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Prekäre Eheschließungen

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E Resultate

Die vorliegende Arbeit brachte die zentralen Faktoren, die die Eheschließung im Wechselspiel historisch konstituierten, in der Gerichtspraxis von 1742 bis 1848 miteinander in Berührung: die relativ beständigen gesetzlichen Normen, konjunkturelle bevölkerungspolitische Debatten in der entstehenden Öffentlichkeit, listige Aneignungsversuche ehewilliger AkteurInnen sowie deren taktische Abwehr durch Opponierende und die strategische Urteilssprechung der Eherichter. Diese Variablen und die sich zwischen ihnen unablässig abspielenden und verändernden Wechselwirkungen konnten in dieser gerichtlichen Kontaktzone in Abhängigkeit der Zeit über rund 100 Jahre hinweg erforscht werden. Dabei wurde einerseits versucht, den differenzierten Stimmen der AkteurInnen und ihren eigenen alltagspraktischen Theorien der Eheschließung im Gericht bestmöglich Gehör zu verschaffen, ohne dabei andererseits kontextuelle Voraussetzungen und strukturelle Bedingtheiten auszublenden. Die vorliegende Arbeit zielte dabei darauf, eine strikte Dichotomie zwischen Norm und Praxis aufzuweichen. In der Gerichtspraxis wurden vielmehr Dialektik und Wechselseitigkeit zwischen diesen beiden konstruierten Polen sichtbar. Daraus resultierten verschiedene Beobachtungen, die im Folgenden unter den Blickwinkeln von Kontinuität und Wandel konzentriert wiedergegeben werden.

1 Kontinuitäten

Die markanteste beobachtete Beständigkeit hinsichtlich der prekären Eheschließungen in Bern über die drei untersuchten Zeitabschnitte hinweg war die allgemeine, das heißt stände- beziehungsweise klassenübergreifende und anhaltende Begehrtheit der Ehe im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Dieser Befund war aufgrund der allgemeinen Forschungslage grundsätzlich zu erwarten. Der eheliche Status war mit symbolischem Kapital, ökonomischen Vorteilen und rechtlichen Privilegien ausgestattet. Zudem war die Ehe eine wichtige Form der haushaltsökonomischen Solidarität und Altersvorsorge sowie -fürsorge für beide Geschlechter. Sie erleichterte die Haushaltsführung und die Erziehung sowie Versorgung von Kindern, wenn solche bereits aus vorausgegangenen ehelichen oder unehelichen Verbindungen existierten oder zu erwarten waren. Dieser Aspekt hat sich im Quellenmaterial insbesondere in der Motivation verwitweter Personen und alleinerziehender Elternteile immer wieder narrativ gezeigt: Sie versuchten sich die Ehe mit dem Argument der Selbsthilfe anzueignen. Dazu hoben sie die Notwendigkeit der partnerschaftlichen Unterstützung als zwingenden Grund für die Ehebewilligung durch das Gericht hervor. Sie strebten nicht nur danach, ihre Lebenslage in ökonomischer Hinsicht zu verbessern, sondern waren zum Teil aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Gebrechen auf Pflege und Hilfe angewiesen.

Gleichzeitig ergab die Analyse prekärer Eheschließungen, dass Heiraten aus allen Ständen, Berufsgruppen und räumlichen Regionen aus dem sozialen Nahraum durch Einsprachen verunsichert wurden. Dieser Befund bestätigt die eingangs der Arbeit vorgestellte These von der Ehe als fait social total (Marcel Mauss) in einem erweiterten Sinn: Sie betraf nicht nur alle Lebensbereiche der ledigen oder verheirateten Menschen in umfassender Weise, sondern sie berührte in Bern auch alle gesellschaftlichen Gruppen in der Stadt und auf dem Land. Daher stellte die Ehe in gewisser Weise eine Form stände- und schichtübergreifender Gleichheitserfahrung dar, auch wenn die sonstigen Lebensumstände und -bedingungen der ehelich prekarisierten Menschen oft ganz unterschiedlich sein konnten. Die Prekarisierung von Eheschließungen aus dem Umfeld konnte Menschen aus allen Ständen und sozialen Gruppen (Aristokraten, Handwerker, Landwirte, Dienstboten etc.) sowie Regionen zu subalternen AkteurInnen herabsetzen. Sie alle waren dann einer hegemonialen Eheordnung ausgesetzt, der sie tendenziell fremd gegenüberstanden, die sie sich aber aufgrund der damit verbundenen Vorteile gleichwohl anzueignen versuchten. Ihnen drohte, von der eminent wichtigen Institution der Ehe ausgeschlossen und dadurch an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden, wenn sie sich nicht bereits dort befanden. Dagegen wehrten sie sich im Aushandlungsprozess der Ehe vor Gericht zu allen hier untersuchten Zeiten mit unterschiedlichen Mitteln und Taktiken und versuchten – unter großem Ressourcenaufwand und mehr oder weniger erfolgreich –, in den Genuss der Vorteile einer Eheschließung zu kommen.

Eine weitere Konstante, die sich durch alle Fälle hindurch in mehr oder weniger ausgeprägter Weise über alle untersuchten verfassungsgeschichtlich definierten Perioden abzeichnete, ist der ausgeprägte Eigensinn der AkteurInnen prekärer Eheschließungen. Alle hier untersuchten Prekarier besaßen die Fähigkeit, eigene Vorstellungen von ihrem Leben und der Eheschließung zu entwickeln, die mit dem gesellschaftlichen Gemeinsinn, den Gesetzen oder dem herrschenden bevölkerungspolitischen Diskurs kollidierten. In der Folge wurden die Eheschließungen prekarisiert und mittels Justiznutzung vor Gericht gezogen, das heißt auf dem Weg der verrechtlichten Konfliktaustragung ausgehandelt. Ob in den Rekursmanualen des Oberchor- oder Oberehegerichts, den Petitionen an den helvetischen Vollziehungsausschuss oder in den Konsistorialmanualen des Amtsgerichts von Bern – in sämtlichen Quellen drangen der Eigensinn der Ehewilligen und deren kreative Taktiken und Aneignungsversuche in ihrem Handeln mehr oder weniger deutlich durch. Eigensinn und taktische Kreativität entwickelten die ehewilligen AkteurInnen, um sich die Eheschließung anzueignen. Diese Beobachtung lässt sich nicht nur ex post und mit der Brille postmoderner Handlungstheorien anstellen. Sie wurde bereits von den zeitgenössischen Opponenten prekärer Eheschließungen und den Gerichtsschreibern gemacht und schriftlich erfasst. An den hartnäckigen Eigensinn schloss sich in den Gerichtsquellen ein weites semantisches Feld von äquivalenten Begriffen und Charakterisierungen des Verhaltens der ehewilligen und prekarisierten AkteurInnen an. Es betraf sowohl Frauen als auch Männer. Dabei war der Eigensinn nicht nur über die Zeit hinweg beständig, sondern zeigte sich im Einzelfall vor allem hartnäckig. Gleichzeitig trat er zu keiner Zeit eindeutig auf und wurde stets mehrdeutig beurteilt. Diese Ambiguität kristallisierte sich neben seiner Persistenz als weiteres konstitutives Merkmal des Eigensinns heraus. Indem er die Fähigkeiten zur Entwicklung von Taktiken mit sich brachte, entpuppte er sich schließlich selbst als maßgebliche Ressource für die Ehewilligen im Kampf um eine Eheschließung und ihren Erfolg vor Gericht. Das Potenzial des Eigensinns zeigte sich in den Quellen ex negativo auch gerade dort, wo die Entschlossenheit des Eigensinns Reue oder Unsicherheiten wich – und dann selten zum gewünschten Resultat führte.

Ihre konstante Entsprechung fanden der kontinuierliche Eigensinn ehewilliger AkteurInnen und deren taktische Manöver im Widerstand der Opponierenden, der sich bis ans Ende des Untersuchungszeitraums ebenso hartnäckig hielt. Korporationen, Familien und Gemeinden hüteten den Zugang zur Ehe vor Gericht ebenfalls auf taktische Weise. Jede Eheschließung konnte in einer Gesellschaft knapper Ressourcen ohne ausdifferenzierte und effektive staatliche Armenfürsorge eine potenzielle Bedrohung derselben bedeuten. Deswegen überwachten und kontrollierten die Opponierenden den Zugang zur Ehe mit großer Strenge. Diesen versuchten sie einzuschränken, indem sie sich auf patriarchales Ehegesetz beriefen und Zugrechtsklagen sowie Eheeinsprachen erhoben, die die betreffenden Eheschließungen verhindern sollten. In ihrer Optik sollte die Eheschließung durchgehend ein ständisches Vorrecht moralisch integrer und wirtschaftlich selbsttragender Menschen sein und keineswegs einen universellen Rechtsanspruch darstellen. Das förderten auch die Petitionen zu Tage, in denen die Opponierenden grundsätzlich keine eigene Stimme erhielten. Doch zahlreiche Bittschriften thematisierten die Gewalt und die Rügerituale, die sie aus ihrem Umfeld entweder zu befürchten oder bereits erlitten hatten. Die geschilderten Maßnahmen verdeutlichen aber auch, dass zahlreiche prekäre Eheschließungen wohl gar nicht vor Gericht kamen, sondern bereits im sozialen Nahraum scheiterten, wo sie von den Opponierenden auf der informellen Ebene der Sozialkontrolle erfolgreich verhindert wurden. Insofern bezeugen die untersuchten Fälle – ob in den Gerichtsmanualen oder den Petitionen – das besondere Ausmaß des Eigensinns, der Hartnäckigkeit und des taktischen Geschicks der Ehewilligen.

Über die gesamten analysierten rund 100 Jahre hinweg gerieten vor allem örtlich exogame Heiraten ins Visier der Opponierenden. Vor 1798 waren 72% (44 von 61) aller prekärer Ehebegehren exogamer Natur, nach 1803 waren es gar 88% (64 von 73). Dass Gemeinden, Korporationen, aber auch Familien exogame Verbindungen besonders strikt kontrollierten und zu verhindern versuchten, bestätigt sich anhand der hohen Zahl von Petitionen, die während der Helvetik von exogamen Paarkonstellationen ausgingen. Rund 64 % (102 von 160) aller Bittschriften betrafen Beziehungen, bei denen die Verlobten aus unterschiedlichen Heimatgemeinden stammten oder einige von ihnen überhaupt keine Heimatrechte besaßen. Diese nutzten das Mittel der Bittschrift vielfach, um direkt mit der Regierung in Beziehung zu treten. Durch Kanzeldispense oder direkte Eheerlaubnis konnten sie Widerstand aus ihrem sozialen Umfeld umgehen und die begehrten Eheschließungen mit geringerem Widerstand durchsetzen.

Neben der Exogamie lässt sich als ebenfalls markantes strukturelles Merkmal prekärer Eheschließungen identifiziert, dass viele vor Gericht gezogene Ehebegehren von Witwen und Witwern ausgingen. Und auch in den Petitionen baten wiederum auffällig viele Witwen und Witwer das helvetische Direktorium um eine direkte Ehebewilligung oder einen Erlass der dreifachen Kanzelverkündigung, weil ihre Verbindungen nicht der moralischen Ökonomie lokaler Gemeinschaften und Korporationen entsprachen und daher an der Opposition zu scheitern drohten. Als weitere Gemeinsamkeit vieler prekarisierter Eheschließungen trat die voreheliche Sexualität auf, die vielfach schon im Vorfeld der jeweiligen Gerichtsverhandlung zu Brautschwangerschaften oder bereits zur Geburt unehelicher Kinder geführt hatte. Gerade bei Paaren ohne oder mit wenig materiellem Besitz drohten die Kinder aus diesen Verbindungen den lokalen Gemeinschaften der Männer zur Last zu fallen, wogegen sich diese vor Gericht mit allen verfügbaren Mitteln sträubten.

 

2 Wandel

Neben den aufgeführten Konstanten und Kontinuitäten zeigten sich aber vor allem Veränderungen im Verlauf des untersuchten Zeitraums. Es wurde deutlich, dass auch in Bezug auf die Eheschließung die Zeit zwischen 1742 und 1848 – die zwei Drittel jenes ‚Sattels‘ abdeckt, den Reinhard Koselleck begriffsgeschichtlich als beschleunigten Wandel beschrieben hat – eindeutig eine Phase sich rasch verändernder Verhältnisse war. Die Transformationen zeigten sich auf allen hier beobachteten Ebenen, also bezüglich der Normen und Debatten, der Taktiken der Ehewilligen und der Opponierenden sowie der Strategien der richterlichen Instanzen.

Ganz grundsätzlich lässt sich im Vergleich der Zeiten für Bern im Übergang vom Ancien Régime zur Helvetischen Republik – von den Rekursurkunden des Berner Oberchorgerichts hin zu den an die helvetische Verwaltung gerichteten Petitionen – zunächst eine drastische Steigerung der Erfolgsaussichten der eigensinnigen und hartnäckigen TaktikerInnen prekarisierter Ehebegehren verzeichnen. Erst im Anschluss fielen die Chancen in der nachhelvetischen Periode rapide ab. Vor dem Oberchorgericht des Ancien Régimes endeten 59% (36 von 61) der matrimonialen Aushandlungsprozesse prekärer Ehebegehren für die Verlobten mit einem für sie positiven Urteil. Dagegen wurden 90% aller Petitionen, von denen man erfährt, wie sie beurteilt wurden (97 von 108), mit der Ehebewilligung durch die helvetische Verwaltung belohnt. Betrachtet man allerdings zusätzlich die Erfolgsquote prekärer Ehebegehren in der Zeit nach der Helvetik bis zur Bundesstaatsgründung, so lässt sich nach der Helvetik ein mindestens ebenso markanter Einbruch derselben beobachten. Im Vergleich zum Ancien Régime verkehrten sich die Verhältnisse. Nun wurden lediglich noch 41% der begehrten Eheverbindungen durch das Oberehegericht und das Berner Amtsgericht legitimiert. Geht man mit Michel de Certeau davon aus, dass die Helden des Alltags stets auf günstige Gelegenheiten hoffen und mit den Ereignissen spielen mussten, um ihre Eheschließungen in flüchtigen Augenblicken zu realisieren, dann kann festgehalten werden, dass das Ancien Régime im Verhältnis der untersuchten Zeitabschnitte eine ‚mittelmäßige‘ Gelegenheit für den taktischen Erfolg prekarisierter ehelicher Begehren darstellte. Dagegen hielt die Helvetik historisch gesehen für die TaktikerInnen prekärer Eheschließungen viele und geradezu optimale Gelegenheiten bereit. Das gemeinhin als Beginn eines für die Schweiz liberalen Zeitalters beschriebene 19. Jahrhundert bot hingegen den Ehewilligen hinsichtlich prekärer Eheschließungen die schlechtesten Handlungsoptionen und geringsten Erfolgsaussichten.

Die normative Ebene des Ehediskurses war in Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts maßgeblich geprägt durch das zwiespältige Nebeneinander eines ständisch-patriarchalen Ehegesetzes, das einen traditionalen religiösen Sexual-Kodex zum Ausdruck brachte, und einer bevölkerungspolitischen Debatte, die die Bevölkerung als wertvollste Ressource des werdenden Staats erkannte. Während das traditionelle Gesetz die unteren gesellschaftlichen Schichten im Zuge einer allgemeinen Ökonomisierung aufgrund der Armut zunehmend von der ‚reinen‘ Gesellschaft ausschloss und dadurch Armut zusätzlich moralisch brandmarkte, schlugen die populationistischen Stimmen mit Blick auf die gewünschte Bevölkerungsvermehrung eine reformorientierte Heiratspolitik vor, die auf eine gesellschaftliche Verbreiterung der Ehe und einen direkten staatlichen Zugriff auf das Individuum abzielte. Gerade mittels gesellschaftlicher Verbreiterung der Eheschließung als Teil der natürlichen Ordnung sollten Armut, Sittenlosigkeit und Krankheiten reduziert werden. Zugleich konnten dadurch patriarchale Machtansprüche intermediärer Parteien wie Gemeinden, Korporationen und Verwandte beschränkt und die staatliche Machtfülle durch einen zunehmend direkten Zugriff auf das Subjekt im selben Zug ausgebaut sowie die Macht monopolisiert werden.

Die konträren ehepolitischen Perspektiven fanden sich auch in den mehrheitlich polyphonen Urteilen der Berner Obereherichter wieder. Über alle Fälle betrachtet, verfolgte eine Minderheit der Richter eine ständisch-patriarchale Urteilslogik und begünstigte damit die ständischen Zwischengewalten. Dagegen gab eine knappe richterliche Mehrheit den eigensinnigen Ehebegehren der AkteurInnen nach und förderte sowie demokratisierte damit die Eheschließung unter dem Ancien Régime nicht nur in der bevölkerungspolitischen Theorie, sondern auch in der Gerichtspraxis. Während ständische Zwischengewalten und eigenwillige Eheaspiranten über die physische, moralische, ökonomische und emotionale Realisierbarkeit einer in der Zukunft funktionierenden Eheschließung verhandelten, anerkannten die Obereherichter in vielen Fällen eine ständisch legitimierte Gnadenverwaltung, die in der Mehrheit der Urteile allerdings bevölkerungspolitisch motiviert war und daher tendenziell gnädig, also nicht mit gesetzlicher Strenge zugunsten der prekären Eheschließungen ausschlug. In den meisten Fällen wurden schließlich den Ehegegnern die Gerichtskosten aufgebürdet, wenn sie nicht zwecks Begünstigung der Ehe oder um innerfamiliäre Streitigkeiten zu vermeiden erlassen wurden. So ermöglichte im Gericht ausgerechnet ein ständisches Prinzip eine reformorientierte Ehepolitik.

Das Klima ehepolitischer Unentschiedenheit zwischen patriarchalem Gesetz und reformorientierter Bevölkerungspolitik sowie die potenzielle Ergebnisoffenheit schlugen sich auch qualitativ in den Rekursmanualen nieder. Unter dem Ancien Régime fand im Oberchorgericht ein multinormativer Aushandlungsprozess zwischen eigensinnigen Ehewilligen, Opponierenden und Eherichtern statt. Hier erschien die Situation in den Quellen zwischen Erfolg und Misserfolg tatsächlich am unentschiedensten. Jeder Einwand aus dem sozialen Nahraum sah sich mit einem eigensinnigen taktischen Pendant der ehewilligen AkteurInnen konfrontiert. Während die Opponierenden insbesondere die Sexualität der Minderjährigen als unkontrolliert und triebhaft und die Eheversprechungen als unbesonnen darzustellen versuchten, wiederholten diese ihre Eheversprechungen, verwiesen auf die allgemeine Bekanntheit ihres Umgangs und benannten zum Teil den fortgesetzten vorehelichen sexuellen Kontakt als Zeichen der Entschlossenheit. Der Vorwurf unzulänglicher ökonomischer und körperlicher Ehevoraussetzungen seitens der Opponierenden wurde von den Ehewilligen mit der essenziellen Notwendigkeit der Eheschließung zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage ins Gegenteil verkehrt und gekontert. Dabei stellten die Verlobten für den Erhalt der Ehebewilligung taktisch in Aussicht, dass sich durch die Heirat ihre wirtschaftliche Situation derart verbessern würde, dass dadurch die kollektiven Ressourcen der Gemeinden und Korporationen geradezu entlastet würden. Einwände gegen den Geisteszustand der Ehewilligen wurden durch schiere Anwesenheit im Gericht, also im wortwörtlichen Sinne durch Geistesgegenwart entkräftet. Sowohl die einsprechenden Parteien als auch die sich verteidigenden Ehewilligen versuchten wiederholt in taktischer Weise die moralische Integrität der Gegenseite zu diskreditieren. Opponenten von Eheschließungen setzten dafür insbesondere bei mittellosen Paaren bei der sexuellen Vorgeschichte, den Ehemotiven und somit beim Verhältnis zwischen Emotionen und wirtschaftlichem Kalkül an. Die Ehewilligen unternahmen ihrerseits Anstrengungen, die Einsprachen als lediglich ökonomisch motiviert darzustellen und damit zu zeigen, dass die Eheschließung für die Opponierenden ausschließlich einen Schacher darstellte, der der Würde der Eheschließung als erster Ordnung Gottes unwürdig war. Außerdem verwendeten einige Prekarier die voreheliche Sexualität und die damit verbundene Brautschwangerschaft beziehungsweise voreheliche Geburt explizit und implizit als ökonomisches Druckmittel, um ihre Eheschließung zu erwirken. Wie mit Bezug auf entsprechende Forschungsarbeiten erläutert wurde, standen die Chancen auf die eigenständige Versorgung unehelicher Kinder wesentlich schlechter als jene von ehelichen. Dieser Umstand hebt nochmals die existenzielle Bedeutung der für die Mehrheit der Bevölkerung in dieser Zeit geradezu unverzichtbaren Eheschließung hervor. Gleichzeitig zeigt er an, vor welches Dilemma die Ehewilligen die Richter mit ihrer vorehelichen Sexualität stellten. Diese mussten in der Folge über ökonomische Risiken für die Gemeinden und Ehewilligen abwägen. War zu erwarten, dass die Ehe die gewünschte Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Paares brachte und dieses die Familie in Zukunft eigenständig versorgen konnte, oder drohte dadurch der Gemeinde statt lediglich für ein uneheliches Kind gleich für die Versorgung der ganzen Familie aufkommen zu müssen?

Durch die politischen Ereignisse der Helvetischen Revolution gerieten jene reformorientierten, aufklärerischen Kräfte, die sich in Bern bereits während des Ancien Régimes zum Teil im Oberchorgericht eingefunden hatten, auf der Ebene der nominell indirekt demokratischen Republik an die Macht. Darauf verweist unter anderem auch das Indiz, dass direkt zu Beginn der helvetischen Ära eine Volkszählung anberaumt und durchgeführt wurde. Daran zeigte sich, dass während der Helvetik die Bevölkerung tatsächlich zum wichtigsten Gegenstand der Regierung und zum Gradmesser des politischen Erfolges wurde. Die gouvernementale Logik der Bevölkerungspolitik, die in Bern ihren Ursprung um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatte, gelangte nun ins Zentrum der Regierung. Die reformerische Stimmung zeigte sich nicht nur in der helvetischen Verfassung, sondern spiegelte sich auch in Bezug auf die Eheschließung in einer Reihe anderer Symptome wider. Lokale Sittengerichte – Verfechter patriarchaler Rechte – wurden aufgehoben, das Berner Oberchorgericht zwischenzeitlich abgeschafft. Einzugsgelder für Bräute aus anderen Gemeinden der Helvetischen Republik wurden suspendiert, wodurch das Heiraten drastisch erleichtert und begünstigt wurde. Bürger wurden zum Mitwirken am Staat und in der Folge zum Petitionieren aufgerufen. Dadurch wurden sie geradezu zur Teilhabe und Mitarbeit an der Staatsbildung eingeladen. Diese Gelegenheit wurde insbesondere von den ehewilligen AkteurInnen in Bern in der Folge eifrig und mit großem Erfolg genutzt. Einige Petitionen evozierten zu Beginn der Helvetik mit ihrem Eigensinn gar manifeste Gesetzesänderungen im Eherecht, indem sie mit ihren taktisch formulierten Ehebegehren parlamentarische Debatten anstießen. Interkonfessionelle Ehen wurden daraufhin erlaubt, Verwandtenehen wurden neuerdings bis zum zweiten Grad der Blutsverwandtschaft gesetzlich toleriert. In den Petitionen konnte sich zudem ein neuartiges direktes Verhältnis zwischen Staat und Regierten entwickeln, das die opponierenden Intermediären nicht ausblendete, aber zu Objekten aufklärerischer Kritik werden ließ. Ehegegner erschienen in den taktischen Argumentationen der Petitionen als unaufgeklärte Vertreter partikularer Interessen, die dem Streben nach Ruhe und Ordnung im ohnehin instabilen staatlichen Konstrukt zuwiderliefen und den natürlichen Fortschritt aufzuhalten drohten. Dabei ist in der Untersuchung gleichzeitig deutlich geworden, dass Rügerituale und Charivaris am Ende des 18. Jahrhunderts keinesfalls zu existieren aufhörten und in diesen sozioökonomischen Umbruchzeiten vielleicht sogar eine Intensivierung erfuhren. Darüber müsste allerdings eingehender geforscht werden.

Während des helvetischen Intermezzos erprobten die Ehewilligen und die Verwaltung gemeinsam quasi ein neues Verhältnis zwischen Souverän und BürgerIn, das es erlaubte, Dorfaristokraten und Patriarchen zu übergehen und dadurch deren prekarisierenden Einfluss auf die Eheschließungen zu mindern. Darunter konnten sich in den Bittschriften vor allem neuartige Gefühle entfalten und manifestieren, die in den Gerichtsurkunden höchstens in negativer Weise angedeutet worden waren. Vor dem Oberchorgericht hatte voreheliche Liebe keine Ressource ehewilliger Paare dargestellt, sondern eine als Täuschung interpretierte Leidenschaft. Sie wurde, ganz im Gegenteil, von den Opponierenden vor Gericht als Einwand gegen die Eheschließung genutzt, indem sie als instabile und flüchtige Gefühlsregung ausgelegt wurde, die kein Glück aus der begehrten Ehe erwarten ließ und zwangsläufig zu Zerrüttung führen musste. Das Auftreten der Liebe in den vorhelvetischen Gerichtsurkunden deutet ex negativo dennoch auf die Wahrnehmung und Erfahrung dieses Gefühls weit unterhalb des Bürgertums hin. Gegen die abwertende Beurteilung der Liebe in den Gerichtsquellen des Ancien Régimes wurde von den helvetischen Petenten und deren Notare über die Liebe als schicksalhaftes und natürliches Gefühl, das gewissermaßen auf die Ewigkeit angelegt war, beredtes Zeugnis abgelegt. Was natürlich war, konnte in den Augen der Aufklärer dem Gesetz nicht widersprechen. Und so konnte auch die voreheliche Sexualität, die der Liebe in der Logik der Bittschriften natürlich folgte, im Sinne der Naturrechtslehre keinen Ehehinderungsgrund mehr darstellen. Die vorliegende Arbeit zeigte, wie die Petitionierenden in der Folge quasi in einem Akt des Patriotismus intime Gefühle mit dem Staat zu teilen begannen, dabei gleichzeitig an die Gefühle und gütige Vaterliebe der als Bürger angesprochenen Gesetzgeber appellierten und diese im Gegenzug in den allermeisten Fällen zurückerhielten, was gegenseitige Loyalitäten und Verbindlichkeiten schaffen sollte. Es hat sich gezeigt, wie stark die spezifische Art und Wertigkeit der Gefühle und deren Möglichkeiten, sich Ausdruck zu verschaffen, von der historischen Regierungsform abhängig waren. Gleichzeitig hat sich in der Regierung der Gefühle vom Ancien Régime zur Helvetik ein eindeutiger Bruch gezeigt. Während das Oberchorgericht Gefühle tendenziell unterdrückte, kultivierte die helvetische Zentralregierung diese, um in engen Kontakt zu den Subjekten zu treten. Daran zeigt sich auch eine tendenzielle Verschiebung der Art des Paternalismus vom Ancien Régime zur Helvetik: Während die alte Obrigkeit sich nicht nur gütig, sondern durchaus auch hausväterlich streng und disziplinierend zeigen konnte, inszenierten sich die helvetischen Landesväter als familiär und kümmerten sich um die innersten Gefühle der Menschen.

 

Ein weiteres wichtiges Argument der Petitionäre für die Legitimation ihrer Ehebegehren betraf deren Wirtschaftlichkeit. Diese Figur der Ehe als ökonomisches Institut war bereits aus dem Ancien Régime bekannt, erhielt aber während der Helvetik zum Teil im Zusammenhang mit der vermeintlich schneller voranschreitenden Zeit einen neuen, fortschrittsorientierten Akzent. Es musste schnell und ohne Verzögerung geheiratet werden können, damit der wirtschaftliche Fortschritt nicht aufgehalten wurde – so die vom frühneuzeitlichen Selbsthilfe-Argument differenzierte Petitionsrhetorik.

In den Akten des Oberchorgerichts musste die Ehe auch von den TaktikerInnen als Privileg, dessen man sich vor Gericht verdient machen musste, angesehen werden. Die Eheschließung entsprach im ständisch organisierten Bern vor der Helvetischen Republik keiner Gleichheitsforderung. Dabei hatten die AkteurInnen prekarisierter Ehebegehren versucht, sich als gute Menschen zu inszenieren, um sich der Ehe würdig zu erweisen. In der Helvetischen Republik traten die petitionierenden Frauen, Männer und Paare wesentlich selbstbewusster auf und forderten die Ehe insbesondere im Sinne eines neuen Gleichheitsrechts ein, das ihnen zuvor von den aristokratischen Herrschern verwehrt geblieben war. Daneben wurde auch zunehmend in standardisierter Weise auf andere Beispiele der Kanzeldispens und Ehebewilligung verwiesen. Die formale Ehebewilligung wurde hier bereits im Sinne einer Routine oder Tradition eingefordert, was allerdings ebenfalls einem Bruch mit der alten bernischen Privilegienordnung gleichkam. Es handelte sich dabei zwar nicht um eine grundsätzlich neue Form der Gleichheitsforderung. Im Kontext der Eheschließung tauchte sie unter dem Ancien Régime als Taktik in den untersuchten Gerichtsakten gleichwohl nie auf.

Zu einer neuen Form der Gleichbehandlung der Eheschließung kam es dann in der Zeit nach der Helvetik. Allerdings handelte es sich dabei nicht mehr um eine naturrechtliche Gleichbehandlung, sondern um eine verfahrensrechtliche Gleichbehandlung. Das Ende der Helvetischen Republik brachte vorerst eine vermeintliche Rückkehr zum vorhelvetischen Zustand. Doch dieser Eindruck ist trügerisch. Einerseits wurde das Ehegesetz in Bezug auf weltanschauliche Hinderungsgründe in Kontinuität zur Helvetik durch punktuelle Verordnungen entscheidend säkularisiert und liberalisiert. Interkonfessionelle Eheschließungen wurden im Nachgang der Helvetik unter bestimmten Voraussetzungen in Bern weiterhin toleriert. Ehen im vormals verbotenen zweiten Grad der Verwandtschaft wurden nach kurzer Unentschiedenheit grundsätzlich zulässig. Andererseits wurde das alte patriarchale Gesetz, das von den Oberchorrichtern zuvor mit viel Gnade ausgelegt und verwaltet worden war, in Bezug auf die armen Bevölkerungsschichten unter dem Eindruck der aufkommenden bevölkerungspolitischen Diskussion des Pauperismus rigoros und prinzipiengetreu angewendet. Diese kategorische Rechtsanwendung auf die besitzlosen Schichten, die zunehmend auch kriminalisiert wurden, zeitigte verschiedene Effekte. Anhand der Quellensprache konnte gezeigt werden, dass der hartnäckige Eigensinn der ehewilligen AkteurInnen nicht abriss. Und auch die Opponierenden präsentierten weiterhin moralisierende Argumente im Ehegericht. Aber ihren taktischen Manövern waren nun wesentlich engere Grenzen gesetzt.

Während im vorhelvetischen Zeitraum die Mehrheit der Einsprachen und Zugrechtsklagen aus der Verwandtschaft und insbesondere von den Vätern der ehewilligen Akteure stammten (59 %), verschob sich dieses Verhältnis schon gegen das Ende des Ancien Régimes allmählich hin zu einer Mehrzahl von Einwänden von Gemeindevertretern und Korporationen der männlichen Ehewilligen. Im nachhelvetischen Zeitraum kamen dann sogar 81% (59 von 73) aller Einsprachen gegen die Eheschließungen aus den Reihen der Gemeinden und Korporationen der Männer. Diese Entwicklung erschien gepaart mit dem Trend, dass im Vergleich von Ancien Régime und nachhelvetischer Zeit immer weniger Ehehindernisse aus dem sozialen Umfeld der ehewilligen Frauen geltend gemacht wurden. Vor 1798 stammten noch rund 34% (21 von 61) aller Einsprachen aus dem Umfeld der Frauen. Nach dem helvetischen Intermezzo entstammten gerade noch 10% (7) der Einsprachen dem sozialen Hintergrund der Frauen.

Die quantitativen Entwicklungen fanden ihren Niederschlag auch in den von den Opponierenden vorgebrachten juristischen Hinderungsgründen. Vor der Helvetik war der patriarchale Hinderungsgrund der Minderjährigkeit das am häufigsten geltend gemachte rechtliche Argument, um eine Eheschließung einer Angehörigen oder eines Angehörigen zu prekarisieren. 44% (27) aller Einsprachen erfolgten aufgrund der Minderjährigkeit des Zöglings. Diese Zahl korrelierte mit der gestiegenen Zahl an Einsprachen aus dem familiären Umfeld, dem es vor allem um standesgemäße Eheschließungen ging, die die Familienehre nicht mindern und neue Ressourcen erschließen sollten. In Bezug auf das Ehrkapital einer Familie spielten nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen eine wesentliche Rolle. Ihnen kam bei der Erweiterung des Familiennetzwerks und beim Zugewinn neuer Ressourcen eine große Bedeutung zu. Nach der Helvetik war der am meisten angebrachte Hinderungsgrund die Besteuerung, das heißt die Abhängigkeit von kommunaler oder korporativer Fürsorgeleistungen der männlichen Partei. In 60% (44 von 73) der Fälle waren vermeintlich nicht zurückbezahlte Unterstützungsleistungen an die Gemeinde oder Korporation die rechtliche Grundlage der Opponierenden, um Einsprache gegen eine Eheschließung ihrer männlichen Angehörigen zu erheben. So lässt sich diese doppelte Verschiebung bezüglich Geschlecht und von patriarchalen hin zu ökonomisch akzentuierten Einsprachegründen tendenziell als Anzeichen des Übergangs von einer frühneuzeitlichen Ehrgesellschaft hin zu einer zunehmend ökonomisierten Erwerbsgesellschaft im 19. Jahrhundert deuten, in der die Bedeutung familiärer Ehre auf Kosten materieller Werte wie Besitz und Vermögen abnahm.