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Prekäre Eheschließungen

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Die Gemeinden waren nach dem kurzen aber nachhaltig wirksamen helvetischen Intermezzo an die ihnen scheinbar unbekannte universalistische Rechtsprechung und Systematik des Ehegerichts selbst noch nicht gewohnt und von der Beweislast zum Teil wohl überfordert oder überrumpelt. Dies lässt sich nicht nur am eben ausgeführten Beispiel aufzeigen. Der Fall der Witwe Barbara Zuber, geborene Schneider, von Affoltern im Emmental und des Johannes Zweyacher von Jegenstorf aus dem Jahr 1806 dokumentiert ebenfalls, dass sich die einsetzbaren Ressourcen, verwendbaren Kapitalsorten und die Möglichkeiten der multinormativen Taktik in Anbetracht der systematischen Rechtsanwendung nicht nur für Ehewillige drastisch verengten. Auch die opponierenden Parteien waren zum Nachweis ihrer Vorwürfe gezwungen, wenn sie vor Gericht erfolgreich sein wollten. Damit erhielten auch ihre vielfältigen Taktiken weniger Verhandlungsspielraum gegenüber dem Oberehegericht, das auf diese Weise in zunehmenden Maße Macht monopolisierte.25 Im konkreten Fall musste ein Vertreter der Gemeinde Jegenstorf auf das hartnäckige Ansuchen der Witwe Zuber hin „nochmals [vor Gericht] erscheinen“.26 Offenbar hatte es im Vorfeld dieses Gerichtstermins bereits Verhandlungen vor dem Oberehegericht gegeben, die zunächst zu Ungunsten der Brautleute ausgefallen waren. Der Gemeindevertreter konnte in der neuerlichen Verhandlung der Eheangelegenheit jedoch kein rechtsgültiges Beweismaterial vorlegen. Er besaß lediglich ein schriftliches Bekenntnis des bei der Verhandlung abwesenden Verlobten über die Besteuerung seines Vaters und seiner Geschwister. Der Abgeordnete der Gemeinde „blieb über dieß bey der Behauptung, daß er [der Verlobte, AH] Mangels an einem Beruf, unfähig sey, sich selbst durch zu bringen.“27 Den Richtern reichte weder das vermeintliche Bekenntnis noch die Behauptung aus, um dem Begehren der Gemeinde folgen zu können. Sie entschieden daher ebenso „einmüthig“ und gnadenlos wie im zuvor beschriebenen Fall, diesmal jedoch gegen die Gemeinde und zu Gunsten der Ehebegehrenden.28

Die Quellen zeigen aber auch, dass die Gemeinden und Korporationen schnell dazulernten. Sie „legten“ immer konsequenter „Zeugniße ins Recht“.29 In der Folge drehten sich die allermeisten Verhandlungen im Oberehegericht ausschließlich um die Frage: Wieviel und wofür hatte der jeweilige Mann Unterstützungsleistungen von der Gemeinde oder der Korporation erhalten? Waren die erhaltenen Leistungen als Armensteuern zu bewerten und daher urteilsrelevant oder waren die Unterstützungen anders zu charakterisieren und daher irrelevant für die Eheschließung? Waren sie ausreichend bewiesen? Oder war vom Gericht „die zum Ehezug erforderliche Besteurung [sic] keineswegs hinreichend und bewiesen gefunden“?30 Fehlten also Beweismittel oder war die „Beweisart […] unzuläßig“, weil Zeugen, Unterschriften und Vollmachten fehlten?31 In welchem Umfang waren die Steuern bewiesenermaßen bereits zurückbezahlt worden? Zwar erhielten die Gemeinden den Rekursmanualen zufolge in den Verhandlungen bis 1831 nach wie vor die Plattform, um moralisierend zu argumentierten – was sie auch taten. Dabei war die ehewillige Frau in den Augen der Gemeinde des Mannes dem Armutsdiskurs entsprechend idealtypisch „eine schlechte Person“ von „schlechten Rufs und Mittellosigkeit“ mit einem oder mehreren unehelichen Kindern.32 Der Mann erschien dementsprechend „besteuert“, hatte seine „Mittel aufgezehrt“ und musste daher „dem Bettel nachziehen“ oder ähnlich.33 Die Gemeinden zeugten damit von einer beständigen lokalen moralischen Ökonomie, die sich im 19. Jahrhundert zwar mit den Kategorien des Armutsdiskurses der Obereherichter überschnitt, sich jedoch in wachsender Diskrepanz zur nüchternen Gesetzestreue der ehegerichtlichen Instanz befand. Somit büßten diese moralisierenden und multinormativen Argumente ihre Relevanz für den Verhandlungsausgang vor dem zuständigen Ehegericht zunehmend ein, beziehungsweise reichte es aus, die Armut mit Belegen beweisen zu können, um die prekären Eheschließungen zu verhindern. Und so sprach zum Beispiel die Gemeinde Nodz 1830 „nicht nur wegen Alters, Gebrechlichkeit und Trägheit des Sunier, und weil die verwitwete Haldi schon ein uneheliches Kind habe“ gegen die Ehe des besagten ein, „sondern vorzüglich wegen Besteurung des Sunier“.34 Die in der kommunalen Ressourcenlogik prekären Umstände, die den Körper, den Geist und die Sexualität der Ehebegehrenden betrafen, wurden von den Gemeindevertretern nach wie vor ausgeführt. Der Fokus im Oberehegericht lag aber jetzt ‚vorzüglich‘ auf der bewiesenen Besteuerung und somit eindeutig auf den ökonomischen Verhältnissen des Mannes. Die Richter konnten aufgrund der neuen juristischen Grundsätze selbst nicht in jedem Urteil ihren persönlichen Moralvorstellungen und Überzeugungen folgen, wie sie es eigentlich wollten:

„Obgleich in manchen Fällen […] den Heirathen von besteuerten wohlthätig engegengewirkt werde, so seyen doch die Gemeinden gegen Mehrjärige eigenen Rechtens einzig zum Steuereinspruche gesezlich befugt und nur so lange als kein Ersaz geleistet sey.“35

Die Richter standen also zum Teil durchaus in moralischer Spannung zu den von ihnen strikt angewandten verfahrensrechtlichen Grundsätzen, die die „prozedürliche Bescheinigung“ der effektiven Besteuerung verlangte.36 Doch „[f]erner können beiderseitige üble Leumden und Bestrafungen hier nicht berücksichtiget werden“, so die Richter zum Beispiel im Fall zwischen der Gemeinde Rüdligen und den verlobten Jakob Schwiz und Anna Maria Rudolf, geborene Hulliger.37 An der Beweislast änderte sich auch nichts, wenn die Einsprechenden die ‚edllen‘ Gesellschaftsmitglieder zu Mittellöwen in Allianz mit der burgerlichen Familie waren. So fanden auch die Obereherichter selbst ihre Ehebewilligung für Gabriel Rudolf May und Lisabeth Kummer aus moralischen Erwägungen „allerdings bedauernswerth“.38 Wie die Korporation und die Familienangehörigen des Mannes waren auch sie der Überzeugung, dass die Eheschließung „nicht zu seinem Vortheil ausfalle[n]“ werde.39 Doch weder der von der Gesellschaft gewährte „Vorschuß“, noch die von der Familie „gereichte Unterstüzung“ fielen „unter die Kathegorie der vom Gesez erwähnten Gemeindsbesteurungen“, sondern hatten „die Natur eines eigentlichen Darlehns“.40

Wenn man in Erwägung zieht, wie sich die Eherichter 1821 in ihrem Bericht über das neue Paternitätsgesetz an die Räte zu Armut, Illegitimität und Eheschließung äußerten, könnte man zu behaupten wagen, dass sie den moralischen Einschätzungen der Gemeinden, Korporationen und Familien der prekarisierten Ehepaare in den meisten Fällen durchaus und nach wie vor folgten. Wenn allerdings trotz schlechter wirtschaftlicher Aussichten und Zukunftsperspektiven keine Besteuerung des Ehewilligen vorlag oder bewiesen werden konnte, urteilten die Richter trotzdem nicht mehr in geburtsständischer Eigenmacht und den Opponierenden gegenüber gnädig, sondern gesetzestreu. Dadurch verschwand auch die Diskussion bezüglich der Sexualmoral nach 1800 immer stärker aus den Verhandlungen des Oberehegerichts. Sie verlagerte sich allmählich von der Ehegerichtsbarkeit in die Strafjustiz. So nahm die Zahl der registrierten Sexualdelikte besonders während der Regenerationszeit (1830/31–1848) zu, weil „die Behörden die Kontrolle des sexuellen Verhaltens der Unterschicht“ intensivierten „und vermehrt all jene Formen der Sexualität, die nicht der bürgerlichen Moral entsprachen[,] [kriminalisierten]“.41 Das heißt, der „frühe bürgerliche Staat benutzte [primär, AH] die Polizei und die Strafjustiz, um die volkstümlichen sexuellen Normen zu bekämpfen und zu unterdrücken“ und weniger die ehegerichtliche Instanz, die mit den besagten Normen unter dem Ancien Régime durchaus gnädig und daher vielfältiger umgehen konnte.42

Der Relevanzverlust moralischer Kategorien vor der verantwortlichen ehegerichtlichen Institution lässt sich am prekarisierten Ehebegehren des verwitweten Schuhmachers Johannes Niggler und der Witwe Anna Elisabeth Scheurer, geborene Beutigkofer, verdeutlichen. Ansatzweise deutet er auf einen gesellschaftlichen Übergang hin – weg von einer Ehrgesellschaft, in der moralisches Kapital eine große Rolle spielte, hin zu einer ökonomisierten Gesellschaft, in der Geld und materieller Besitz andere Kapitalsorten allmählich verdrängten und obsolet machten.43 Am 16. Februar 1807 beklagten zwei Abgeordnete der Gemeinde Dozigen vor Gericht die hausväterlichen Fähigkeiten des verwitweten Schumachers Johannes Niggler in moralisierender Weise. Sie griffen dabei die Ehre des Schumachers frontal an. Sie warfen ihm vor, seine Kinder aus erster Ehe „schlecht erzogen, dadurch ihr Unglük veranlaßt […] [zu] haben“.44 In der Argumentation der Gemeindevertreter hatte die schlechte Kindererziehung außerdem dazu geführt, dass die Tochter der Gemeinde ihrerseits mit einem unehelichen Kind zur Last gefallen war. Darin manifestierten sich Vorstellungen von erblicher Armut und Sittenlosigkeit. Daneben konnten die Abgeordneten der Gemeinde bezeugen, dass der Angeklagte in der Vergangenheit „einige Steuren, besonders für Hauszins und seine verstorbene Frau“ und auch schon Spenden erhalten hatte.45 Niggler entpuppte sich allerdings als ausgesprochen cleverer Taktiker. Der Gerichtsschreiber notierte in der Urteilsurkunde:

„Gegen dieses aber vertheidigte sich der Niggeler, daß er sich an dem bestehenden Geseze halte, welches den Ehezug nur gegen diejenigen gestatte, die das Allmosen wirklich und zwar von ihrer Gemeinde empfangen; daß die ehemalige Spend oder Stiftung […] nicht als soche anzusehen sey; daß seine kleinen Steuern nur bis 1801. wärend der Krankheit seiner Frau gedauert, und endlich daß er von niemanden die Bezahlung seines lezten Hauszinses verlangt habe.“46

Der Schuhmacher war fähig, die noch jungen juristischen Grundsätze des Gerichts in seiner Argumentation zu adaptieren und zu seinen Gunsten zu nutzen. Es gelang ihm mit quasi juristischer Spitzfindigkeit die Mehrheit der Richter zu überzeugen, dass die erhaltenen Unterstützungen nicht den gesetzlichen Bestimmungen der direkten Besteuerung entsprachen. Damit hielt er sich mit seiner eigensinnigen Eheschließung an geschriebenes Gesetz, während ihm die Gemeinde wortwörtlich ein schlechtes Zeugnis als Hausvater ausstellte. Dieses Zeugnis von schlechter Moral und Ehrverlust war aber bei der Beurteilung dieses Falls nur noch für die Minderheit der Richter von Bedeutung. Die Gerichtsmehrheit begnügte sich aus Gesetzestreue damit, dass zumindest die urteilsrelevante „Nichtbesteuerung des Niggeler“ bewiesen war, auch wenn dieser offenbar indirekte Steuern für seine Kinder erhalten hatte.47 Das Paar hatte mit dem Zeitpunkt der Verhandlung allerdings großes Glück. Denn im selben Jahr wurde am 22. Dezember die bereits oben erwähnte Armengesetzgebung verschärft. Diese hatte maßgebliche Auswirkungen auf das Recht der Eheschließung und schloss potenziell noch größere Teile der Bevölkerung davon aus. Durch die Gesetzesänderung wurde das Zugrecht der Gemeinden ausgeweitet und konnte nun auch angewendet werden, falls die Heiratswilligen indirekt Steuern, also Unterstützung für ihre noch minderjährigen Kinder erhielten oder erhalten hatten. Erst wenn diese Steuern zurückbezahlt waren, durften die Betroffenen ohne Einwilligung ihrer Gemeinde oder Korporation heiraten.

 

Die Verengung des Handlungsspielraums der Prekarier zeigte sich nach der Einführung des Amtsgerichts in intensiviertem Maße. Das hing unter anderem mit der allgemein zunehmenden Professionalisierung des Berner Justizwesens zusammen. Mit der Einführung des Grundsatzes der Gewaltenteilung durch die Verfassung von 1831 hielt auch ein Gerichtspräsident in das Berner Amtsgericht Einzug, dessen Wählbarkeit an den Nachweis der Rechtskunde gebunden war.48 Diese Entwicklung lässt sich wiederum an der Quelle ablesen. So treten in den Urkunden im Konsistorialmanual seit 1831 noch seltener sexuell entehrende oder moralisierende Formulierungen auf. Sie wirken noch stärker auf das zeitgenössisch Wesentliche zentriert. Die gesetzlich bewiesene Armut allein reichte aus, um die ehewilligen AkteurInnen vom meritokratischen Institut der Ehe auszuschließen. Damit nahmen nicht nur die erzählerischen Qualitäten der Urkunden im Vergleich zu der Zeit vor 1831 noch einmal ab, die Quelle wurde auch formal anders gestaltet. In den Rekursurkunden des Oberehegerichts war nach der Vorstellung der anwesenden Parteien eine vergleichsweise ausführliche Erläuterung der Rechtsfrage gefolgt. Dann wurden vom Gerichtsschreiber die summarisch protokollierten Aussagen und Argumente der KlägerInnen und AntworterInnen wiedergegeben. In die Verhandlung eingebrachte Beweismittel waren von ihm in den Fließtext des Protokolls eingebettet worden. Schon im Oberehegericht versuchten die Verantwortlichen „Weitläufigkeiten“ in den Verhandlungen und im Verfahren zu vermeiden und somit Spielräume zu reduzieren.49 Während vor 1800 selten explizit Bezug auf ein konkretes Gesetz genommen worden war, zitierten die Urkunden im nachhelvetischen Zeitraum immer durchgängiger den urteilsrelevanten Gesetzesartikel. In den Konsistorialmanualen wurde dann noch stärker versucht, verfahrenstechnisch Ausschweifungen einzudämmen. Vorgelegte Beweismittel, Belege und Urkunden wurden nun in einer durchnummerierten Auflistung präsentiert. Diese auf das Beweismaterial fokussierenden nüchternen Aufzählungen zeigten in aller Deutlichkeit, was Gegenstand der ehegerichtlichen Verhandlungen war: die als Fakten anerkannten, rechtsgültigen Beweis- und Belegmittel, die das Ausmaß der Besteuerung bezifferten. Zudem kam es auch schon im Oberehegericht vor, dass gar nicht über den eigentlichen Gegenstand, die Eheschließung, verhandelt wurde, sondern über die Verfahrensmäßigkeit der Verhandlung an sich. Richter, Kläger und Verteidiger achteten jetzt darauf, ob „auch die Prozedur […] behörig eingerichtet“ war.50 Wenn dem Vogt eines Ehewilligen, dem Abgeordneten einer Gesellschaft oder einer Gemeinde die notariell beglaubigte Vollmacht zum Einspruch fehlte, wurde zu Gunsten der Ehewilligen entschieden:

„Der Beleg zum Einspruche sey heudte bey der Hand um […] geprüft und anerkannt oder bestritten zu werden […] und auf Weiteres könne also keine Rüksicht genommen werden, da unter diesen Umständen das Gesez Uns ungesäumte Beurtheilung des Einspruchs am heutigen Tage selbst vorschreibe,“

so die Obereherichter 1828 in einem Gerichtsurteil gegen die Gesellschaft zu Mittellöwen.51 Die Korporation befand sich in einem noch nicht abgeschlossenen Bevogtungsverfahren mit ihrem Mitglied Emanuel Rudolf von Jenner, der sich mit Elisabeth Müller verlobt hatte. Aufgrund des noch hängigen Bevogtungsverfahrens waren die entsprechenden Dokumente, mit denen die Eheschließung eventuell hätte aufgehalten werden können, nicht vorhanden. In Bezug auf die Rechtmäßigkeit des Verfahrens spielte es nicht einmal eine Rolle, wie gravierend die vorgebrachten Bedenken der Opponierenden gegen die prekäre Eheschließung waren. So konnte der Vogt Niklaus Jucker seinem gleichnamigen Mündel zwar in der Verhandlung am 6. August 1847 vorwerfen, dieser sei „einem solchen übermäßigen Trunke ergebe[n], daß er wüthe“.52 Er würde deswegen „z.B. Schießen im Zimmer, und ganze Nächte hindurch Brüllen, was auf Verlangen bewiesen werden könne“.53 Dagegen brachten „die Brautleute“ – und nicht etwa ein Rechtsvertreter – an, „Niklaus Jucker sei schuldig, sich durch eine Authorisation der Vormundschaftsbehörde auf heute zu legitimieren“.54 Weil „aber eine solche Ermächtigung nicht vorliegt“, so die Richter, wurde der eigenmächtige Vogt mit seinem Einspruch unter Kostenfolge abgewiesen.55 Niklaus und Anna Jucker wurde hingegen die Heiratserlaubnis erteilt.

Trotz der zunehmenden Formalisierung und ökonomistischen Zuspitzung der Prozesse auf die bewiesene Armut, die arme Ehewillige ohne Unterstützung und juristisches Wissen in zunehmendem Maße benachteiligte, forderten diese ihre Eheschließungen weiterhin beharrlich und, wie schon gesehen, zum Teil erfolgreich ein. Dabei verwendeten sie sowohl altbekannte Taktiken, die bereits aus den Ausführungen zum Ancien Régime bekannt sind, als auch neue Ressourcen. Ein Akteur, der alte und neue Ressourcen kombinierte, mit seinem Ehebegehren zunächst zweimal gescheitert war, letztendlich aber zu seiner mit Anna Schneider von Schlosswyl begehrten Eheschließung kam, war der unehelich geborene Johannes Grunder von Vechigen, der in der benachbarten Gemeinde Krauchthal wohnte. An diesem Fall soll exemplarisch besprochen werden, welcher taktische Ressourceneinsatz im hier untersuchten Zeitraum erfolglos blieb und mit welcher Taktik die AkteurInnen reüssieren konnten. Dieser Fall deckt die zentralen Taktiken, die von den Ehewilligen zur Aneignung der Eheschließung verwendet wurden, in drei Etappen auf. Grunder und Schneider wurden im Oktober 1845 zum ersten Mal wegen des Einspruchs der Gemeinde Vechigen gegen ihre Eheschließung von dem Berner Amtsgericht vorgeladen. Auf der Seite der Opponierenden traten der Gemeindepräsident höchstpersönlich und ein von der Gemeindeversammlung Bevollmächtigter auf. „[A]uf Anfrage, was die Partheien desfalls noch anzubringen haben,“ fingen die beiden nicht etwa an zu argumentieren, sondern es „wurde für die […] Gemeinde […] dem Gerichte vorgelegt: 1. Auszug aus den Armen-Rechnungen […].“56 Der vorgelegten Rechnung zufolge schuldete der Verlobte seiner Heimatgemeinde 157 Kronen 24 Batzen und 24 Kreuzer. Diese Schulden hatten sich zwischen 1792 und 1833 angehäuft. Wofür die Schulden gemacht worden waren, wurde im Konsistorialmanual nicht erörtert und schien auch in keiner Weise relevant. Klar war, dass die Gemeinde die geschuldete Summe Steuergeld „nach Satz[ung] 36. des Personenrechts“ zurückforderte, bevor sie die Zustimmung zur Eheschließung erteilen würde.57 Schemenhaft wurden Steuersumme und Gesetzesartikel als selbstsprechende Argumente gegen die Eheschließung aufgeführt. Dagegen trat Grunder mit einer Argumentation auf, die in vielen der untersuchten Verhandlungen im nachhelvetischen Zeitraum anzutreffen und bereits aus dem Ancien Régime bekannt ist. Er gab zwar zu, von der Gemeinde seit seinem 18. Lebensjahr besteuert worden zu sein. Dagegen bestritt er aber, „daß er ganz außer Stande sei, eine Familie zu erhalten, […] indem er gesund, und daher auch arbeitsfähig, somit im Stande sei, eine Familie zu ernähren“.58 Während körperliche Gesundheit und Arbeitsfähigkeit in der gerichtlichen Multinormativität des Ancien Régimes noch potenzielle Ressourcen dargestellt hatten, urteilte das Amtsgericht rein gesetzlich und folgte dem kommunalen Beweismaterial. Der Einspruch war „begründet“, so die lapidare Formulierung des Gerichtsschreibers, womit ‚gesetzlich abgestützt‘ gemeint war.59 Johannes Grunder und Anna Schneider ließen sich aber weder von der Gemeinde noch vom Gericht derart abspeisen und blieben hartnäckig. Am 22. Januar 1847, also rund 14 Monate später, traten die beiden Ehewilligen erneut vor dem Amtsgericht in Bern auf. Bezeichnenderweise taten sie das nun mit einem Rechtsagenten, also einer juristisch ausgebildeten Person. Eine Vertretung von Vechigen erschien, trotz Vorladung des Gerichts, nicht. Grunder gab erneut zu, von seiner Burgergemeinde besteuert worden zu sein. Zugleich brachte er aber vor, dass er vergeblich versucht hätte, der Gemeinde jene Summe zurückzubezahlen, die er seit seiner Volljährigkeit erhalten hatte. Seine Gemeinde hätte die Annahme des Geldes verweigert. Deswegen hatte er, wie viele andere AkteurInnen auch, den in seinen Augen schuldigen Betrag von 25.40 Livre „hinter den Richter gelegt, und dadurch seine Verpflichtung vollständig erfüllt“.60 Der hinterlegte Betrag entsprach umgerechnet 9.76 Kronen und somit lediglich rund 6% der mehr als 157 Kronen, die die Gemeinde dem Gericht beim ersten Termin als Besteuerung angegeben hatte. Das verfahrenstreue Gericht sah das allerdings wiederum anders. Zwar hätte Grunder „die Deposition der L[ivre] 25.40 bewiesen“.61 Weil er aber „über sein Alter keinerlei Bescheinigung vorgelegt hat[te]“, wurde die Hinterlegung des Geldbetrags als „Schutzbehauptung“, also Vorwand beurteilt, um möglichst rasch und günstig heiraten zu können.62 Das Paar war deswegen genötigt, im März 1847 ein drittes Mal vor den Amtsrichtern von Bern aufzutreten, um zu seiner Eheschließung zu kommen. Die Gemeinde Vechigen blieb bei ihren Gründen und Zweifeln: Einerseits hätte Grunder die von der Gemeinde erhaltene Steuersumme noch nicht ersetzt, andererseits wäre er nach wie vor nicht in der Lage, eine Familie zu erhalten. Doch nun war Johannes Grunder mit einer Taufurkunde der Kirchgemeinde Vechigen ausgestattet. Damit belegte er sein Alter und konnte deswegen beweisen, dass lediglich 25.40 Livre der Steuerschulden nach Vollendung seines 17. Lebensjahres angefallen waren. Jetzt besannen sich die Richter auf die 148. Satzung des Zivilgesetzbuchs. Der zufolge waren die Eltern bis zum 18. Lebensjahr ihrer Kinder für deren Unterhalt und Erziehungskosten verantwortlich. Die Unterstützungsleistungen der Gemeinde, die Grunder vor seinem 18. Geburtstag erhalten hatte, wurden in den Augen der Richter nicht an ihn, sondern an seine Eltern geleistet. Der von Grunder hinterlegte Betrag war deswegen bewiesenermaßen ausreichend. Somit erschien der Eheeinspruch der Gemeinde jetzt „unbegründet“ und die Verlobten erhielten die Heiratserlaubnis.63

Am Fall von Johannes Grunder und Anna Schneider lassen sich die wesentlichen Faktoren prekärer Eheschließungen im nachhelvetischen Zeitraum benennen: Es ging nicht mehr um die Verhandlung ehelicher Moralvorstellungen, sondern um die strikte Befolgung ökonomischer Vorgaben. Es spielte keine Rolle mehr, inwiefern das gehinderte Paar das Gericht von seiner Fähigkeit der Haushaltsführung überzeugen konnte. Es machte aber in den hier untersuchten Verhandlungen auch keinen Unterschied mehr, wie sehr die Gemeinden und Korporationen die moralische Integrität der involvierten Männer und Frauen in Frage stellten. Wer besteuert war, egal wie hoch, konnte von den Gemeinden und Korporationen von der Ehe ausgeschlossen werden. Wer es nicht (mehr) war, durfte im Umkehrschluss ungeachtet kommunaler und korporativer moralischer Bedenken heiraten. In den nachhelvetischen Gerichtsverhandlungen ging es „nicht um das wie viel“ der geschuldeten Steuersumme, so die Formulierung des Gerichtsschreibers.64 Die einzige Frage, die die Eherichter noch interessierte, war, ob der ehewillige Mann der Gemeinde oder Korporation noch Geld schuldete oder nicht. Diese Frage wurde vom Gericht ausschließlich und nüchtern anhand vorhandener Beweismittel geklärt. Daran lassen sich die Taktiken gegenüber der zunehmend autonomen und immunisierten ökonomistischen Fokussierung auf monetarisierten Besitz und die formaljuristische Verengung der Verhandlung auf Beweismittel aufzeigen, die in praktisch allen aus diesem Zeitraum untersuchten Fällen festzustellen ist.65