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Prekäre Eheschließungen

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1.4 Neue Gesetze ohne Folgen? Zivilgesetzbuch (1824/26) und Verfassungsrevision (1830/31)

1

Junker, Helvetik, 268; Sibylle Hofer, Zivilrecht und Zivilprozessrecht, in: Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. Peter Martig, Bern 2011, 100–102.

2

Junker, Helvetik, 268.

3

Es wurde bereits andernorts darauf verwiesen, dass die häufig geteilte These, die Zivilgesetzgebung sei der Anfang des Untergangs des Patriziats gewesen, aus juristischer Perspektive nicht haltbar ist. Hofer, Zivilrecht, 101.

4

Civil-Gesetz für die Stadt und Republik Bern, 1. Theil. Personen-Recht. Mit Anmerkungen von Dr. Samuel Ludwig Schnell, Bern 1825, 60.

5

Hofer, Zivilrecht, 101.

6

Personen-Recht, 48. Satzung, 62–64.

7

Ebd., 60; diese gesetzliche Bedeutungsverschiebung im Bereich der Eheschließung, weg von der Verlobung hin zu der Trauung stellte ganz und gar keine Berner Eigenheit dar. Sie war eine allgemeine Tendenz in den reformierten Gebieten der Eidgenossenschaft im 19. Jahrhundert. Vgl. Siffert, Verlobung, 69. Gleichzeitig kann diese Tendenz als eine Fortsetzung der Entwicklung aus der Frühen Neuzeit interpretiert werden, für die van Dülmen bereits eine Gewichtsverlagerung von der Verlobung hin zu der kirchlichen Trauung behauptet hat, vgl. van Dülmen, Gesellschaft, 235.

8

Personen-Recht, 60.

9

Ebd., 61–62.

10

Ebd., 61.

11

Ebd., 29. Satzung, 46.

12

Ebd., 36. Satzung, 51–53.

13

In der Einleitung wird auf den naturrechlichten Charakter der Ehe hingewiesen, während in der 36. Satzung das alte Zugrecht der Gemeinden gegen besteuerte Mitglieder bestätigt wurde; ebd., Einleitung zum Ehegesetz, 44; 36. Satzung, 51; vgl. zum Ausschluss von der legalen Sexualität Pfister, Strom, 158–159. Am Gesetzestext zeigt sich, wie die Berner Gesetzgeber versuchten in ihrer Regierungstätigkeit einer Natur zu folgen, die laut Foucault „der Gouvernementalität, ihren Gegenständen und Handlungen eignet“, wobei „die Regierungspraxis nur dann das tun können wird, was sie zu tun hat, wenn sie diese Natur berücksichtigt“. Um erfolgreich regieren zu können, musste die Berner Regierung in dieser Auffassung „jene Natürlichkeit“ der Ehe Genüge leisten, Foucault, Biopolitik, 34.

14

Personen-Recht, 165. Satzung, 149–150.

15

Ebd., 31. Satzung, 48.

16

Ebd., 51. Satzung, 65.

17

Ebd., 62. Satzung, 70.

18

Ebd., 41.–46. Satzung, 55–59.

19

Ebd., 55. Satzung, 67.

20

Zu den Aufgaben und Pflichten des Pfarrers: ebd., 52.–63. Satzung, 66–70.

21

Hafner, Mischehe, 24.

22

Vgl. zum Zusammenhang zwischen Kontinuitäten und Wandel, der dazu führt, dass durch oberflächliche Anpassungen Machtverhältnisse strukturell beständig bleiben, Burghartz, Wandel.

23

Gesetz über die Organisation der Gerichtsbehörden der ersten Instanz (3. Dezember 1831), in: Gesetze, Dekrete und Verordnungen der Republik Bern, Bd. 1, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 40 Bde., Burgdorf, Bern 1833–1940, 151–162.

24

So kommt der Schweizer Rechtshistoriker René Pahud de Mortanges bezüglich der Berner Zivilgesetzgebung im Allgemeinen zu folgendem Fazit: „Neben den naturrechtlichen, liberalen Elementen enthielt es [das Gesetz] u.a. noch Eheverbote und diskrimnierende Bestimmungen für Uneheliche […].“ Damit blieb sie nach wie vor hinter den „Errungenschaften der Helvetik“ zurück. René Pahud de Mortanges, Schweizerische Rechtsgeschichte. Ein Grundriss, 2. Aufl., Zürich 2017, 244.

25

Siffert, Verlobung, 138; Birgit Stalder, Kindheit, Ehe und Familie, in: Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. Peter Martig, Bern 2011, 154–160, 156–157; Pius Hafner weist darauf hin, dass die Mehrheit der Kantone erst mit der revidierten Verfassung zur zivilen Trauung schritt. Hafner, Mischehe, 20.

2.1 Anhaltend vielfältig und exogam, zunehmend mittellos und kriminell

1

StABE, Bez Bern B 2755, 174–180.

2

StABE, B III 831, 361–363.

3

Ebd., 246–248.

4

Ebd., 539–542.

5

StABE, B III 835, 82–86.

6

StABE, B III 833, 481–484.

7

Regula Ludi weist darauf hin, dass besonders Frauen von fluktuierenden Arbeitsverhältnissen, wirtschaftlichem Zwang zu räumlicher Mobilität und hohen Entlassungsrisiken betroffen waren. In abgeschwächter Form traf das in diesen wirtschaftlichen Umbruchszeiten aber auch auf die Männer zu. Ludi, Frauenarmut, 24; die Folgen des Zwangs zur beruflichen Flexibilität beschreibt für Bern Anne-Marie Dubler. Sie kommt zum Schluss, dass für viele Menschen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ein „nomadisierendes Leben zeitweise oder dauernd Realität“ war. Anne-Marie Dubler, Landstreicherei und Heimatlosigkeit. Die Last der nicht sesshaften Armut, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 179–183, 179; Walter Frey zeigt das berufliche Spektrum auf, in dem sich die bäuerlichen Unterschichten bewegten: Walter Frey, Bernische Landgemeinden im 18. Jahrhundert, oder: von Bauern und Taunern, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 174–179, 179.

8

Ludi, Frauenarmut, 20.

9

StABE, B III 831, 239–243; Joachim Eibach, der aus kriminalitätsgeschichtlicher Perspektive auf die Frühe Neuzeit blickt, hat das 18. Jahrhundert als „Jahrhundert der Kriminalität“ ausgewiesen. Die massive Zunahme der Bevölkerung hatte zu einer wachsenden Zahl „entwurzelter mobiler Unterschichten“ und einer Krise des kommunal-paternalistischen Ordnungssystems geführt. Die Effekte der „Überbelastung der traditionalen Ökonomie in Stadt und Land“, die der Berner Historiker aufgrund des zeitlichen Fokus für das 18. Jahrhundert festgehalten hat, sind in Bern auch für das 19. Jahrhundert zu sehen. Eibach, Gleichheit, 527–528.

10

StABE, B III 831, 333–335; exakt diese „‚Flexibilität‘“ist ein Signum jener allgegenwärtigen Prekarität, die von Pierre Bourdieu für das ausgehende 20. Jahrhundert beschrieben worden ist. Insofern erfährt die Anwendung dieses Konzepts hier erneut ihre Legitimität. Bourdieu, Prekarität, 99.

11

StABE, Bez Bern B 2755, 623–624.

12

StABE, B III 833, 300–302.

13

 

Ebd., 220–223.

14

Zur Genese und Ausdifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft in der Schweiz, die zunehmend auf Leistung und Wissen, also Beruf und Bildung fokussierte, vgl. Tanner, Bürgertum. Dadurch wurden geburtsständische Prinzipien tendenziell zurückgedrängt.

15

StABE, B III 831, 375–379; 470–473; StABE, B III 833, 300–302; 302–305; 481–484; StABE, B III 835, 92–98; StABE, Bez Bern B 2755, 13–14; 17–20; 174–180; 191–196; 244–246; 273–275; 436–437; 623–624; 645–647.

16

StABE, B III 831, 225–230.

17

StABE, B III 833, 448–452; StABE, B III 835, 161–163.

18

StABE, B III 833, 305–309.

19

Ebd., 368–372.

20

StABE, B III 831, 185–189.

21

StABE, B III 833, 220–223; 460–462; StABE, Bez Bern B 2755, 436–437; 623–624.

2.1 Anhaltend vielfältig und exogam, zunehmend mittellos und kriminell

22

StABE, B III 831, 239–243; 428–431; StABE, B III 833, 74–77; StABE, B III 835, 55–63.

23

StABE, B III 831, 264–267.

24

Ebd., 185–189; StABE, B III 835, 20–30; StABE, Bez Bern B 2748 Band 1, 46–49.

25

StABE, B III 831, 352–355.

26

Ebd., 246–248; StABE, Bez Bern B 2755, 17–20.

27

StABE, B III 831, 375–379; 409–414; StABE, B III 833, 481–484; StABE, B III 835, 92–98.

28

StABE, B III 831, 185–189; 239–243; 246–248; 264–267; 276–279; 333–335; 361–363; 421–428; 457–475; 539–542; 558–561; 587–589; 638–641; 697–703; StABE, B III 833, 47–50; 70–74; 74–77; 287–291; 300–302; 302–305; 305–309; 323–325; 356–358; 368–372; 423–426; 473–478; 549–552; StABE, B III 835, 22–30; 55–63; 98–102; 161–163; 318–321; StABE, Bez Bern B 2748 Band 1, 046–049; StABE, Bez Bern B 2755, 191–196.

29

StABE, B III 831, 276–279; 333–335; 352–355; 361–363; 457–460; 473–475; 558–561; 638–641; StABE, B III 833, 47–50; 70–74; 302–305; 368–372; 473–478; 549–552; StABE, B III 835, 55–63; 318–321.

30

Im Quellensample zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren 44 der gesamthaft 61 begehrten Eheschließungen (rund 72%) exogamer Art.

31

StABE, B III 831, 539–542.

32

StABE, B III 833, 287–291; 423–426.

33

Ebd., 356–358; StABE, B III 835, 22–30.

34

StABE, B III 831, 158–161.

35

Ebd., 539–542.

36

StABE, B III 835, 55–63.

37

StABE, B III 833, 305–309; 549–552; StABE, B III 835, 22–30.

38

StABE, B III 833, 423–426; die aufgeführten Strafen waren alles mehr oder weniger milde Strafen im Bezugsrahmen der Armuts- und Sittendelinquenz. Pahud de Mortanges, Rechtsgeschichte, 147–148.

39

StABE, B III 831, 473–475.

40

In Anbetracht dieser Beobachtung ist eine Bemerkung aus Regula Ludis Lizenziatsarbeit sehr aufschlussreich. In Bezug auf die Kriminalisierung von Frauen aus der Unterschicht kommt sie zum Schluss, dass diesen die Ehrlosigkeit a priori anhaftete, weswegen sie diese „gar nicht erst unter Beweis stellen [mussten]“. Ludi, Kriminalität, 121–122.

2.2 Opponierende Parteien: Gemeinden und Korporationen statt Väter und Verwandte

1

StABE, B III 438, 566–579.

2

Ebd; vgl. auch Marion Lischka, die die Hypothese aufgestellt hat, dass in Detmold Frauen im 18. Jahrhundert zum Teil „möglicherweise gar nicht (mehr) unbedingt damit [rechneten], eine Eheschließung einklagen zu können“, sondern das Konsistorium als hilfreiche Institution bei der Durchsetzung finanzieller Interessen wahrnahmen. Hier zeigt sich ein ähnliches Bild: Schwangere Frauen befanden sich zwar in einer äußerst prekären Situation, besaßen aber offenbar auch ein gewisses Druckmittel gegenüber der Gemeinde des Mannes, mit dem sie finanzielle Leistungen erwirken konnten. Lischka, Liebe, 77.

3

StABE, B III 438, 566–579.

4

Vgl. zum Beispiel StABE, B III 831, 697–703; StABE, B III 833, 47–50; 287–291.

5

Erika Flückiger Strebel hat anhand der Unterstützungspolitik der bernischen Almosenkammer für das 18. Jahrhundert „das zunehmende wohltätige Engagement des Staates“ zeigen können, das allerdings schon damals in Widerspruch zur Praxis der Gemeinden stand. Flückiger Strebel, Wohlfahrt, 309.

6

StABE, B III 831, 322–324; 375–379; 409–414; 421–428; 457–460; 470–473; StABE, B III 833, 74–77; 265–271; 300–302; 460–462; StABE, B III 835, 168–171; StABE, Bez Bern B 2755, 703–705.

7

Diese Entwicklung begann bereits im 18. Jahrhundert. Flückiger Strebel, Wohlfahrt, 309; Ludi, Frauenarmut. Sie wurde allerdings in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark akzentuiert.

8

Der Rückgang der Einsprachen aus dem verwandtschaftlichen Umfeld der Ehewilligen sollte hier keinesfalls als schwindende Bedeutung der Verwandtschaftsnetzwerke interpretiert werden. Eher trug deren zunehmende Bedeutung dazu bei, dass Akteure in intakten Netzwerken verwandtschaftskonform heirateten. Vgl. Lanzinger, Verwandtschaft, 21; David Sabean hat vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass die Bedeutung von Verwandtschaft in Zeiten der Industrialisierung zunahm. Sabean, Background, 116; Jon Mathieu hat anhand des Rückgangs gesetzlicher Ehehindernisse in Bezug auf Verwandtschaftsgrade in protestantischen Territorien aufgezeigt, dass Verwandtenehen in der Heiratspraxis im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert Relevanz gewannen. Mathieu, Kin, 224.

9

Lanzinger, Verwandtschaft, 21; David Sabean beobachtet in diesem Zusammenhang sehr pointiert: „Love and sentiment and emotional response or their expected development were built into the very nature of familial circuitry. They were the software necessary to direct the course of all the hard-wired connectors. […] [L]ove always determined the flow of capital, access to office, the course of a career.“ David Warren Sabean, Kinship and Class Dynamics in Nineteenth Century Europe, in: Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Developments (1300–1900), hrsg. v. David Warren Sabean/Simon Teuscher/Jon Mathieu, New York 2007, 301–313; Albert Tanner, Arbeitsame Patrioten, wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz, 1830–1914, Zürich 1995, 170–202.

10

Lanzinger, Ehe, 11; für die Schweiz hat Rudolf Braun darauf hingewiesen, dass bereits die Protoindustrialisierung und Agrarmodernisierung am Ausgang des 18. Jahrhunderts allmählich neue Erwerbszweige generiert hatte, die die Menschen unabhängiger von den haushaltsökonomischen Kapazitäten der Eheschließung machten. Auf diese Weise veränderte sich auch das Sexualverhalten der Menschen, so die These. Braun, Ancien Régime, 47–54.

11

Shorter, Geburt, 99–119; für Bern Schmidt, Dorf.

12

Regula Ludi hat für Bern gezeigt, dass Konkubinatsbeziehungen vom sozialen Nahraum durchaus geduldet werden konnten und im 19. Jahrhundert vor allem für die „Vertreter der liberalen bürgerlichen Elite“ ein Problem darstellten. Ludi, Kriminalität, 122; Zuspruch für ihre These erhält sie indirekt von Ginger Frost. Sie hat 221 Fällen der Bigamie zwischen 1830 und 1900 in England untersucht. Daran hat sie zeigen können, dass das nächste Umfeld das bigamische Zusammenleben eines Paares duldete, wenn jener Teil, der sich doppelt verheiratete, gute Gründe hatte, den ersten Ehepartner oder die erste Ehepartnerin zu verlassen. Diese Form des Zusammenlebens unterschied sich nicht grundlegend vom Konkubinat. Ginger Frost, Bigamy and Cohabitation in Victorian England, in: Journal of Family History 22 (1997), 286–306.

13

Ludi, Kriminalität, 121–122.

2.3.1 Hartnäckig eigensinnig

1

Zur zeitgenössischen Zuschreibung von Eigensinn seit dem 18. Jahrhundert: Lüdtke, Einleitung, 9.

2

Pfister, „Baby Peak“, 64.

3

StABE, B III 835, 161–163.

4

Ebd., 55–63.

5

StABE, B III 831, 185–189.

6

Ebd., 246–248.

7

StABE, B III 833, 550.

8

StABE, B III 831, 174–180.

 

9

StABE, Bez Bern B 2755, 174–180.

10

Ebd., 223–224; 573–575; 611–613.

11

StABE, B III 831, 333–335.

12

Michel de Certeau verwendet das Adjektiv in Zusammenhang mit dem Ausbau der modernen Verwaltung, die ein immer homogenisierendes und engmaschigeres System entwickle. Während in „traditionellen Gemeinschaften“ die Taktiken „zwischen den Maschen des Systems“ auftauchten, führt „die Expansion der technokratischen Rationalität“ einerseits zwangsläufig zu einer Zunahme des taktischen Handelns, aber auch zu einer Abnahme dessen Erfolgschancen. Certeau, Kunst, 94–95.

2.3.2 Die Zurückdrängung der Taktiken durch Formalisierung des Rechtsanspruchs

1

Die Formalisierung des Rechtsanspruchs kann daher als tendenzielle Fortsetzung der frühneuzeitlichen Verrechtlichung verstanden werden. Das Konzept der Verrechtlichung ist maßgeblich von Wilfried Schulze als prozesshafte Folge des deutschen Bauernkriegs geprägt worden. Schulze selbst ist der Meinung, dass Verrechtlichung „über diesen Zeitraum hinaus eine grundlegende Tendenz [ist], die keineswegs nur für die deutsche Entwicklung prägend geworden ist“. „Wir brauchen freilich die Beobachtung von Verrechtlichungstendenzen nicht auf die Frühe Neuzeit zu beschränken […]. Wir stellen vergleichbare Prozesse im 19. Jahrhundert fest […]. Gerade in jüngster Zeit ist der Begriff der Verrechtlichung zunehmend auch auf die Folgewirkungen angewandt worden, die sich aus der Verbindung des Rechts- und des Sozialstaatlichkeitsgebots des Grundgesetzes ergeben.“ Winfried Schulze, Einführung in die Neuere Geschichte, 5., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Stuttgart 2010, zuerst 80, dann 82; vgl. auch Claudia Opitz, Art. Verrechtlichung 2013. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025615/2013-02-25/ (26.08.2021); auf praktische Aspekte der Verrechtlichung in der Beziehung zwischen Männern und Frauen hat Heinrich Richard Schmidt hingewiesen. Schmidt, Dorf, 281–283; 286.

2

Den Zusammenhang zwischen Ehre und Anwesenheit in der vormodernen Gesellschaft hat Maurice Cottier in seiner Dissertationsschrift exemplarisch aufgearbeitet und darin an Äußerungen von Pierre Bourdieu und Rudolf Schlögel angeschlossen. Cottier, Gewalt, 33–34; Bourdieu, Entwurf, 27–28; Schlögl, Anwesende.

3

StABE, B III 831, 473–475.

4

Dieser Befund deckt sich mit der kriminalhistorischen Feststellung von Joachim Eibach, der zeigt, dass sich „das alte kommunal-paternalistische Ordnungssystem“ aufgrund wachsender Armut bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert in einer Krise befand, weswegen „sich bei dörflichen Eliten die Neigung verstärkte, die Obrigkeit um Unterstützung anzurufen“. Eibach, Gleichheit, 528.

5

StABE, B III 831, 264–267.

6

Diese Beobachtung lässt sich in eine allgemeine rechtliche Entwicklung am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert einordnen. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die frühneuzeitliche Normenvielfalt tendenziell zu Gunsten von abstrakten Rechtsgrundlagen aufgelöst. Härter, Kriminalitätsgeschichte, 40; Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 75–76.

7

So zum Beispiel im Fall der begehrten Eheschließung der Verlobten Rudolf Ganzi von Zweisimmen und Susanna Escher aus Oberwil. Hier verlangte das Oberehegericht vom Chorgericht Oberwil „zu mehrerer Erläuterung der Gemeinde Zweysimmen ihre Weigerungsgründe, und eine bestimmte Rechnung mit Belegen, über die Besteurung […], und Uns dann samt der Antwort des Ganz und mehrern Bericht einzusenden“. StABE, B III 833, 48.

8

StABE, B III 831, 158–161.

9

StABE, B III 835, 22–30.

10

Ebd., 248–251.

11

StABE, Bez Bern B 2748 Band 1, 46–49.

12

Diese Veränderung, die sich hier in den Quellen abzeichnete, ist im größeren Rahmen der Ausdifferenzierung des souveränen Staats und dessen Gewaltmonopol zu deuten, auf die Karl Härter hinweist. Die „Kodifizierung bzw. Verrechtlichung“, die der Kriminalitätshistoriker für das Strafrecht Deutschlands nach dem Ende des Reichs beobachtet, lässt sich auf die ehegerichtlichen Verhältnisse in Bern übertragen. Härter, Kriminalitätsgeschichte, zuerst 40, dann 33.

13

Obwohl das bürgerliche Zivilgesetzbuch in der Helvetischen Republik nie zur Vollendung kam, wurden im helvetischen Parlament aufklärerische Debatten über Rechtsreformen geführt, wie man sie auch andernorts vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa vorfindet. Bei den Reformen sollte es in Bezug auf das Zivilgesetz vor allem darum gehen, richterliche Willkür zwecks Rechtsgleichheit und -sicherheit zu überwinden. Vlg. Böning, Traum, 221–222. In Bezug auf die Strafrechtsreformen unter der Helvetik spricht Ludi von einem „technizistische[n] Verständnis der Justiz“, das die Rechtssprechung „dem Einfluss von Verdauungsproblemen des Richters“ entziehen sollte. Ludi, Wiedergeburt, 180.

14

In der Kriminalitätsgeschichte wurde schon verschiedentlich darauf hingewiesen, dass der frühneuzeitliche „Normenpluralismus“ bei den betroffenen Akteuren zwar „Unsicherheiten produzieren, ihnen aber auch Handlungsspielräume eröffnen konnte“. Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 76. Hier kann man den umgekehrten Schluss anstellen: Die Abnahme der besagten rechtlichen Vielfalt führt für die Ehewilligen zu einer Einschränkung ihrer taktischen Möglichkeiten. Verhältnismäßig dazu verringerte sich auch die Multinormativität im Gericht unter gleichzeitiger tendenzieller Zunahme der Formalisierung der Urteile. Das heißt, der vormals „flexible [frühneuzeitliche, AH] Umgang mit Devianz“, wobei das Recht „als eine variable, diskursive Ressource [fungierte], die unterschiedliche Akteure für unterschiedliche Interessen und Funktionen nutzen konnten“, nahm ab. Härter, Kriminalitätsgeschichte, 42. Milos Vec ist zum Schluss gekommen, dass „das 19. Jahrhundert […] den vormodernen Sinn für diese Normativität [verlor]“, weil „die europäische Allianz von Absolutismus, Aufklärung und Naturrecht zerbrach“. Vec, Multinormativität, 161.

15

Darin entsprachen die Berner Eherichter „der modernen juristischen Perspektive“, die „‚Gerechtigkeit‘ […] mit einer umfassenden und systematischen Ausformulierung des Rechts sowie der grundsätzlichen Reform der Verfahrensweisen um 1800 [gleichsetzt]“, also unter Gerechtigkeit primär „Verfahrensgerechtigkeit“ versteht. Eibach, Iustitia, 177. Auf Aspekte der Standardisierung und Objektivität in verwalterischen Verfahrenszusammenhängen im werdenden technokratischen Staat hat für Großbritannien Patrick Joyce hingewiesen. Patrick Joyce, The State of Freedom. A Social History of the British State since 1800, New York 2013, 33–35.

16

In diesem Prozess lässt sich die Verfestigung der „Idee einer von den Machthabern unabhängigen, ihnen entgegengehaltenen Wahrheit und Gerechtigkeit“ erkennen, wie sie Niklas Luhmann beschrieben hat. Luhmann, Legitimation, 19–20.

17

Zur Funktion der Gnade in frühneuzeitlichen Strafverfahren und dem modernen Wahrnehmungswandel davon vgl. Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 93–94; Eibach, Iustitia, 185–187.

18

Zum Übergang von ständischen Gerechtigkeitsvorstellungen in der Frühen Neuzeit zu universalen Gleichheitsforderungen des emanzipierten Bürgertums vgl. die Überlegungen von Eibach, Gleichheit, 488–490.

19

Daniel Schläppi spricht in Bezug auf die Genese frühneuzeitlicher Staatlichkeit „nach Muster der alten Eidgenossenschaft“ in Anlehnung an Gunnar Folke Schuppert von einer Koproduktion. Er charakterisiert damit den frühneuzeitlichen „Staat als Mixtur von kommunalen, korporativen und zentralen Institutionen unter aristokratischer Ägide“. Im hier untersuchten Zeitraum, so die These, verlagerten sich die Mischungsverhältnisse eindeutig zu Gunsten bürokratischer, zentralstaatlicher Normen. Schläppi, Management, 50–51.

20

StABE, B III 831, 264–267.

21

Ebd.

22

Ebd.

23

Ebd.

24

Ebd.

25

Diese Entwicklung ist als Ausdruck „der Vereinheitlichungstendenz strafrechtlicher Normen“ zu interpretieren, die Gerd Schwerhoff beschreibt, und allmählich jenen „Normenpluralismus“, der in den Verhandlungen des Ancien Régimes zu vernehmen gewesen ist und den verschiedenen Akteuren „Handlungsspielräume eröffnen konnte“, ablöste. Daraus folgte auch eine tendenziell universalistische Rechtsanwendung, die den großen Spielraum der obrigkeitlichen Gnade drastisch reduzierte und den Rechtsanspruch der Gesetze massiv vergrößerte. Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 76; vgl. auch Härter, Kriminalitätsgeschichte, 40.

26

StABE, B III 831, 333–335.

27

Ebd.

28

Ebd.

29

Ebd., 352–355.

30

Ebd., 333–335.

31

Ebd., 322–324.

32

Ebd., 239–243; Ludi, Kriminalität, 122. Dieser Befund schließt sich an die Beobachtungen von Regula Ludi an, wobei „Unterschichtsfrauen“ in Bern im 19. Jahrhundert „die ihnen anhaftende Ehrlosigkeit gar nicht erst unter Beweise stellen [mussten]“, sondern die Gerichtsbehörden „den Mangel an weiblichem Ehrgefühl voraus[setzten]“.

33

StABE, B III 831, 239–243.

34

StABE, B III 835, 248–251.

35

Ebd., 92–98.

36

Ebd., 25.

37

In diesem Fall waren die moralischen Bedenken der Heimatgemeinde des Mannes besonders groß. Dem Paar wurde von der Gemeinde Ehebruch nachgesagt. Es war die Rede von „wiederholter Unzucht“ zwischen den beiden und daraus resultierenden Zuchthausstrafen; ebd., 22–30.

38

StABE, B III 833, 483.

39

Ebd.

40

Ebd.

41

Ludi, Kriminalität, 121.

42

Ebd.

43

Zur „Erosion der ständischen Ehrvorstellungen“ vgl. Martin Dinges, Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik am Übergang vom Ancien Régime zur Moderne, in: Zeitschrift für Historische Forschung 16 (1989), 409–440, 409–411.

44

StABE, B III 831, 352–355.

45

Ebd.

46

Ebd.

47

Ebd.

48

Hofer, Zivilrecht, 103.

49

StABE, B III 833, 462; allgemein war die Berner Regierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemüht, langwierige Rechtsverfahren zu vereinfachen und die Prozesse zu verkürzen. Sibylle Hofer, Zivilgerichtsbarkeit, in: Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. Peter Martig, Bern 2011, 102–103, 103.

50

StABE, B III 831, 421–428.

51

StABE, B III 835, 92–98.

52

StABE, Bez Bern B 2755, 703.

53

Ebd., 704.

54

Ebd.

55

Ebd., 704–705.

56

Ebd., 223.