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Prekäre Eheschließungen

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2.2 Opponierende Parteien: Gemeinden und Korporationen statt Väter und Verwandte

In den Samples zum Ancien Régime wurde der größte Teil der Eheeinsprachen und Zugrechtsklagen aus den Reihen der Familien hervorgebracht. Dabei fiel auf, dass die Zahl der Einsprachen aus den Gemeinden gegen Ende des Jahrhunderts zugenommen hatte, während die aus den Reihen der Familien vorgebrachten Ehehindernisse in der Menge zurückgetreten waren. Weiter haben die Quellen sichtbar gemacht, dass die Mehrheit der Fälle aus dem Umfeld des ehewilligen Mannes prekarisiert worden waren. In Anbetracht der weiblichen Verlobten hat sich abgezeichnet, dass die Gemeinden wesentlich weniger bemüht waren, diese von der Eheschließung abzuhalten als deren Familien. Welche Entwicklungslinien ergeben sich für den nachhelvetischen Zeitraum und wie stehen diese zu den rekapitulierten Mustern, die für das Ancien Régime herausgearbeitet werden konnten?

Der markanteste Unterschied zu den Befunden zum Ancien Régime betrifft das Verhältnis zwischen den Gemeindeeinsprüchen und den Einwänden aus den Familien der Ehewilligen. Die Tendenz der allmählichen Zunahme kommunaler Einsprachen bei gleichzeitiger Abnahme der verwandtschaftlichen Einwände wurde nach 1803 stark akzentuiert: Im Verlauf des Untersuchungszeitraums zwischen 1803 und 1847 kamen 47 vor Gericht eingelegte Eheeinsprachen aus den Reihen der Gemeinden und ihren Stellvertretern. Das sind beinahe zwei Drittel der gesamthaft 73 analysierten Fälle. Neun Interventionen waren zudem von burgerlichen Korporationen initiiert. Sie nahmen gegenüber ihren Angehörigen wie die Gemeinden eine Unterstützungsfunktion ein. Wenn diese bedürftig waren oder wurden, mussten sie unterstützend einspringen. Aufgrund der Einsprachen aus den burgerlichen Korporationen aus der Stadt Bern lässt sich zudem wiederum zeigen, dass Burgerrechte trotz den damit verbundenen Privilegien nicht per se eine Besitzstandsgarantie darstellten und deswegen vor Armut schützten. Was als Wohlstand empfunden wurde, war in Bern auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem von den Erwartungen an eine standesgemäße Lebensführung abhängig. Deswegen konnte der auf Unterstützung angewiesene Burger in ständischen Relationen durchaus arm sein, auch wenn seine Lebensverhältnisse nach wie vor wenige Gemeinsamkeiten mit denen eines umherziehenden Bettlers hatten.

Diagramm 7:

Opponierende (73) gegen prekäre Eheschließungen, 1803–1847 (Quellen: StABE B III 831; 833; 835; Bez Bern B 2755; 2748)

In Bezug auf die Kategorie ‚Geschlecht‘ sticht ins Auge, dass die thematisierten kommunalen und korporativen nachhelvetischen Einsprachen immer aus dem Herkunftsmilieu des involvierten Mannes artikuliert wurden. In drei weiteren Fällen kam es außerdem zu Allianzen zwischen der Heimatgemeinde oder der Gesellschaft und Familienangehörigen des ehewilligen Mannes. Im oben dargestellten Kreisdiagramm sind die Einsprachen aus dem Umfeld der Männer in unterschiedlichen Blautönen eingefärbt. Das Diagramm illustriert, dass die primäre Motivation von rund 81% (59) der untersuchten nachhelvetischen Einsprachen im geteilten Streben begründet lag, die begrenzten kollektiven Ressourcen zu schonen. In Anbetracht der bedrohlichen Massenarmut versuchten Gemeinden und Korporationen in Bern nämlich mindestens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt, ihre mittel- und vermögenslosen männlichen Angehörigen auszuschließen. Direkt zeigt sich das im Anstieg der explizit aufgrund der Besteuerung des Mannes gemachten Einsprachen von 16 (26%) im Ancien Régime auf 44 (60%) im nachhelvetischen Zeitraum. Die schwindenden Armengüter, die im 19. Jahrhundert durch die wirtschaftlichen Entwicklungen noch stärker belastet waren als im ausgehenden 18. Jahrhundert, sollten nicht zusätzlich durch Bettelehen mit auswärtigen Frauen belastet werden. Gleichzeitig ist aus dem Quellenmaterial der nachhelvetischen Zeit zu erfahren, dass Gemeinden im Umkehrschluss geradezu rege darum bemüht waren, mittellose weibliche Angehörige unter Einsatz finanzieller Mittel aus der Gemeindekasse loszuwerden. Die Obereherichter berichteten 1821, dass es in der Vergangenheit zu sogenannten „Männerkäufe[n]“ gekommen war.1 Es wurde von den Richtern darauf verwiesen, dass Gemeinden, denen die Versorgung unehelicher Kinder lediger gemeindeangehöriger Frauen drohte, insbesondere auswärtige Männer für deren Vaterschaftsgeständnis und das Eheversprechen bezahlten. Außerdem wurden Gemeindevorsteher und lokale Chorgerichte bezichtigt, „Bestechung“ als Mittel einzusetzen, um auswärtige Frauen „zu Versäumnissen der Klagfristen und zu falschen Angaben“ zu Gunsten von Gemeindeangehörigen zu verleiten.2 Mit dieser illegalen Praxis wurden zum einen Eheschließungen von einheimischen Männern behindert und zum anderen deren Vaterschaften verheimlicht. Damit versuchten die Gemeinden der allgemeinen Ressourcenverknappung entgegenzuwirken. In dem besagten Bericht kam zudem zur Sprache, dass die Gemeinden ihre ledigen schwangeren Mitglieder „eifrig unterstützen“, damit diese in andere Gemeinden einheiraten konnten.

„An Steuer-Ersäze, Einzuggelder und Aussteuern wurden mitunter verschwenderisch die Erpsarnisse der Gemeinde verwandt. Man gerieth in Erbitterung, und nicht selten prozedierten zwey Verlobte bloß als Verfechter der erhizten Gemeindräthe. Wiederholte Vorstellungen, da ß einer Gemeinde Morgen wieder vergolten werde, was sie heute einer andern angethan […].“3

Tatsächlich trifft man in den Rekursmanualen auf Verhandlungen prekarisierter Eheschließungen, die vor Gericht sogar ausschließlich zwischen Vertretern der Gemeinden ausgetragen wurden.4 Vergleichbare Fälle, die die Ehewilligen derart zu beinahe ausschließlich ökonomischen Objekten degradierten, konnten im entsprechenden Quellensample zum Ancien Régime nicht aufgefunden werden. Bestimmt existierten entsprechende Praktiken der Gemeinden schon damals. Es stellt sich jedoch die Frage, in welchem Ausmaß sie betrieben wurden. Die Gemeinden verfolgten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts also eine doppelte Taktik: Sie förderten zum einen die Eheschließungen ihrer vermögenslosen, kriminalisierten und darum in ihrer Perspektive moralisch verdächtigen Frauen durch illegale Investitionen, um diese los zu werden. Parallel dazu bemühten sie sich zum anderen, ihre mittellosen männlichen Gemeindeangehörigen mit rechtlichen Instrumenten von der Ehe auszuschließen, um nicht zusätzlich zu dem unterstützungsbedürftigen oder wirtschaftlich aussichtslosen Mann eine Frau versorgen zu müssen. Dieses Verhalten fügte sich widerspruchsfrei in den aufgezeigten bevölkerungspolitischen Diskurs, der in Bern schon in den 1790er Jahren ansatzweise aufkam und mit den Erfahrungen der Massenarmut gipfelte. Dadurch fällt auf, dass die Opponierenden die Ehewilligen in zunehmendem Maße zu Spielbällen ihrer ökonomischen Kalkulationen machten, die sie im Rahmen wachsender Armut und Ressourcenverknappung anstellten. In den Gemeinden wurde „[d]er Konflikt zwischen den Ansprüchen von Wohlfahrt und [Gemeinde]ökonomie“ eindeutig zu Gunsten wirtschaftlicher Überlegungen entschieden.5 In der Summe deuten diese Entwicklungen auf eine Verengung des Handlungsspielraums für die eigensinnigen Taktiken der ehewilligen AkteurInnen hin. Dabei wird die ausgesprochen prekäre Situation der mittellosen Frauen unschwer erkennbar: Sie wurden von den Gemeinden offenbar vorrangig als ökonomische Bedrohung und Belastung für das Allgemeingut wahrgenommen, die es so schnell wie möglich loszuwerden galt.

Im Gegensatz zu den vielen Einsprachen aus den Gemeinden und den Gesellschaften versuchten Familienmitglieder nur noch zwölf Mal (ca. 16%) die Ehebegehren ihrer Angehörigen zu prekarisieren.6 Hier finden sich auch sieben Eheeinsprachen aus dem familiären Umfeld der jeweiligen Frauen. Während vor der Helvetischen Revolution noch etwas mehr als ein Drittel der Ehebegehren vor dem Oberehegericht aus dem sozialen Umfeld der Frauen prekarisiert wurden, waren es zwischen Mediation und Bundesstaatsgründung nur noch knapp 10% (7). Die zwei restlichen Einsprachen, die weder dem männlichen noch weiblichen Milieu zuzuordnen sind, kamen einmal von einem Ehekonkurrenten, der für sein Eheversprechen den Vorzug verlangte und deswegen Einsprache gegen die andere Eheschließung erhob. Und einmal schaltete sich das Oberehegericht selbst ein, weil es sich um eine begehrte Ehe zwischen einem Paar handelte, das zuvor miteinander Ehebruch begangen hatte, was dem Gericht bekannt war. Diese beiden Fälle sind in Anbetracht der strukturellen Entwicklungen von untergeordneter Bedeutung.

Während die Furcht vor der Überbevölkerung und die Sorge um die kollektiven Ressourcen den relativen Anstieg kommunaler und korporativer Einsprachen zu erklären vermögen, kann der Rückgang familiärer Einsprachen nicht abschließend erklärt werden. Festgehalten werden kann, dass die Zahl der mittellosen, in prekären wirtschaftlichen und familiären Verhältnissen lebenden Menschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunahm.7 Gerade diese von Armut betroffenen und zum Teil inkriminierten Menschen, die im Sample nach 1800 wie gezeigt stärker repräsentiert sind als davor, konnten zwecks Unterstützung in den meisten Fällen gerade nicht auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen. Sie sahen, so die These, in der Gründung einer Familie durch die Eheschließung unter anderem gerade deswegen eine Ressource. Wo ein verwandtschaftlicher Hintergrund fehlte oder zerrüttet war, musste mit allen Mitteln versucht werden, wenigstens innereheliche Unterstützung zu etablieren. Als heimatlose Frau kam hinzu, dass man sich mit der Heirat in die Heimatrechte des Mannes einkaufte und dadurch im Falle der Verarmung Anspruch auf kommunale Unterstützungsleistungen hatte. Als Mittelloser oder Vermögensschwacher konnte man mit einem prekären Ehebegehren also wenig verlieren, aber im Erfolgsfall sehr viel Erleichterung im alltäglichen Leben dazugewinnen. Wo allerdings intakte Familienstrukturen vorhanden waren, konnten diese in wirtschaftlich schwierigen Zeiten beansprucht werden.8 Wer durch eine prekäre Eheschließung – gegen die Heiratspolitik der Verwandtschaft – diesen sozioökonomischen Rückhalt riskierte, setzte damit womöglich seine Existenzgrundlagen aufs Spiel. Das musste man sich entweder leisten können, oder man verzichtete darauf, indem man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewissermaßen familien- und verwandtschaftskonform heiratete. Hinzu traten außerdem vor allem im bürgerlichen Milieu neue Liebes- und Eheideale, die auf Nähe und Vertrautheit basierten und dadurch Heiraten innerhalb derselben Schicht sowie Verwandtenehen begünstigten, die nach 1800 ja gesetzlich toleriert wurden.9 Zu diesen thesenhaften Erklärungsansätzen für den Rückgang verwandtschaftlicher Eheeinsprachen kommt hinzu, dass die Ehe im 19. Jahrhundert allmählich „den postulierten Monopolcharakter als einzig legitimer Ort für Sexualität und biologische Reproduktion“ zu verlieren begann.10 Diese These gewinnt mit Blick auf die steigende Illegitimitätsrate, die schon verschiedentlich als Symptom des Verfalls traditionaler Werte gedeutet worden ist, auch für Bern Plausibilität.11 Aufgrund der erwähnten Entwicklungen lebten Menschen aus zum Teil unterschiedlichen Gründen auch vermehrt in unehelichen und Konkubinatsverhältnissen, falls sie auf die Ehe als Institution der ökonomischen Wertschöpfung und Besitzstandswahrung verzichten konnten oder mussten.12 Gegen diese alternativen Lebensformen, die als ‚wilde Ehen‘ kriminalisiert und strafrechtlich verfolgt wurden,13 konnten die Familien – sofern solche überhaupt existierten respektive davon wussten – zumindest ehegerichtlich nicht Einsprache erheben.

 

2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken
2.3.1 Hartnäckig eigensinnig

In den Ausführungen zum Ancien Régime ist festgehalten worden, dass Eigensinn nicht nur ein abstraktes heuristisches Konzept der Geschichtswissenschaft darstellt, sondern sich begrifflich konkret in die Quellen eingeschrieben hatte, beziehungsweise sich aus diesen ableiten lässt. Gleichzeitig lässt sich der Eigensinn aus dem in den Rekursmanualen beschriebenen Handeln der ehebegehrenden AkteurInnen herausarbeiten. Hartnäckigkeit war oftmals ein notwendiges Erfordernis gewesen, um die prekarisierten, eigensinnigen Ehebegehren gegen die Opponierenden aus der Verwandtschaft, den Gemeinden und korporativen Gesellschaften durchzusetzen. Im Oberehegericht hatte es zwar ein ehepolitisch reformorientiertes Lager gegeben, das in 59% der Fälle die eigensinnigen Begehren entgegen den Einsprachen gefördert hatte. Dennoch lassen sich in den Rekursurkunden aufgrund der Aufzeichnung der mehrstimmigen Urteilsfindung auch jene Stimmen finden, die nach wie vor die ständisch-patriarchale Logik der Opponierenden geteilt und die Ehe in moralpolitischem Sinne als geburtsständisches Privileg verwaltet hatten. Ferner hat man sehen können, dass der beharrliche eheliche Eigensinn, der sich unter anderem in der Justiznutzung der AkteurInnen bemerkbar gemacht hatte, während der Helvetik auf politisch außerordentlich günstige Gelegenheiten gestoßen war. Einerseits hatte das Mittel der Petition geholfen, Opposition aus dem sozialen Nahraum zu umgehen. Andererseits hatten die reformorientierten Zentralbehörden ihrerseits die eigensinnigen Ehebegehren der Paare auf Kosten intermediärer Gruppen genutzt. Sie hatten danach getrachtet, die obrigkeitliche Machtfülle auszubauen. Während der Helvetik ist der Eigensinn zwischenzeitlich in den Quellen als solcher begrifflich konkret verständlicherweise nicht mehr einzufangen gewesen, da es sich bei diesem Terminus zeitgenössisch um eine pejorative Fremdzuschreibung gehandelt hatte.1 Den Petitionären war es gerade nicht darum gegangen, sich als deviante Untertanen zu beschreiben, die um Gnade baten. Dagegen hatten sie sich als aufgeklärte und gleichberechtigte Bürger der Nation inszeniert, die den Gesetzen der Natur und des Fortschritts gefolgt waren und damit den aufklärerischen und bevölkerungspolitischen Maximen der Republik entsprochen hatten. Dabei hatten sie meistens erfolgreich die Unterstützung der reformorientierten und väterlich-emphatischen Verwaltung bei der Umsetzung ihrer Eheschließungen gesucht.

Nach der Helvetik, die zumindest zu Beginn auf der Ebene der Eheschließung auch für die unteren Schichten so etwas wie eine „Verbesserung der Lebenschancen“ verhieß,2 stellt sich hier die Frage, welchen Ausdruck der Eigensinn der AkteurInnen in den Rekursmanualen (1803–1830) und den Konsistorialmanualen (1830–1847) finden konnte und welcher Ressourcen und taktischen Mittel diese sich zu bedienen vermochten. In welcher Weise wurden die Taktiken in die Manuale eingeschrieben in einer Zeit, in der sie von den gegen sie Opponierenden in zunehmenden Maße ökonomisch und moralisch stigmatisiert wurden und die bevölkerungspolitische Debatte sowie die Ehegesetzgebung tendenziell von besitzständischer Restauration geprägt waren?

Kaum waren die alten Chorgerichte und das Oberehegericht in Bern wieder eingeführt, stößt man in den Quellen erneut auf Bezeichnungen, die ein Wortfeld des Eigensinns der „Heirathslüstigen“, vergleichbar der Zeit des Ancien Régimes, entfalten.3 Es ist „von verstekten Machenschaften hinder dem Rüken des Richters“ zu lesen.4 In den Manualen war wieder vom „beharrlichen Vorsaze des [mittellosen] Jakob Gysin […], die hiesige Landsassin Anna Barbara Akermann zu ehelichen“ die Rede.5 Die Rekursurkunden zeugten neuerlich vom „beharrlichen Begehren des [verwitweten Dachdeckers Ulrich] Schenk, zur Heyrath der [auswärtigen Anna Elisabeth] Merz“.6 Und Jakob Tritten wurde bezichtigt, sich „aus schnödem Eigennuz“ als „Dekmantel zur Heyrath“ der schwangeren Catharina Pfund auszugeben, obwohl er nicht der Vater des ungeborenen Kindes sei.7 Nach der liberalen Verfassungsrevision von 1830/31 schrieb sich der verwitwete Burger und ehemalige Bäcker aus Bern mit „nochmaliger Wiederholung des Versuchs, diese Ehe [mit Regina Fischer von Dennwyl] zu schließen“ in das Konsistorialmanual des Berner Amtsgerichts ein.8 Sein taktisches Vorgehen wurde von den Opponierenden aus der Gesellschaft zu Mittellöwen – jener ständischen Korporation, der er angehörte – als „Manöver“ bezeichnet.9 Und Johannes Grunder aus Vechigen gewann den Prozess vor dem Amtsgericht gegen seine Heimatgemeinde, weil er auch nach dem zweiten Misserfolg hartnäckig blieb und einen dritten, erfolgreichen Anlauf nahm.10 Es ist aus den Quellen aber nicht nur von sich hartnäckig haltendem Eigensinn von Männern zu vernehmen. Auch die „schwangere Braut beharrte auf ihrer Ansprache“ und zwang dadurch die opponierende Gemeinde des Mannes „nochmals“ vor das Gericht.11 Die Reihe von Quellenbeispielen, die die Kategorien ‚Eigensinn‘ und ‚Taktik‘ im Rahmen ehelicher Aneignungsprozesse begrifflich und praxeologisch miteinander in Berührung bringen, könnte ohne Weiteres fortgeführt werden. Die angeführten Beispiele deuten auf zwei Umstände hin: Einerseits wurde die Normierung der Eheschließung nach der Helvetik wieder „engmaschig[er]“ und den AkteurInnen blieb weniger Spielraum zur Verwirklichung ihrer Ehevorstellungen.12 Andererseits mussten sie genau deswegen taktisch geschickter agieren, weshalb sie in den Augen der gegen sie Opponierenden wiederum als eigensinnig und deviant erschienen. Dabei kommt zum Ausdruck, dass die AkteurInnen über das Ancien Régime und die Helvetik hinweg kontinuierlich, also hartnäckig eigensinnig blieben und vor den neuerlichen Verschlechterungen ihrer Ehechancen nicht kapitulierten.

2.3.2 Die Zurückdrängung der Taktiken durch Formalisierung des Rechtsanspruchs

An dieser Stelle muss vorweggenommen werden, dass die prekarisierenden Einsprüche gegen die untersuchten Eheschließungen in den gerichtlich produzierten Quellen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts narrativ wesentlich eintöniger waren als noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor der Helvetik. Sie präsentierten sich standardisierter und weniger verhandelbar. Auch die Taktiken der ehewilligen AkteurInnen schienen dementsprechend weniger vielfältig, dafür regelhafter wiedergegeben. Dass sich die Gerichtsprotokolle der Historikerin und dem Historiker auch weniger erzählerisch präsentieren als die helvetischen Petitionen, ist aufgrund der Quellenproduktion leicht nachvollziehbar: Während eine Petition und ihr jeweiliges Narrativ meistens von einem Schreiber in der Absicht verfasst wurden, das urteilende Gegenüber vom Anliegen des Bittstellers zu überzeugen, sollte das Protokoll die Verhandlung und die Argumente von KlägerIn und AntworterIn so zusammenfassen, dass dadurch das richterliche Urteil abgestützt wurde. Während die Bittschrift in Eigenregie mit Notar abgefasst wurde, wurde das Protokoll durch den Gerichtsschreiber erstellt. Wieso unterschieden sich diesbezüglich aber die Rekursurkunden vor und nach 1800? Diese Frage gilt es in den folgenden Ausführungen zu erörtern. Dabei treten die Taktiken der heiratsbegehrenden AkteurInnen in der historischen Betrachtung im Verhältnis zu den Analysen der beiden vorausgegangenen Zeiträume zwangsläufig zurück. Dieser Umstand ist allerdings nicht dem Vorgehen geschuldet, sondern dem Gegenstand selbst, und lässt sich am besten als eine verfahrensrechtliche Formalisierung des Rechtsanspruchs vor Gericht bezeichnen. Diese Formalisierung ist als ein Prozess zu verstehen, der den Rechtsanspruch der AkteurInnen vor Gericht in immer umfassenderer Weise einer zunehmend ausdifferenzierten und auch professionalisierten Justiz und deren immer stärker gesetzlich geregelten Verfahren unterwirft und darin stark dem frühneuzeithistorisch geprägten Konzept der Verrechtlichung gleicht.1 Diese als Praxis begriffene Entwicklung gilt es im Folgenden in ihren historisch spezifischen Auswirkungen in Bezug auf das konkrete Handeln der Ehewilligen und der Opponierenden auszuführen.

Im Ancien Régime hatten ökonomische Bedenken der Gemeinden einen Ehehinderungsgrund unter anderen dargestellt. Wie zuvor gesehen, war lediglich rund ein Viertel (16 von 61, entspricht rund 26% der Fälle) der Ehehindernisse explizit mit Rekurs auf die Besteuerung und somit explizit auf Grundlage der ökonomischen Verhältnisse der Ehewilligen eingelegt worden. Der geringe Anteil dieser Einsprachen unter dem Ancien Régime hatte mit der kleinen Zahl der aus Gemeinden und Korporationen vorgebrachten Ehehindernisse im Verhältnis zum geltend gemachten Zugrecht aus den Familien korreliert. Dieser Anteil hatte jedoch bereits gegen Ende des Jahrhunderts unter dem Einfluss der sich wandelnden Bevölkerungspolitik allmählich zugenommen. Im nachhelvetischen Zeitraum zielten die Opponierenden – wie zuvor gesehen in 56 der 73 ausgewerteten Fälle (77%) Vertreter der Heimatgemeinde oder der Korporation des Mannes – in den allermeisten Gerichtsverhandlungen direkt auf die prekäre ökonomische Situation des ehewilligen Mannes ab. So wurde die Einsprache 44 Mal (60%) aufgrund der Grundlage der Besteuerung des ehewilligen Mannes gemacht. Insofern lässt sich über den gesamten Untersuchungszeitraum eine Tendenz von ständisch-patriarchalen Einsprachen gegen minderjährige Familienangehörige hin zu wirtschaftlich motivierten Einsprachen gegen arme Gemeinde- und Korporationsangehörige beobachten. In Anbetracht dieser Entwicklung lässt sich folgende These aufstellen: In der Tendenz zeichnet sich dadurch im Berner Oberehegericht der Übergang von der frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaft, in deren Kontext patriarchale Ehrvorstellungen und Geburtsstand eine wichtige Rolle spielten,2 hin zu einer Gesellschaft ab, in der sich die Stellung der Subjekte vor allem an voraussetzungsvollen ökonomischen oder eben besitzständischen Qualitäten ausrichtete. Während im Quellensample vor 1800 an erster Stelle Väter ihre minderjährigen Zöglinge an der Eheschließung zu hindern versuchten, waren es nun in einem ungleich höheren Maße die Gemeinden, die „wegen Zunahme ihrer Armen auf dem Zugrecht [bestanden]“.3 Sie fürchteten den Verlust der kommunalen Ressourcen und trauten einem beachtlichen Teil ihrer Angehörigen die Haushaltsfinanzierung und das eigenständige ökonomische Überleben nicht zu. Zugrechtsklagen aus Gründen der patriarchalen Verwandtschafts- und Ehrpolitik wichen in den hier untersuchten Quellen tendenziell ökonomisch motivierten Eheeinsprachen der Gemeinden.4

Im Zuge dieses Wandels wurden nach 1803 Beweismittel das zentrale formale Moment im Vorgehen der Gemeinden und Korporationen gegen Eheschließungen von besteuerten Angehörigen. Das zeigen die Quellen eindeutig. Während Beweismaterial in den Rekursmanualen vor 1800 kaum Erwähnung gefunden und der Fokus der Protokolle auf dem Aushandlungsprozess gelegen hatte, wurden nun von den rechtlichen Vertretern der Gemeinden und Korporationen immer wieder „Belege“, „Beweisschriften [sic]“, „Zeugniße“ und „Rapport[e]“ vorgelegt und vom Gerichtsschreiber protokolliert.5 Zugespitzt formuliert, verloren die multinormativen Argumente der Gemeinden und Korporationen gegenüber den mit Dokumenten bewiesenen und daher vermeintlich objektiven Fakten in den Verhandlungen deutlich an Gewicht.6 Wo solche fehlten, wurden sie vom Gericht zum Teil gefordert und daher von den Opponierenden, wenn immer möglich, nachgereicht.7 Die einsprechenden Parteien legten diese vermeintlich selbstevidenten Dokumente vor, um die Besteuerung, das fehlende Vermögen oder die in ihren Augen ungenügenden Einkünfte aus der Erwerbsarbeit vor den Richtern zu objektivieren. Dabei fällt auf, dass die vorgelegten Auszüge aus den Armenbüchern meistens genaue Zahlen zu ausstehenden Steuerschulden der ehewilligen Männer enthalten mussten. Während im Oberehegericht vor der Helvetischen Revolution in den allermeisten Gerichtsurkunden unspezifisch und sehr allgemein von Besteuerung die Rede gewesen war, nannten die Quellen nun häufig und letztlich mehrheitlich die exakten und zum Teil sehr unterschiedlichen Summen der Besteuerung, zum Teil bis auf die Kommastelle: Die Gemeinde Wynigen verlangte 1804 zum Beispiel zwei Kronen und fünf Batzen vom verlobten Tobias Schrag.8 Die ausstehenden Schulden von Jakob Schwiz wurden 1827 auf 400 Franken Steuern und Einzugsgeld für die Braut beziffert.9 David Sunier wurde 1830 aufgefordert, zuerst 120 Franken für empfangene Unterstützungsgelder und Getreide sowie 18.80 Franken für erhaltene Hauszinsen an die Gemeinde Nodz zurückzuerstatten, bevor er Verena Haldi, geborene Kisling heiraten durfte.10 1832 forderte die Gemeinde Walkringen 206.20 Livre von Christen Althaus, sollte dieser Anna Bauer heiraten wollen.11 Die Reihe könnte problemlos erweitert werden. Die erwähnten Beispiele sind willkürlich aus dem Quellensample ausgewählt. Sie sollen lediglich demonstrieren, dass über den gesamten untersuchten nachhelvetischen Zeitraum die genauen Steuerbeträge in den Urkunden festgehalten wurden.

 

Da die untersuchten Quellen von einem obrigkeitlich besetzten beziehungsweise ab 1831 vom Rat gewählten Gericht produziert wurden, deuten die angezeigten Entwicklungen im Quellenmaterial an, dass die Richter im Sinne einer Formalisierung des Rechtsanspruchs gewillt waren, die prekarisierten Ehebegehren zunehmend nach kategorisch angewandten abstrakten juristischen Grundsätzen und Verfahrensregeln zu beurteilen.12 Durch die veränderten Rechtssprechungsprinzipien, die eindeutig in Kontinuität zu juristischen Reformdebatten während der Helvetik standen,13 begannen sich die zuvor kasuistischen Spielräume der zunehmend exklusiv auf ökonomischer Grundlage prekarisierten Taktiker im Feld der Eheschließung prinzipiell zu verengen.14 Die Richter wendeten im Nachgang der Helvetik das kodifizierte Gesetz zunehmend kompromisslos, unterschiedslos und technokratisch an.15 Damit sank der richterliche Ermessensspielraum, den das ständische Gnadenprinzip den paternalistischen Richtern unter dem Ancien Régime gewährt und der landesväterliche Güte zugelassen hatte. Wenn das Gericht auf der Grundlage von Beweismitteln urteilte, fällte es seine Entscheidungen auf vermeintlich objektiven verfahrensrechtlichen Grundlagen. Die Richter konnten aufgrund der angewendeten Rechtsgrundsätze immer weniger Gnade walten lassen, bis sie schließlich nach 1831 auch keine ‚gnädigen Herren von Bern‘ mehr waren, sondern gewählte Amtsrichter in den Diensten des werdenden bürgerlichen ‚Staats‘.16 Darin manifestiert sich jene säkulare Entwicklung, im Zuge derer sich aufgeklärt-bürgerliches Recht in Abgrenzung zu geburtsständischer Gnade zu definieren begann. Während das Gnadenprinzip ein konstitutives Element der frühneuzeitlichen Rechtsprechung der Ständegesellschaft gewesen war, mit dem auch die Ehe verwaltet wurde, wurde es in der entstehenden bürgerlichen Moderne zunehmend als „anachronistisches Willkürelement“ betrachtet.17 Damit verbunden zeichnete sich auch ein ständeübergreifender Gleichheitsbegriff im Oberehegericht und noch stärker akzentuiert im Amtsgericht ab, der die Helvetische Republik und ihre juristischen Reformdebatten anscheinend überdauerte. Denn der ‚Fakt‘ der Besteuerung, fortan das ausschlaggebende Kriterium für die Beurteilung prekärer Ehebegehren, machte zumindest im Grundsatz keinen Unterschied zwischen dem burgerlichen Angehörigen einer städtischen Korporation und dem unehelichen landlosen Tagelöhner auf der Berner Landschaft.18 Zugleich gingen damit die Offenheit und Gemeinschaftlichkeit des Aushandlungsprozesses um die Eheschließung zwischen Ehewilligen, Gemeinden und Korporationen sowie zentralen Institutionen zurück und wichen einem stärker bürokratisierten Vorgang. Die vormals multinormative „Koproduktion“ der Eheschließung nahm tendenziell auf Kosten einer obrigkeitlich, quasi staatlich monopolisierten Bestimmung ab.19

Ein prekäres Ehebegehren, das sich bereits 1805, also früh im hier untersuchten Zeitraum, ereignete und die eben beschriebenen Zusammenhänge zwischen ökonomischer Fokussierung, Beweismaterial und Handlungsspielräumen von AkteurInnen, Gemeinden und Gericht exemplarisch umreißt, war jenes des Witwers Joseph Frauchiger aus Eriswil und seiner Verlobten Barbara Sparr. Der Gemeindevertreter prekarisierte die Eheschließung mit dem gesamten Repertoire an bekannten Argumenten. Er attackierte den Ehewilligen „vorzüglich“ aufgrund seines hohen Alters, seines Körperzustands, seiner illegitimen sexuellen Vergangenheit und seines Besitzstands.20 Und auch die Vermögensverhältnisse und den „Ruf der Braut“, der maßgeblich auf der Grundlage ihres Sexualverhaltens angekratzt schien, zog er in Zweifel:21

„Frauchiger [sey] 70. Jahr alt, mit einem Leibschaden behaftet, mit einem unehelichen Kinde beladen, und wegen Unvermöglichkeit, sowohl unmittelbar (durch Hauszinse) als mittelbar, unterstüzt worden, und 2. auch die Sparr eben so übelmögend […].“22

Hier wurden vom Opponenten die Motive, Sinn und Zweck, die ökonomischen Grundlagen und die moralische Integrität der begehrten Eheschließung fundamental und in traditioneller Weise in Frage gestellt. Wirtschaftliche Zweifel, die beim körperlichen Zustand und Besitz des Mannes ansetzten, traten in der Argumentation des Gemeindevertreters neben moralische Bedenken, die sich wiederum aus dem Alter und der sexuellen Vorgeschichte des Ehewilligen ergaben. Dieses vielfältige, aber wenig spezifische Argumentarium versuchte den Ehewilligen in seiner ganzen Existenz zu prekarisieren und zeugte so gewissermaßen von der Kontinuität der frühneuzeitlichen Multinormativität in den Gemeinden. Doch die Brautleute vermochten an ihrem prekarisierten Ehevorhaben vorerst festzuhalten. Das gelang ihnen nicht etwa, weil sie haushaltsökonomisch argumentierend „behaupteten: daß eben das gegenseitige Bedürfniß und Hilfleistung sie schon mehrern Jahren zusammengebracht, und ihr Fortkommen gesichert habe“ und dadurch die Ehe als notwendige Versorgungsinstitution darstellen konnten.23 Sie waren nur deswegen zwischenzeitlich erfolgreich, weil sie die Besteuerung schlicht leugneten und der Gemeindevertreter beim Gerichtstermin die nötigen Unterlagen zu deren Beweis – Auszüge aus der Armenrechnung der Gemeinde – nicht vorlegen konnte. Doch nachdem die Gemeinde die vom Gericht geforderten Unterlagen innerhalb der vierzehntägigen Frist nachgereicht hatte, gestattete dieses den Ehezug ohne zusätzlichen Gerichtstermin und weitere Diskussionen „einmüthig“ und gnadenlos.24