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Prekäre Eheschließungen

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2.3.3 Emotionslose Urkunden

In Anbetracht der Abnahme der Spielräume für die Taktiken der nach wie vor eigensinnigen AkteurInnen konnte beobachtet werden, dass die Gemeinden und Korporationen nach der Helvetik nach wie vor mit moralisierendem Impetus auftraten. Ihre Darstellungen der mittellosen Männer und sittlich-sexuell verwahrlosten Frauen, um das stereotypisierte Bild der Quelle im Rahmen der Massenarmut selbst zu verwenden, widersprachen dabei den Einschätzungen der Richter nicht unbedingt. Dies hat sich anhand der von den Obereherichtern gezeichneten Sittenbilder in ihren Berichten an die Räte gezeigt. Deswegen fanden die moralisierenden Äußerungen der Gemeinden und Korporationen Aufnahme in die Quellen. Dennoch agierten die Richter in den konkreten Verhandlungen aber zunehmend nach gesetzlich-bürokratischen Grundsätzen, die lediglich ökonomische Beweismittel als Verhandlungsressourcen erlaubten. Aus der mehr oder weniger fluiden moralischen Ökonomie war eine starre ökonomische Moral geworden. Das verknappte den taktischen Spielraum der Gemeinden und Korporationen, vor allem aber der prekarisierten Paare im Ringen um die Eheschließung. Ökonomische Werte waren mess- und bis auf die Kommastelle bezifferbar und daher taktisch schwer zu umgehen. Was geschah in diesem Kontext mit den Gefühlen der AkteurInnen und den Einschätzungen ihrer Opponenten in den Gerichtsurkunden? Zwar lassen Beispiele wie das von Johannes Grunder und Anna Schneider aufgrund ihrer Beharrlichkeit auf abstrakter Ebene durchaus vermuten, dass diese Verlobten mit ihrer Verehelichung nach wie vor intensive emotionale Hoffnungen und Erwartungen verbanden. Auch das von der Gesellschaft zum Distelzwang prekarisierte Ehebegehren des besteuerten unehelichen, aber vom Vater in die Gesellschaft eingekauften, Ludwig Victor von Goumoëns und der standesungleichen Catharina Junker lässt bei sorgfältiger Lektüre der Urteilsurkunde zwischen den Zeilen starke emotionale Verbundenheit unter den Brautleuten erkennen. Die Verlobten, die sich bereits seit vier Jahren kannten und auch schon gemeinsam Eltern waren, brachten vor, dass „[m]aterielle Güter […] schön und als Mittel zu höhern Zweken auch sehr wünschbar [wären]“.1 „Da diese aber fehl[t]en“, lobte der Bräutigam jedoch unter anderem auch den „sanften und guten Charakter“ der Braut.2

Als Historiker*in ist man versucht, diese Beispiele in die Nähe von Liebesvorstellungen zu bringen. Doch „tiefe Wurzel[n]“, wie in den Petitionen, konnte die Liebe im hier untersuchten Quellenmaterial nicht mehr schlagen.3 Sprachlich explizit greifbar verschwanden Gefühle von Glück, Liebe und Zuneigung nämlich beinahe gänzlich aus dem hier untersuchten Quellenmaterial. Aus verwaltungshistorischer Perspektive wurde jüngst darauf aufmerksam gemacht, dass sich trotz der Beständigkeit grundlegender psychologischer Dispositionen der Menschen der sprachliche Umgang mit Gefühlen und ihre Mitteilbarkeit in administrativen Kontexten laufend veränderten.4 Ein möglicher Ausdruck solcher Veränderungen konnte auch das sprachliche Verschwinden oder die Unterdrückung von Gefühlen sein. Somit lässt die sprachliche Abwesenheit der Gefühle in den gerichtlich produzierten Quellen darauf schließen, dass sie im hier untersuchten hierarchisch-administrativen Zusammenhang als Ressourcen und Mittel sowohl zur Durchsetzung als auch zur Behinderung prekärer Eheschließungen vollkommen irrelevant (gemacht) wurden. Im Ancien Régime hatten Emotionen von Liebe und Zuneigung in den Rekursmanualen immerhin negative Erwähnung gefunden. Sie wurden vom Gericht wahrgenommen und beurkundet, auch wenn sie als unbeständige Leidenschaften, die die gesellschaftliche Stabilität gefährdeten, akzentuiert worden waren und die Urteile negativ beeinflusst hatten. Das verdeutlicht, dass Gefühle in den Verhandlungen ein Thema waren und von den Opponierenden bekämpft wurden. Im nachhelvetischen Zeitraum filterte offensichtlich der Gerichtsschreiber die Gefühle beinahe vollständig aus den Urkunden – wenn davon ausgegangen wird, dass die generelle Fähigkeit zu fühlen eine anthropologische Konstante darstellt.5

Die nachhelvetischen Urkunden stehen somit in schroffem Gegensatz zu den zum Teil gefühlsschwangeren Petitionen ehewilliger AkteurInnen in der Helvetik und zeigen, wie Gefühle unter dem neuen alten Gericht verwaltet wurden.6 Der Grund für diese Art der Verwaltung der Gefühle lässt sich in einem Fall finden, der aufgrund der expliziten sprachlichen Erwähnung von Gefühlen einen Zugang zu der Frage erlaubt. Es handelte sich dabei um die Gerichtsverhandlung zwischen den Verlobten Daniel Wüthrich und Christina Fuchser mit der Gemeinde Eggiwyl am 7. September 1807. In einem vorausgegangenen Gerichtstermin hatten die Obereherichter der Gemeinde den Einspruch wegen Besteuerung des Mannes bereits am 31. August 1807 gewährt. Damals hatte sich Wüthrich allerdings nicht verteidigen können. Er war nämlich, wie er mit medizinischem Attest bescheinigen konnte, krank gewesen. Darum beschwerte sich der Ehewillige nachträglich gegen das gefällte Urteil. Er formulierte „seinen dringenden Wunsch“, Fuchser heiraten zu dürfen, indem er beteuerte, dass er nicht besteuert wäre. Sie beide würden „sich mit Handarbeit […] ernähren[,] ohne der Gemeinde im geringsten zur Last zu fallen“.7 Bezeichnenderweise erfährt man anhand der dokumentierten Argumente der Ehewilligen nichts über ihr gegenseitiges Gefühlsleben. Lediglich der gerichtliche Umgang damit in der Begründung des einstimmig abschlägigen Urteils der Richter ist diesbezüglich aufschlussreich:

„Wenn Wir nach unsern Empfindungen und nicht in der Stellung als Richter über diese Frage abzusprechen hätten, so würden Wir die Ehe zwischen diesen Leuten, die eine große Zuneigung zu einander haben, […] sehr gerne zugeben. […] Allein da der buchstäbliche Innhalt der Geseze unsere Vorschrift ist, welche Wir uns jederzeit und mithin auch bey Ausfällung unsrer mehr angezogenen Erkanntnis zur Richtschnur haben dienen laßen, dieselbe dann so viel an Uns, längstens in Kraft erwachsen ist; so haben Wir zu Recht gesprochen und erkennt: Es könne diese Urtheil von Uns nicht mehr aufgehoben und abgeändert werden, mithin solle es bey derselben sein Verbleiben haben.“8

Offensichtlich konnten die Verlobten die Richter durchaus davon überzeugen, dass zwischen ihnen starke Gefühle der liebevollen Zuneigung vorhanden waren. Emotionen gehörten jedoch in der Urteilslogik der Richter eindeutig in den privaten Bereich. Obwohl die Richter mit der zitierten Aussage ihre Empathie für das Liebespaar als Privatpersonen zum Ausdruck brachten, machten sie gleichzeitig deutlich, dass die vom Brautpaar empfundene emotionale Zuneigung keinen Einfluss auf die Beurteilung des Falls haben konnte. Die Gesetze konnten keine Rücksicht auf die Liebe nehmen. Mit dieser expliziten Gegenüberstellung von nachempfundener Zuneigung und formaljuristisch nüchternem Urteilsspruch wiesen sich die Richter nur noch deutlicher als rationale, gesetztestreue und emotional abstinente Verwalter der Ehe aus.9 Die ständische Gnade der Landesväter sowie die intime väterlich-gerechte Fürsorge waren aus den Gerichtsurkunden gewichen. Sie zeugen damit von der Genese einer Eheverwaltung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die emotionale Äußerungen in Zusammenhang mit prekären Eheschließungen beinahe komplett ausblendete und somit im krassen Widerspruch zum Liebeskult in der romantischen Literatur zur gleichen Zeit stand.10 Die Gerichtsschreiber machten kaum noch Notiz von den Gefühlen, weil diese für die juristische Beurteilung keine Bedeutung mehr besaßen.11

Das Berner Oberehegericht, dem potenziell Mitglieder jener für das 19. Jahrhundert viel beschworenen stilbildenden bürgerlichen Schicht vorstanden,12 war gegenüber den in steigender Zahl mittellosen AkteurInnen in zunehmendem Maße – je nach Standpunkt – ein gnadenloser beziehungsweise willkürfreier Ort bürokratischer Gesetzestreue und emotionsloser ökonomischer Rationalität geworden. Damit waren die hier analysierten Gerichte Institutionen, die zu jener Schmälerung der „Bandbreite und Intensität gesellschaftlich legitimer Affekte“ beitrugen, die stilbildend für die bürgerliche Moderne war.13 Es machte für die Prekarier ganz offensichtlich keinen Unterschied, ob und wie die Berner Richter ihre eigenen Frauen zuhause lieben und Gefühle nach literarischen Vorbildern in Tagebüchern reflektieren und verarbeiten mochten.14 Als Privatpersonen mochten letztere gegenüber den prekarisierten Paaren vielleicht deshalb ab und an Sympathien empfinden. In den Verhandlungen und Gerichtsprotokollen zeigten sie sich gegenüber den Ehewilligen in ihrer Funktion als Richter jedoch bewusst als emotionslose Vollstrecker der festgeschriebenen Ehegesetze, die ökonomischen Beweismitteln folgten. Dadurch fungierten sie in idealtypischer Weise als bürgerliche Subjekte.15 Die Richter hatten in der Selbstwahrnehmung ihrer Funktion keinen Sinn für Emotionen, sondern ausschließlich für sachliche Belege materieller Verhältnisse. Aufgrund des Ausgeführten wird in der Verwaltungsforschung zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Unterscheidung zwischen der juristisch-bürokratischen Regulation der Gefühle und den Emotionen der Verwalter selbst gemacht werden muss. Gleichzeitig zeigt sich am ausgeführten Beispiel, dass die Regierung der Gefühle der ehewilligen AkteurInnen Hand in Hand ging mit der emotionalen Selbstregulierung der Richter. Um im zeitgenössischen Verständnis gute Bürokraten sein und die Ehe juristisch korrekt verwalten zu können, mussten die Richter ihre eigenen Gefühlsregungen der Selbstdisziplin und Affektkontrolle unterwerfen. Damit entsprachen sie dem Idealtypus des modernen Beamten.16 Die legitime romantische Liebe rückte dadurch im zuständigen Ehegericht in Bern im Zeitraum nach der Helvetik wieder weg von einem allgemeinen Menschenrecht in die Nähe eines privaten Privilegs mit Zugangsbeschränkungen. Ihr ehelicher Zensus waren die Nichtbesteuerung des ehewilligen Manns und die Einzugsgelder für die Braut. Folglich urteilte das Gericht in Bezug auf die Liebe ganz nach dem Grundsatz, dass sich „bei […] Mittellosigkeit weder eine glükliche noch dauernde Ehe hoffen lasse“.17 Die Behauptung, die Liebe hätte sich in Bern in der ersten Hälfte des sogenannten ’bürgerlichen 19. Jahrhunderts‘ als universeller, also schichtübergreifender „Kommunikationscode“ etabliert, „nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken“ sollte beziehungsweise musste, ist in Anbetracht der hier untersuchten Ehebegehren vor Gericht nicht zulässig.18 In Bern verhinderte gerade das Oberehegericht beziehungsweise das Amtsgericht das Zusammenfallen von Liebe und Eheschließung in der von Luhmann besagten Einheit von Form und Materie aktiv. Mit ihrer ökonomistischen Zentrierung und der bürokratischen Gesetzes- und Verfahrenstreue machten die Richter die Emotionen in den untersuchten Fällen prekärer Eheschließungen als Ressource irrelevant. Die Liebe wurde in keiner Art und Weise zur universellen Grundlage der Ehe, sondern zu einem besitzständischen Vorrecht.19

 

3 Strategien: Die ehepolitische Urteilspraxis der Richter im Umgang mit prekären Eheschließungen im nachhelvetischen Zeitraum

Zur Erklärung der Verengung des taktischen Spielraums der AkteurInnen mussten in diesem Teil der Arbeit bereits einige gerichtliche Entwicklungen vorweggenommen werden, die in den beiden vorausgehenden Teilen im jeweiligen Unterkapitel über die gerichtlichen Strategien zur Normierung der Eheschließung thematisiert wurden. Dennoch soll hier der Systematik wegen auf die Gerichtsorganisation und zwecks Vergleich mit den anderen Untersuchungszeiträumen vor allem auf Urteilstendenzen bezüglich der sich zuspitzenden einstimmigen Urteile gegen die prekarisierten Eheschließungen eingegangen werden.

3.1 Gerichtsorganisation: Vom Oberehegericht zum Amtsgericht

Nachdem die Ehegerichte zu Beginn der nachhelvetischen Zeit wieder eingesetzt worden waren, änderte sich an ihrer Besetzung und der Organisation bis zur Verfassungsrevision von 1830/31 vorerst nichts Grundlegendes. Sie waren wie vor der Helvetik mit zwei Pfarrern aus den deutschsprachigen Kirchen von Bern besetzt, vier weiteren Assessoren, die aus dem Großen Rat gewählt waren sowie einem Präsidenten, der vom Kleinen Rat bestimmt wurde. Alle Assessoren waren auf zwei Jahre gewählt, wobei nach einem Jahr die Hälfte der Gerichtsbeisitzer ausgewechselt wurde. Ausgeschiedene Assessoren konnten allerdings bereits nach einem Jahr wieder in das Amt gewählt werden. Der Präsident war ebenfalls wie gehabt auf ein Jahr gewählt und danach der Stellvertreter des neuen Gerichtsvorsitzenden.1 Neu war nach 1803, dass die Rekurse nun nicht mehr von den Räten beurteilt wurden, sondern von einem Appellationsgericht, das allerdings ebenfalls von Ratsmitgliedern besetzt war.

Erst nach den liberalen Umwälzungen 1830/31 kam es im Rahmen einer konsequenten Gewaltentrennung zu mehr oder weniger umfassenden Veränderungen im Berner Gerichtswesen: An die Stelle der lokalen Chorgerichte traten neuerdings sogenannte ‚Sittengerichte‘, denen nach wie vor die Gemeindepfarrer beisaßen. Die Aufgabe dieser Gerichte bestand nun aber lediglich in der Bewahrung des Friedens in bestehenden Ehen und dem Anzeigen von außerehelichen Schwangerschaften beim Amtsgericht. Ihre Kompetenzen waren nur noch friedensrichterlicher Art. Die Sittenrichter konnten Ermahnungen an die fehlbaren Eheleute aussprechen und streitende Ehepaare zur Aussöhnung auffordern. Sie konnten aber keine gesetzlichen Sanktionen mehr verhängen.2 Das mit zwei Geistlichen besetzte Oberehegericht wurde aufgelöst. Für die formelle Rechtsprechung in Ehesachen wurden nun die säkularen Amtsgerichte zuständig. Rekurse übernahm das kantonale Obergericht an Stelle des Appellationsgerichts. Der gewählte Gerichtspräsident des Amtsgerichts sollte jetzt, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, ein „rechtskundiger Mann“ sein.3 Er durfte aber aufgrund der Gewaltenteilung während seiner Amtszeit weder den Beruf eines Advokaten, Rechtsagenten oder Notars ausüben noch Arzt oder Wirt sein.4 Das restliche, aus vier Mitgliedern und den zwei Suppleanten bestehende, Gericht durfte nach wie vor mit juristischen Laienpersonen besetzt werden. Geistliches Personal war hingegen nicht mehr explizit vorgesehen. Diese gerichtsorganisatorischen Veränderungen blieben in Bezug auf die Urteilspraxis im Feld der Ehegerichtsbarkeit ohne größere Folgen, wobei auf die Veränderungen in der Quellenproduktion schon eingegangen wurde. Auf kleinere Verschiebungen in Bezug auf die Dokumentation der Stimmverhältnisse wird weiter unten eingegangen. Die bedeutende Veränderung bezüglich der Ehe- beziehungsweise eben der Zivilgerichtsbarkeit kam in Bern erst mit der revidierten Bundesverfassung von 1874, die die Ehe als ein persönliches Freiheitsrecht festschrieb und die ehegesetzlichen Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen neu regelte. Bis 1865 wurde zumindest vom Amtsgericht Bern außerdem ein Konsistorialmanual geführt, worin lediglich Angelegenheiten in Zusammenhang mit dem Ehegesetz protokolliert wurden.5 Dieser Umstand verweist darauf, welche hohe juristische Aufmerksamkeit man in Bern der Ehe nach wie vor zukommen ließ, obwohl sie seit 1831 von einem säkularen Gericht behandelt wurde. Das Bundesgesetz vom 24. Dezember 1874 führte dann die obligatorische Zivilehe in allen Kantonen ein und verteilte damit die gerichtlichen Kompetenzen im Feld der Eheschließung neu.6 Diese Entwicklungen sind allerdings nicht mehr Gegenstand dieser Untersuchung.

3.2 Zunehmende Einstimmigkeit und einheitliche Gerichtslogik

In der Untersuchung zu den Urteilen prekärer Eheschließungen durch das Oberchorgericht unter dem Ancien Régime konnte noch festgestellt werden, dass die Minderheit der Fälle konsensual beurteilt worden war. In lediglich rund 38% der Fälle waren sich die Richter über die Beurteilung einig gewesen. Dieses Bild verkehrte sich nun in der Zeit nach 1803 bis 1847 in sein Gegenteil: Nur in 15 der für diesen Zeitraum untersuchten Urteilen widersprachen sich die Meinungen der Eherichter beziehungsweise Amtsrichter und folgten letztlich einem Mehrheitsentscheid. Dies entsprach knapp 21% der gesamthaft 73 analysierten nachhelvetischen Urteile. Dabei fiel keine der von den Protokollen als ambivalent ausgewiesenen Verhandlungen, das heißt im Plenum der Richter uneinig beurteilten Fälle, in den Zeitraum nach 1831. 29 Richtersprüche wurden explizit ‚einhellig‘ gefasst. In 28 Fällen machte der Gerichtsschreiber gar keine Anstalten mehr, Angaben zur Ein- oder Mehrstimmigkeit unter den Richtern auszuweisen. Dadurch erschien das Urteil einstimmig, nota bene ungeachtet der Frage, ob es das war oder nicht. Präzisierend muss hier angeführt werden, dass in den Konsistorialmanualen des Amtsgerichts alle Urteile entweder einstimmig gefällt wurden oder differenzierende Angaben zum Urteil fehlten. Gerade die im Vergleich zum Ancien Régime hohe Zahl fehlender Angaben zu den Stimmverhältnissen im Gericht und die Abnahme polyphoner Richtersprüche, das heißt multinormativ beurteilter Fälle, werden hier als starke Indizien für jene monolithische und expansive Vision des zunehmend anonymen, unpersönlichen Staates gelesen, der verstärkt Macht monopolisierte.1 Die ehegerichtlichen Behörden präsentierten diesen in Bezug auf seine Ehepolitik zunehmend einheitlich und widerspruchsfrei. Die Multinormativität wich nicht nur in den Taktiken zunehmender Monotonie, sondern auch systematisch in den Urteilssprüchen der Richter und den protokollarischen Aufzeichnungen der Stimmverhältnisse. Wenn man nun alle quasi monotonen Urteile zusammennimmt, also die einstimmigen Urteile mit denjenigen ohne Angaben zu den richterlichen Stimmverhältnissen addiert, kommt man von insgesamt 73 Fällen auf 57, in denen unter den Richtern entweder keine Multinormativität existierte oder die Urkunde es verunmöglicht, diese zu vernehmen. Somit stehen laut den Urkunden 78% monoton beurteilten beziehungsweise ausgewiesenen Verhandlungen nach 1803 62% mehrstimmig gefällte Urteile aus den mehr als 50 Jahren vor der Helvetischen Republik gegenüber. Auf die Ursachen dafür wurde teilweise bereits in den vorausgegangenen Erörterungen hingewiesen: Unter dem Ancien Régime konkurrierten im Oberehegericht in Anbetracht des bevölkerungspolitischen Kontextes unterschiedliche Urteilslogiken miteinander um die Bestimmungshoheit des Wesens der Eheschließung. Der Bezug auf patriarchale Ehegesetze stellte bei der Legitimation der Urteile lediglich eine Option unter anderen dar und wurde vielfach von bevölkerungspolitischen Erwägungen, die die Eheschließung zu demokratisieren wünschten, überstimmt. Das Prinzip der Gnade ließ diese Abweichung vom Gesetz zu. Jetzt spielten diese konkurrierenden Logiken von patriarchalen Rechten, die die Beschränkung der Eheschließungen zum Zweck hatten, und populationistischen Argumenten, die die Eheschließung in der Tendenz zu einem menschlichen Freiheitsrecht erkoren, im Gericht praktisch keine Rolle mehr. Die ehegesetzlich kompetenten Richter urteilten „nach Vorschrift der Satzung“.2 Diese Satzung – das zeigt die Verschärfung des Armengesetzes von 1808 – schloss mittellose Menschen in zunehmendem Maße konsequent von der Institution der Ehe aus. Dass dem so war, sprachen die Richter 1827 explizit und unverhohlen aus:

„Die Absicht der Geseze über die Verhältniße der Armen sey von jeher auf Behinderung ihrer Ehen gerichtet gewesen, als welche in der Regel so wohl für die Eheleute selbst, als für die Kinder, für die Gemeinden und den ganzen Staat von höchst nachtheiligen Folgen jeder Art begleitet seyen.“3

Gleichzeitig war „der buchstäbliche Innhalt der Geseze“ jetzt tendenziell die einzige „Vorschrift“ und „Richtschnur“, die das Gericht noch anerkannte.4 Der Rückbezug auf die Gnade fiel für die Richter nach den Erschütterungen der geburtsständischen Gesellschaftsordnung durch die Helvetische Revolution weg und begünstigte die verfahrensrechtliche Formalisierung der Urteile. Während die gnädigen Oberchorrichter zwischen 1742 und 1798 die sture Orientierung am „dürren Buchstaben der Satzung“ zum Teil noch scharf kritisierten und Opponierenden vorgeworfen hatten, sich mit ihm „zu schirmen“,5 wurde die konsequente Anwendung des Gesetzes von den Eherichtern im nachhelvetischen Zeitraum nachgerade zur exklusiven Handlungsmaxime erklärt. In ihren Augen war der Gesetzestext nun die einzige legitime Grundlage für ihre Rechtsprechung in Ehesachen. Richterliches Ermessen, das zum einen milde Gnade, zum anderen aber auch drakonische disziplinarische Strenge zuließ, mutierte dadurch im nachhelvetischen Zeitraum zu Willkür.6

In den 15 Fällen, in denen sich die Richter in ihrem Urteil uneinig waren, entzündete sich die Debatte unter ihnen auch nicht an widersprüchlichen bevölkerungspolitischen Anschauungen, sondern an der Frage, wie die vom betroffenen Mann erhaltenen Unterstützungsleistungen auf der Grundlage des Ehegesetzes, des Armengesetzes und später der Zivilgesetzgebung zu bewerten waren. Die Diskussionen im Gericht betrafen juristische Fragen der Gesetzesauslegung und nicht bevölkerungspolitische Weltanschauungen, die im Gericht miteinander um Deutungshoheit rangen. Die zuständigen Richter verhandelten jetzt die Fragen, ob es sich um „wirkliche[n] Genuss des Almosens, oder […] regelmäßige Besteurung [sic]“ handelte, ob die erhaltenen Unterstützungsleistungen genügend bewiesen oder „auf keine Weise bescheinigt war[en]“.7 Zu welchem Zeitpunkt war die Besteuerung, das heißt die finanzielle Unterstützung durch die Gemeinde oder Korporation, angefallen? War sie aufgrund des Entstehungszeitpunktes als Unterstützung an die Eltern des Ehewilligen zu bewerten und konnte diesem daher gar nicht zur Last gelegt werden?

„[W]eil überhaupt das natürliche und gesezliche Recht zur Ehe nicht zu erschweren, sondern in zweifelhaftem Falle immer möglichst zu begünstigen, auf freyer moralischer Wille mehr als anderes Intereße zu berüksichtigen sey“,

urteilte das Gericht, wo die Hinderungsgründe der Opponierenden nicht genügend bewiesen wurden, nach eigener Einschätzung zwar in dubio pro reo zugunsten der Ehewilligen.8 Die Beschränkungen der Eheschließungsrechte besteuerter Männer wurden also durchaus „als Einschränkungen der natürlichen Freyheit“ interpretiert, die „niemals ausdehnend angewendet werden soll[t]en“.9 Allerdings war es selten der Fall, dass die finanziellen Hinderungsgründe in den Augen der Richter unzureichend bewiesen werden konnten und deswegen die Einschränkung der ‚natürlichen Freiheit‘ im jeweils konkreten Fall ungerechtfertigt erschienen wäre. Während unter dem Oberchorgericht im Ancien Régime eine Mehrheit (59% von 61 Fällen) der prekären Eheschließungen bewilligt wurde, kehrten sich die Verhältnisse im Zeitraum zwischen 1803 und 1847 exakt um. Nun wurde in 59% der Fälle (43 von 73) gegen die begehrte Eheschließung geurteilt. Das zuständige Gericht schlug sich also im nachhelvetischen Zeitraum mit seinen Urteilen tendenziell auf die Seite der Gemeinden, Korporationen und Familien, deren geteiltes Interesse in der Zurückdrängung der Armut lag.

 

In Bezug auf die Bezahlung der Gerichts- und Verfahrenskosten kam es im Verhältnis zum Ancien Régime lediglich zu geringfügigen Veränderungen. In 61 der 73 Fälle geben die Urteilsurkunden Auskunft darüber, wie mit den entstandenen Kosten verfahren wurde. Neun Mal, das heißt in 14% der kostentechnisch transparenten 61 Fälle, mussten die Ehewilligen für die Verhandlung bezahlen. Im Sample zum Ancien Régime waren es nur rund 10% der Ehewilligen, die für die Verfahrenskosten aufkommen mussten. Aufgrund der kleinen Fallzahl ist das aber kein signifikanter Unterschied und bedürfte für stichhaltige Aussagen weiterer Nachforschungen. Dagegen mussten im nachhelvetischen Untersuchungszeitraum 44 Mal die Opponierenden für die angelaufenen Kosten aufkommen (71% von 61 Fällen). Im Vergleich zum Ancien Régime (30 von 51 Fällen; 59%) waren das nicht nur absolut, sondern sogar proportional mehr Fälle. Diese Verschiebung dürfte unter anderem mit der konsequenten Anwendung der Satzung 72 des 1825 erlassenen Zivilgesetzbuchs in Zusammenhang gestanden haben. In diesem Gesetz wurde das bereits unter dem Ancien Régime angewandte Gewohnheitsrecht festgeschrieben, das besagte, dass die durch den Einspruch entstandenen Kosten durch die Opponierenden übernommen werden mussten.10 Was allerdings auffällt, ist, dass das Gericht in keinem einzigen Fall mehr explizit zugunsten der Ehebewilligung gänzlich auf die Einnahme der entstandenen Kosten verzichtete, was in der Quellenauswahl zum Ancien Régime neun Mal der Fall gewesen war. Die Richter waren nicht mehr bereit, die Eheschließung kostentechnisch aktiv zu unterstützen und dafür seitens des Gerichts auf Einnahmen zu verzichten. Auf Geld verzichtete das Gericht nur noch in vier Fällen verwandtschaftlicher Einsprachen. Dabei wurde diesen von den Richtern „mit Fleiß nicht gedacht“, um die in den Verhandlungen zu Tage getretenen familiären Streitigkeiten nicht zusätzlich zu befeuern.11 In vier weiteren Fällen wurden die Kosten zwischen Opponierenden und Ehewilligen geteilt, weil die Richter ein Urteil sprechen mussten, ihrer Ansicht nach aber die Rechtslage nicht eindeutig war.12

Alles in allem lässt sich in Bezug auf die hier analysierten prekären Eheschließungen in Bern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Liberalisierung im gerichtlichen Umgang mit diesen feststellen. Zwar folgten die Urteile der zuständigen Richter zunehmend vereinheitlichten richterlichen Entscheidungsprozessen und damit einer Tendenz, die von der Kriminalitätsgeschichte im Allgemeinen beobachtet worden ist.13 Das Feld der Moral wurde in den Gerichtsurkunden den Gemeinden und Korporationen überlassen. Die Richter selbst bedienten sich in ihren Urteilssprüchen in der Selbstinszenierung des Protokolls säkularen gesetzlichen Prinzipien. Diese praktische Entwicklung schließt an die Säkularisierung des Ehegesetzes in Bezug auf gemischtkonfessionelle Ehen und Cousinenehen an. Daran lässt sich auch für Bern nach 1803 in der Ehegerichtspraxis eine allmähliche Eingliederung der Eheschließung „in das Gesamtsystem der bürgerlichen Rechtsordnung“ erkennen, das in zunehmendem Maße nach Grundsätzen „der Staatsraison und öffentlichen Nützlichkeit“ aufgebaut war.14 Nach 1803 war diese Nützlichkeit bis mindestens zur Jahrhundertmitte in Bern allerdings maßgeblich auf die Armutsbekämpfung und nicht mehr auf die Bevölkerungsvermehrung ausgerichtet. Dieses System gehorchte im Bereich der Eheschließung in der Folge gnadenlos interpretierten ökonomischen Gesichtspunkten, denen nun stets mit schriftlichen Beweismitteln Genüge geleistet werden musste. Dem juristisch korrekten Verfahren und dessen exakter Befolgung durch alle am Prozess beteiligten Parteien – der „Verfahrensgerechtigkeit“ – kam wesentlich größere Bedeutung zu als noch unter dem Ancien Régime.15 Neben der starken Fokussierung des Gerichts auf die ökonomischen Verhältnisse der Ehewilligen, reduzierte auch diese „Verallgemeinerung und […] Expansion der technokratischen Rationalität“ die taktisch nutzbaren Handlungsspielräume der prekarisierten Ehewilligen.16 In der Konsequenz bedeutete diese durchaus im Sinne des politischen Liberalismus zu verstehende quasi rechtsstaatliche Prinzipientreue keinen Vorteil für die ehewilligen AkteurInnen, die ihren prekarisierten ehelichen Eigensinn in zunehmendem Ausmaß gegen Gemeinden und Korporationen statt gegen die väterlich-verwandtschaftliche Gewalt durchsetzen mussten. Von der viel beschworenen „freiheitssichernde[n] Funktion des Rechts“, die vom politischen Liberalismus ausgegangen sein soll, war zumindest für die prekarisierten Ehewilligen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im zuständigen Ehegericht in Bern wenig zu spüren.17 Dass das Vordringen formaljuristischer Prinzipien einen Nachteil für die prekarisierten ehewilligen AkteurInnen in Bern und einen Vorteil für die einsprechenden Gemeinden darstellte, belegt die Veränderung des Verhältnisses der durch das Gericht begünstigten zu den abgelehnten Eheschließungen. Die Urteilsrelationen verkehrten sich im Vergleich zu der untersuchten Zeit des ausgehenden Ancien Régimes, und bedeuteten für die Ehewilligen gerade weniger „Milde und Menschlichkeit“ in der Zeit nach der Helvetik.18 Die Verrechtlichung eines zunehmend bürgerlich-liberalen Systems des Besitzstands, das die Richter im zuständigen Ehegericht verwalteten, ließ insbesondere den subalternen TaktikerInnen in Bern, die in Anbetracht der Agrarkrise am stärksten unter Arbeitsmangel und Ressourcenknappheit litten, weitaus weniger Spielraum als das zwischen bevölkerungspolitischem Paternalismus und patriarchaler Familien- und Ehepolitik changierende gnädige Oberchorgericht des Ancien Régimes.19 Das Fazit lautet also: Die liberale „Konjunktur“ lieferte den AkteurInnen prekärer Ehebegehren unter den hier analysierten Zeitabschnitten zumindest im Gericht vergleichsweise weniger günstige Gelegenheiten, um in den „organisierten Raum“ der Eheschließung einzudringen beziehungsweise sich die Ehe anzueignen.20 So stellt sich hier die Frage, welche neuen, vielleicht außerehelichen Wege sich der taktische Eigensinn im 19. Jahrhundert am Ehegericht vorbei bahnte, um zu den Vorzügen eines Familienlebens und solidarischer Partnerschaft zu kommen. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass die taktischen Versuche von AkteurInnen, die sich eine Verbesserung der Lebensumstände durch ein Zusammenleben erhofften, einfach verschwanden. Doch die zuständige ehegerichtliche Instanz war nicht mehr das erfolgversprechende Forum und deshalb der Gang vor das entsprechende Gericht ein taktisch ungünstiger Weg.