassungen schienen notwendig, um den strukturellen Fortbestand der Machtbeziehungen unter sich wandelnden gesellschaftlichen Umständen aufrechterhalten zu können.8 Um die Herrschaftsverhältnisse erfolgreich tradieren oder gar ausbauen zu können, bedurfte es feingliedriger Anpassungen an die zeitgenössischen Gewohnheiten und das Verhalten der Landesbewohner. Dass dieser Umstand der Herrschaftsschicht bewusst war, dokumentiert wiederum die revidierte Chorgerichtssatzung von 1743. Dort ließ die bernische Obrigkeit verlauten, dass sie

„nicht nur gutfunden, diss-örthige ehemalige Satzungen für die Hand zu nemmen und mit Fleiß zu durchgehen, sondern in eint- und anderem, gestalten Dingen nach, auf gegenwärtige Zeiten und Läuff selbe einzurichten, zu verbessern und in fernerem hiemit anzuordnen […].”9

In der Folge ist es interessant zu untersuchen, mit welcher bevölkerungspolitischen Intention die Berner Regenten die Chorgerichtssatzung von 1743 revidierten, um die abgenutzte Ordnung in ihrer ehemaligen Wirkung wiederherzustellen. Während die Berner Magistrate mit den christlichen Mandaten von 1628 im 17. Jahrhundert und in der Folge kontinuierlich mit weiteren Verordnungen und Gesetzen mittels Normierung der Eheschließung auf Armutsphänomene zu reagieren begannen, erreichten die Gemeinden mit der „lands-vätterliche[n]“10 Ehegesetzordnung von 1743, dass sie unabhängig vom Alter alle Almosenbezüger-Innen und Menschen mit körperlichen Gebrechen mittels Zugrecht von der Ehe und damit von der ‚reinen‘ Sexualität ausschließen konnten. Das Zugrecht war „ein Vetorecht“, das ursprünglich den Eltern oder, im Fall von deren Tod oder Unmündigkeit, nahen Verwandten oder Vögten minderjähriger Kinder zukam, wenn sie Einwände gegen deren Eheaspirationen hatten.11 Dieses Recht wurde nun in bestimmten Fällen auf Gemeinden und Korporationen ausgedehnt: Gemeindeangehörige, die zu heiraten wünschten, konnten jetzt von diesen, sogar über die Volljährigkeit hinaus, daran gehindert werden, wenn sie von ihren Korporationen oder Gemeinden Unterstützungsleistungen bezogen oder in der Vergangenheit erhalten, aber nicht zurückbezahlt hatten.12 Die entsprechenden Neuerungen fanden unter dem Titel „Artickel und Sazungen, die Ehe betreffend“ unter dem dritten Absatz Eingang in das schriftlich verbriefte Ehegesetz von Bern. AlmosenempfängerInnen und Menschen mit leiblichen Gebrechen, denen nicht zugetraut wurde, sich und allfälligen Nachwuchs zu versorgen, konnten fortan über das 25. Lebensjahr hinaus an der Eheschließung gehindert werden.13 Faktisch wurde damit ein Ehehindernis errichtet und im Gesetzestext verankert, das arme Personen und Menschen mit körperlichen Gebrechen komplett von der Reinheitsordnung ausschloss. Die Sexualität dieser Menschen wurde per se diskreditiert, indem sie das Gesetz als ‚leichtsinnig‘ verurteilte.14 Das stellte die bisher schärfste gesetzgeberische Restriktion von Armenehen in der bernischen Ehegesetzgebung dar. Sie reihte sich in jene Entwicklung „intensivierter Kontrolle von Sexualität“ ein, die mit der starken Bevölkerungszunahme und der zunehmenden sozialen Polarisierung einherging, die Joachim Eibach für das 18. Jahrhundert aus kriminalitätshistorischer Perspektive thematisiert hat.15

 

In Bezug auf die frühneuzeitliche Ehegesetzgebung in Bern von der Reformation bis 1824 kann von einer beachtlichen Beständigkeit gesprochen werden. An den Prinzipien der Ehedefinition, der konstitutiven Merkmale und Anforderungen, der Rolle der Kirche und der Scheidung änderte sich im Verlauf der Frühen Neuzeit relativ wenig. Offensichtlich genügten diese dem Zweck der Herrschaftssicherung nach wie vor. Hingegen fanden im Ehehindernis für besteuerte Armengenössige bevölkerungspolitische Neuerungen Niederschlag, die der Idee aufgeklärter Staatsräson folgten und das biblische Recht auf Ehe für AlmosenempfängerInnen drastisch einschränkten.16 Die Ausdehnung des patriarchalen Zugrechts auf Gemeinden und Korporationen hatte ganz offensichtlich nicht mehr viel mit reformiert-religiösen Vorstellungen vom Menschen zu tun, der sich nicht für die vollständige sexuelle Abstinenz, das Zölibat, eignete. Durch den Ausschluss armer Bevölkerungsgruppen von der Ehe hatte man seitens der Räte und Burger im Geist reformierter Anthropologie sehr sündenbewusst uneheliche Kinder, illegitime sexuelle Beziehungen und Lebensformen in Kauf genommen. Nun wuchs aber die Angst vor dem Verlust ständischer Privilegien, insbesondere in Anbetracht der Vermehrung subalterner Schichten, dermaßen an, dass man sie kurzerhand von der reinen Gesellschaft prinzipiell ausschloss.17 Dadurch wurden diese Schichten eherechtlich prekarisiert und in der Konsequenz sexuell diskriminiert: Diese zahlenmäßig große Gesellschaftsgruppe wurde somit rechtlich verunsichert, materiell noch verletzlicher gemacht und sexuell tendenziell inkriminiert.18 Die Beobachtungen von Eibach in Bezug auf den markanten Anstieg von Sexual- und Eigentumsdelikten im 18. Jahrhundert erhärten diese These.19

Die gesetzliche Normierung entwarf die reine Ordnung in der Folge in zunehmendem Ausmaß als eine immer exklusivere Gesellschaft. Außerdem war mit der Säkularisierung im Zuge der Aufklärung die Furcht vor göttlicher Kollektivstrafe gesunken, was die Bedeutung der gesamtgesellschaftlichen Reinheit aus theo-logischer Perspektive reduziert erscheinen ließ. Gleichzeitig nahm die ökonomistische Furcht vor materieller Armut und dem Zerfall des diesseitigen Wohlstands zu. Im 18. Jahrhundert wurden transzendentale Heilsvorstellungen von einer ökonomistischen Sichtweise abgelöst, die moralisch-sozialpolitisch auf diesseitige Güter fokussierte.20 Der religiöse Wert der moralischen Reinheit war einer utilitaristischen Konnotation der Reinheit gewichen, die Armut und Unreinheit miteinander verschränkte. In dieser Verquickung wurde die Reinheit mit Hygiene in Zusammenhang gebracht, wenn es hieß, dass die außereheliche Sexualität, „die verderblichsten Krankheiten nach sich zieh[e]“.21 Sexuelle und damit moralische Unversehrtheit wurden in Bern Mitte des 18. Jahrhunderts quasi als schriftlich fixiertes Privileg der besitzenden Klasse im gedruckten Ehegesetz manifestiert. Dadurch wurde sie unverhohlen als ein ökonomisches Vorrecht kodifiziert. Der von Daniel Schläppi bezüglich des Armenwesens von Bern konstatierte „Sog der Ökonomisierung“ im Verlauf des 18. Jahrhunderts offenbarte sich ebenso in der Ehegesetzgebung der Berner Obrigkeit: Er zeigte sich auch hier „in effizienterem und sparsamerem Umgang mit den vorhandenen Ressourcen“ und „beeinträchtigte [ebenfalls] das integrative Potential“ des Ehegesetzes.22

1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik

In Widerspruch zum zunehmenden gesetzlichen Ausschluss der besitzlosen Bevölkerungsschichten von der Ehe im Zuge einer allgemeinen Ökonomisierung des 18. Jahrhunderts stieg in derselben Zeit in Europa das Interesse an Fragen der korrekten Bevölkerungspolitik zur Steuerung der Gesellschaftsgröße.1 Die bevölkerungspolitischen Debatten, und als deren Gegenstand die Eheschließung, wurden zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – im Gegensatz zur oben skizzierten manifesten Gesetzgebung – in der entstehenden Öffentlichkeit vor allem vom sogenannten ‚Populationismus‘ geprägt.2

Dieser forderte in seinen Grundzügen das Gegenteil der Ehegesetzgebung, weil er davon ausging, dass eine florierende (Land-)Wirtschaft von der Verfügbarkeit humaner Ressourcen abhängig sei. Da im 17. und 18. Jahrhundert territoriale Macht und herrschaftlicher Einfluss in starker Abhängigkeit von der Größe der Armee gesehen wurden und dazu Menschen (Soldaten) und Kapital (Steuerzahler) erforderlich waren, ging es darum, das eigene Territorium sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus militärischen Gründen zu bevölkern: Die Wirtschaft, die das Heer finanzierte, brauchte Arbeitskräfte und sollte potente Steuerzahler generieren. Das Militär benötigte möglichst viele Soldaten. „Comme cet axiome est certain que le nombre des peuples fait la richesse des États“, wird Friedrich der Große, der als idealtypischer und mächtiger Verfechter des Populationismus betrachtet werden darf, aus seiner Geschichte des Siebenjährigen Krieges zitiert.3 Dabei war der preußische Herrscher durch Johann Peter Süßmilchs Werk Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts informiert. Die Schrift des brandenburgischen Pfarrers erschien 1741 und wurde in den 1760er Jahren in überarbeiteter Version neu aufgelegt. Sie ging im Grundsatz davon aus, dass die Bevölkerungsentwicklung einer göttlichen Ordnung folgte. Damit lagen ihr die Prämissen der sogenannten ‚natürlichen Theologie‘ zugrunde, in der Natur das Wirken Gottes zu verorten. Süßmilch übte mit seinem Werk großen Einfluss auf den zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Diskurs aus.4

In der populationistischen Auffassung sollte sich die Bevölkerung also vermehren, weil sie das Fundament eines wirtschaftlich florierenden und militärisch schlagkräftigen Staates bildete. Sie stellte das Steuersubstrat des werdenden Staates dar und sollte daher wachsen. Wirtschaftspolitik und Machtpolitik wurden somit in der Bevölkerungspolitik verschränkt.5 Ökonomie und Demographie standen in unzertrennlicher Wechselwirkung zueinander. Diese Wechselwirkung determinierte die Macht und den Wohlstand eines Staates. Sie musste daher erfolgreich gesteuert werden, um die „Glückseligkeit“ in utilitaristischer Weise zu maximieren.6

Für Berns Bevölkerungspolitik im 18. Jahrhundert wurde bereits auf die herrschende Ambivalenz von „pronatalistischen Massnahmen im medizinisch-ökonomischen Bereich und von antinatalistischen Massnahmen im sozialen Bereich“ in den zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Handlungslogiken aufmerksam gemacht.7 Bern litt im 18. Jahrhundert, wie auch andere Teile Europas, unter einer länger anhaltenden stagnierenden Bevölkerungsentwicklung.8 Deswegen wurden auf der einen Seite verschiedene ‚gesundheitspoliceyliche‘ Anstrengungen unternommen und Maßnahmen ergriffen, die auch in anderen Territorien Anwendung fanden, um das Wachstum zu fördern: Die Regierungen versuchten, die epidemiebedingte Sterblichkeit zurückzudrängen, indem sie Anleitungen zu Therapien und Hygieneanweisungen verbreiteten. Bern gründete 1778 eine Hebammenschule. Die professionalisierte Ausbildung der Geburtshelferinnen trug dazu bei, die Kindersterblichkeit und die Geburtsrisiken für die Mütter zu reduzieren. Gleichzeitig unternahm die Obrigkeit verschiedene Anstrengungen, der Kontrazeption und der nachgeburtlichen Geburtenkontrolle konsequent vorzubeugen. Den Versorgungsengpässen in Krisensituationen versuchte man durch das Anlegen und Bewirtschaften von Vorräten in zunehmendem Maß Herr zu werden. Gleichzeitig wurde aber auf der anderen Seite „ein rechtliches Instrumentarium gegen die unerwünschte Eheschliessung in den Unterschichten aufgebaut“, das in der Umsetzung auch „zunehmend griffiger ausgestaltet“ wurde.9 Darin konkretisiert sich für Bern exakt jene janusköpfige Entwicklung, die auch Foucault für den ungefähr gleichen Zeitraum in der Veränderung der gouvernementalen Logik im Allgemeinen beobachtet hat.10 Er hat sie als Changieren zwischen „verschiedenen Bedeutungspolen“ politischer Ökonomien charakterisiert.11 Auch Isabel V. Hull hat – für den deutschen Raum – im Übergang von der Stände- zur bürgerlichen Gesellschaft auf den Widerspruch zwischen moralischen Schriften und polizeiwissenschaftlichen Administrationsbemühungen hingewiesen.12

Im Ehegesetz fanden in dieser widersprüchlichen bevölkerungspolitischen Atmosphäre zwischen utilitaristisch geprägtem Populationismus und der Wahrung ständischer Partikularinteressen neue, zunehmend an Besitz gebundene Eheprivilegien Eingang. Dagegen beschäftigten sich die Reformer in der bevölkerungspolitischen Debatte mit der Frage, wie man Berns Agrarwirtschaft modernisieren und die Landschaft zur Beförderung des Handwerks und der Manufakturen stärker bevölkern könnte, um Wohlstand und Glück auszuweiten und stärker zu verbreiten. Einerseits hielt die Berner Obrigkeit im gedruckten Gesetz also an der ständischen Privilegienordnung fest. Andererseits regte die Oekonomische Gesellschaft Diskussionen an, in denen Gelehrte fortschrittsoptimistisch und auf die Zukunft ausgerichtet darüber debattierten, wie eine prosperierende Gesamtwirtschaft zu schaffen sei. Darin zeigt sich, wie für kurze Zeit zwei verschiedene Formen der Gouvernementalität nebeneinander existierten13 – was, wie noch zu zeigen sein wird, in der Gerichtspraxis Widersprüche und Konkurrenz zwischen gegensätzlichen Urteilslogiken produzierte.

In der europäischen gelehrten Öffentlichkeit grassierte seit den 1740er Jahren, entsprechend der populationistischen Diskussion, die spezifische Angst vor dem ökonomisch und militärisch bedrohlichen Szenario der Entvölkerung.14 Der befürchtete Rückgang der Bevölkerung nährte die Angst vor rückläufigen Soldatenzahlen,15 schwindenden Steuereinnahmen und mangelnder agrarischer Produktion zur Versorgung der Bevölkerung. In Bern wurde die Angst vor der Entvölkerung der ländlichen Gegenden anfangs der 1760er Jahre zusätzlich geschürt: Regierungsagenten, die in der Waadt Handwerker rekrutieren wollten, berichteten über die Entvölkerung ganzer Gegenden und untermauerten mit ihren Meldungen die entsprechenden Befürchtungen der Regierung.16 Realhistorisch dürfte diese Furcht vor der Entvölkerung, die auf der Grundlage heutiger Datenreihen haltlos erscheint, vor allem durch die Erfahrung der Epidemie der Roten Ruhr genährt worden sein. Sie hatte im Spätsommer 1750 5% der bernischen Bevölkerung dahingerafft und kam damit in ihren demographischen Auswirkungen einem Pestzug gleich. Betroffen waren davon vor allem Kinder und Jugendliche. Als die betroffenen Jahrgänge in den Arbeitsprozess eintreten sollten, machte sich der Mangel an Arbeitskräften bemerkbar.17 Außerdem schlug sich die demographische Entwicklung zu Zeiten des Siebenjährigen Kriegs im militärisch bedrohlichen Szenario einer sich verschärfenden Abnahme der Rekrutenzahlen in den Mannschaftsrödeln der Berner Herrschaften nieder.18 Aufgrund dieser Erfahrungen lässt sich die zeitgenössische öffentliche Meinung relativ schlüssig erklären, obwohl Bern nach der Epidemie bis 1770 ein nachholendes und danach ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum aufwies.19

Die Furcht vor der ‚Depopulation‘, die auch unter Gelehrten kursierte, weckte und beförderte das obrigkeitliche Interesse an der statistischen Erfassung der Bevölkerung. Die gute Herrschaft musste wissen, wie es um ihre Bevölkerung und somit ihre Steuereinnahmen und militärische Stärke stand.20 Deswegen wollten die Berner Magistraten „den Zustand der Ungewissheit in diesem sicherheitspolitisch sensiblen Bereich überwinden, das Phänomen intellektuell unter Kontrolle bringen und damit einer Bewältigung durch Massnahmen zugänglich machen“.21 Folglich wurden in diesem politischen Klima in Bern erste statistische Techniken zur Erhebung demographischer Daten wie Geburtenzahlen, Todesraten und Eheschließungsziffern übernommen, angewendet und entwickelt. Diese Entwicklung trug sich an verschiedenen Orten in Europa zeitgleich zu. Die Datenerhebungen und die damit gewonnenen Zahlen erhielten im hier beschriebenen Zeitraum eine ganz neue Bedeutung. Sie wurden zum Schlüssel der „Realitätserfassung“,22 mutierten zur Grundlage für politische Entscheidungen schlechthin und wurden zum Ausgangspunkt obrigkeitlicher Planungen. Demographische und ökonomische Daten, die sich in Ziffern ausdrückten, wurden zum mächtigen Mittel der Rechtfertigung in der politischen Entscheidungsfindung.23 Sie sollten fortan als rechnerische Grundlage für die gesamte weitere Planung und Umsetzung staatlicher Bevölkerungspolitik figurieren.24 Empirie und Rationalität sollten die grundlegenden Prinzipien sämtlicher politischer Reformen werden. Die erhobenen Daten zur Bevölkerung wurden zu Faktoren der Regulierung und somit Dimensionen der Macht, weshalb sie von den Obrigkeiten meistens für ein sicherheitspolitisches Risiko erachtet und geheim gehalten wurden. Verfolgt wurde das Ziel, die Leistungsfähigkeit des Staates auf sämtlichen Ebenen zu steigern. So sollten Macht und Souveränität gegen innen und außen befördert werden.25 Bevölkerung und Wirtschaft wurden in ihrer Verbindung als Gegenstand und legitimatorisches Prinzip der Regierung entdeckt.26

 

In diesem Licht muss auch die Volkszählung der Berner Regierung von 1764 betrachtet werden. Im Sommer dieses Jahres wurden sämtliche Pfarrer Berns von der Almosen-Revisions-Kommission aufgefordert, zwecks Datenerhebung von der Regierung zugestellte Fragebögen auszufüllen.27 Die Fragebögen umfassten unter anderem die Bezifferung der Taufen, der Todesfälle und der Eheschließungen. Aus rein statistischer Sicht hätten die erhobenen Daten die Angst vor einer drohenden Entvölkerung mildern können, da sie keine Anhaltspunkte für eine Entvölkerung lieferten.28 Dennoch ebbte die Furcht vor dem Bevölkerungsschwund keineswegs ab. Sie war größer als das Vertrauen in die Zahlen. Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und der Staatsräson publizierte der Rat, der, trotz der gewonnenen Daten, Herrschaftskritik befürchtete, die Resultate der Zählung nicht. Dadurch ließ Berns paternalistische Regierung – aus heutiger Sicht – quasi die Chance aus, die grassierende Befürchtung einer Verkleinerung der Bevölkerung zu entkräften.29