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Prekäre Eheschließungen

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Die Haltung des Berner Rats und des von ihm besetzten Oberehegerichts – das, wie gezeigt, wiederholt in moralisierendem Duktus beredtes Zeugnis über den sittlichen Zustand der Bevölkerung ablegte und in spezifischer Weise in Zusammenhang mit wachsender Armut brachte – fügte sich widerspruchsfrei in die allgemeinen zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Debatten. Diese wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Bern wesentlich weniger kontrovers geführt als noch im Ancien Régime, als Vertreter eines tendenziell merkantilistisch gefärbten Populationismus mit Verfechtern physiokratisch akzentuierter Ideen von begrenzten landwirtschaftlichen Ressourcen über die richtige Ehepolitik debattierten und der Ausgang der Debatte nahezu unentschieden blieb. Während vor 1800 „[d]ie Staatsräson und der Glaube an die rationale Perfektibilität der menschlichen Gesellschaft“ bevölkerungspolitische Positionen hervorbrachte, die das Bevölkerungswachstum propagierten, überwog nun das moralische Misstrauen gegenüber den besitzlosen und armen Schichten in der Gesellschaft.43 Die bevölkerungspolitischen Diskussionen wurden eindeutig vom Pauperismus dominiert.44 Auf kantonaler Ebene wurde die Armutsdiskussion durch Preisfragen der Regierung angeregt, die sich darum drehten, wie den wachsenden Problemen im Armenwesen beizukommen sei.45 Außerdem wurde die Thematik in den Topographischen Beschreibungen der Oekonomischen Gesellschaft von Bern verhandelt, deren Bedeutung im 19. Jahrhundert jedoch abnahm.46 Daneben verlagerte sich die öffentliche Diskussion rund um die ‚richtige‘ Bevölkerungspolitik in zunehmendem Maße auf die gesamteidgenössische Ebene in der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.47 Auch daran beteiligten sich namhafte Berner.48 An ihren Versammlungen nahm auch der oben erwähnte Gotthelf teil.49 Die Gesellschaft wurde 1810 gegründet. Ihre Mitglieder, die aus der zeitgenössischen bürgerlichen Elite bestanden, sahen die Sozietät damals in der Tradition der Helvetischen Gesellschaft und verfolgten aufklärerisch-patriotische Ziele. Die Armutsbekämpfung genoss unter ihren liberalen Mitgliedern neben Bildungsfragen höchste Priorität und blieb mindestens bis 1860 virulent.50 Dabei bewiesen ihre Protagonisten, dass sie zwischen Liberalismus und restriktiver Ehepolitik keinen unüberwindbaren Widerspruch entdeckten.51 Vielmehr erachteten viele einflussreiche Mitglieder in Anbetracht der prekären zeitgenössischen Verhältnisse in dieser Politik eine quasi zivilisatorische Antwort auf die sogenannte ‚soziale Frage‘, wenn sie höhere Ehehürden als probates Instrument zur Bekämpfung der Armut propagierten.52

1.4 Neue Gesetze ohne Folgen? Zivilgesetzbuch (1824/26) und Verfassungsrevision (1830/31)

Die aufgezeigten Entwicklungen im bevölkerungspolitischen Diskurs, die auf der einen Seite weltanschauliche Toleranz und auf der anderen Seite eine restriktive ehepolitische Einstellung gegenüber den Armen mit sich brachten, liefen teilweise parallel zu formalen rechtlichen Neuerungen. Aus der Verbindung von Bern mit dem Gebiet des ehemaligen Fürstbistums Basel, das vor dem Wiener Kongress zu Frankreich gehörte und daher bereits unter napoleonischem Zivilgesetz gestanden hatte, entstand das Bedürfnis, die erneuerte Gerichtssatzung von 1761 und damit einhergehend die Ehegerichtssatzung zu überdenken. Bevor sie im neuen Kantonsteil eingeführt werden sollte, wollte sie die Regierung revidieren. Dazu setzte der Große Rat 1817 eine Gesetzgebungskommission ein mit dem anfänglichen Auftrag, die alten Gesetze zu ergänzen. Das Resultat am Ende des Revisionsprozesses war das Civilgesetzbuch für den Kanton Bern. Es umfasste zwei Teile, wobei hier der erste Teil von Interesse ist. Dieser beinhaltete das Eherecht. Verabschiedet wurde dieser Teil von den Räten 1824. Er trat zwei Jahre später in Kraft.1 Der Berner Historiker Beat Junker, Autor einer zweibändigen Geschichte des Kantons in der Zeit zwischen Helvetik und Bundesstaatsgründung, weist diesem Ereignis eine fundamentale Bedeutung in der Geschichte des Berner Patriziats bei. Er nennt es den „Spatenstich zum Grabe [von dessen] politische[r] Herrschaft“, weil die Patrizier damit den Anstoß dazu gaben, Statuarrechte von Städten und Landschaften aufzuheben, indem sie durch das neue Gesetz vereinheitlich werden sollten.2 Folglich stellt sich in dieser Untersuchung die Frage, wie erschütternd das Civilgesetzbuch für den Kanton Bern im Bereich der Eheschließung für die im ständisch-patriarchalen System Mächtigen war.3 Welche Veränderungen brachte dieses Gesetzbuch in Bezug auf die Prekarisierung von Eheschließungen im Verhältnis zur nach der Helvetik wieder eingesetzten und punktuell angepassten ständisch-patriarchalen Ehegerichtsordnung?

Die grundlegendste Veränderung im Bereich der Ehegesetzgebung betraf das Verhältnis zwischen Verlobung und Einsegnung. Bereits das oben erwähnte 1821 neu eingeführte Paternitätsgesetz hatte dazu geführt, dass Verlobungen von schwangeren Frauen nur noch unabhängig von der Vaterschaftsfrage eingefordert werden konnten. Das erhöhte den Aufwand für Frauen und machte das Verfahren umständlicher. Mit dem Zivilgesetzbuch stellte das Eheverlöbnis überhaupt kein „Zwangsrecht“ mehr dar.4 Laut Gesetz hatten Verlobungen den Status vertraglich bindender Übereinkunft verloren. Ihre Erfüllung konnte folglich nicht mehr gerichtlich erzwungen werden.5 Wenn sie vor einem Notar geschlossen wurden, konnten höchstens Entschädigungen erwirkt werden.6 Dadurch gewann die Trauung deutlich an Relevanz, während die Verlobung zu einer Sache „der Sittlichkeit und der Ehre“ herabgesetzt wurde.7 Dem Gesetzeskommentar zu der entsprechenden Satzung zufolge wurde damit in der Logik des Gesetzes auf die „nachtheiligen Folgen“ reagiert, die entstanden, wenn „eine Weibsperson einem Manne, der ihr auf den Fall einer Schwangerschaft die Ehe versprochen, die ehelichen Rechte vorläufig gestattet[e]“.8 Wie mit dem Paternitätsgesetz wurde auch hier primär auf das vermeintliche Fehlverhalten der Frauen reagiert. Denn sie gewährten den Männern den Geschlechtsverkehr angeblich im Gegenzug für Verlobungen:

„Sobald es einmal gesetzlich ausgesprochen ist, daß ein einfaches Eheverlöbniß keine rechtliche Verbindlichkeit begründe, wird keine Weibsperson mehr durch das Gesetz verleitet dem Verlöbnisse dadurch größere Kraft zu geben, daß sie ihrem Verlobten einen dermal noch unerlaubten Umgang gestattet.“9

Das Gesetz musste in seiner internen Logik die Männer vor „Uebereilung und Betrug schützen“, weil sie „durch die Eingehung einer Ehe über ihre wichtigsten sittlichen und ökonomischen Interessen verfügt[en]“.10 Diese Veränderung betraf nicht den Kern prekärer Eheschließungen, wo zwei Menschen, die sich konsensual die Ehe versprachen, an der Trauung gehindert wurden. Sie deutete aber an, dass voreheliche Schwangerschaften auch in diesem Fall möglicherweise vor Gericht nicht mehr dasselbe Druckmittel zur Durchsetzung prekärer Eheschließungen gegenüber Eltern und Gemeinden darstellten wie bis anhin.

Alles, was zuvor die einvernehmlichen Eheschließungen prekarisieren konnte, blieb auch im Zivilgesetz mehr oder weniger unverändert bestehen oder wurde verschärft: Das Ehemündigkeitsalter wurde für beide Geschlechter um zwei Jahre erhöht: Frauen mussten 16, Männer 18 Jahre alt sein, um eine gültige Ehe eingehen zu können.11 Allerdings bedurften sie bis zur Volljährigkeit der Zustimmung der Vormundschaft. Im Fall von unehelich Geborenen und Besteuerten mussten die betroffenen Gemeinden oder Korporationen nach wie vor ihr Einverständnis erklären. Somit stand diesen gegenüber Minderjährigen, Bevormundeten und Besteuerten de facto das Zugrecht zu, auch wenn es im Gesetz nicht mehr so bezeichnet wurde.12 Obwohl die Ehe im Zivilgesetzbuch „nicht durch das bürgerliche Gesetz, sondern durch die weit höhere Gesetzgebung der Natur eingeführt [war]“, stellte sie nach wie vor ein Privileg besitzender Klassen dar.13 Menschen in Ermangelung ausreichenden Vermögens konnten davon abgehalten und von der legitimen Sexualität ausgeschlossen werden. Die Volljährigkeit war nach dem Zivilgesetzbuch mit Vollendung des 23. Lebensjahres erreicht. Dies entsprach der Bestimmung der Ehegerichtssatzung von 1787.14 Die körperlichen und geistigen Hinderungsgründe blieben bestehen.15 Die Eheschließungen mussten nach wie vor im öffentlichen Gottesdienst an drei Sonntagen im Heimat- und im Wohnort der Brautleute vom jeweiligen Pfarrer verkündet werden. Die Verkündigungen hatten den expliziten Zweck „Ehehindernisse […] in Erfahrung zu bringen“.16 Als solche galten: eine bereits bestehende andere Ehe, vorgängig begangener Ehebruch durch das heiratswillige Paar, sowie die verschiedenen Verwandtschaftsgrade, die bereits zuvor verboten waren. Ehen zwischen Geschwisterkindern waren ebenso wie konfessionsübergreifende Verbindungen weiterhin zulässig.17 Witwen sollten sich nicht vor Auslauf des Trauerjahrs wiederverheiraten. Geschiedene hatten wie zuvor eine Wartezeit von einem Jahr einzuhalten. Grund dafür waren mögliche vom Mann herrührende Schwangerschaften.18 Auch die juristischen Zuständigkeiten bei Eheeinsprüchen, die dem Pfarrer angezeigt werden sollten, blieben beim Oberehegericht, das nach wie vor durch die beiden Münsterpfarrer mit zwei kirchlichen Vertretern besetzt war.19 Außerdem repräsentierten die Pfarrer nach wie vor eine Art Standesbeamte im Dienste der Regierung. Sie mussten die Trauungen öffentlich in der Kirche vollziehen und die Zivilstandsregister führen.20 Die vollständige Säkularisierung der Eheschließung war also mit dem Zivilgesetzbuch noch nicht abgeschlossen.21 Alles in allem stellte es im Bereich des Eherechts keine effektiven Neuerungen dar, sondern festigte den status quo. Indem die Ehegesetzgebung ambivalent zwischen Naturrecht und besitzständischem Privileg in die allgemeine Zivilgesetzgebung eingepflegt wurde, vollzog die Berner Regierung, was man die Rekonstruktion der Machtverhältnisse unter veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen nennen könnte.22 Am ambivalenten Charakter der Ehegesetzgebung veränderte sich auch mit der Verfassungsrevision im Vorfeld der Regenerationszeit nichts. Die Überarbeitung führte zu einer ziemlich grundlegenden Umwandlung der Gerichtsorganisation.23 Die Zivilgesetzgebung wandelte sich aber im Hinblick auf die hier analysierten prekären Eheschließungen bis ans Ende des Untersuchungszeitraums nicht mehr grundlegend.24 Erst die revidierte Bundesverfassung und das entsprechende einheitliche Eherecht von 1874, gegen das das Referendum ergriffen und 1875 vom Stimmvolk angenommen wurde, führte die Ehe in ein persönliches Freiheitsrecht über und verunmöglichte dadurch die besitzständischen Hinderungsgründe in Bern. Zudem konnten die Eltern ihr Veto gegen eine ihnen unliebsame Eheverbindung nur noch bis zum 20. Lebensjahr ihrer Kinder geltend machen. Auch die Beurkundung des Zivilstands erfolgte in Bern erst jetzt durch die bürgerlichen Behörden und machte die zivile Trauung vor der kirchlichen notwendig.25 Deswegen kann der nachhelvetische Zeitraum in Bern in Bezug auf seine ehegesetzlichen Normen und bevölkerungspolitischen Debatten bis zur Bundesstaatsgründung zweifellos als Einheit untersucht werden. Diesen Befund bezüglich des normativen Rahmens gilt es mit Blick auf die Taktiken der Ehewilligen und Opponierenden sowie die praktischen Strategien der Richter im Folgenden zu prüfen.

 

2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht und dem Amtsgericht, 1803–1848

Es konnte festgestellt werden, dass die Ehegesetzgebung und der bevölkerungspolitische Diskurs nach der Helvetik maßgeblich von drei Faktoren geprägt waren: Erstens bestand die Antwort des Patriziats auf den Schock der Helvetik in einer Restitution des ehegesetzlichen Zustands des Ancien Régimes. Diese Reaktion führte weg von einer aufklärerisch-grundrechtlichen Eheauffassung hin zu einem besitzständischen Privilegienverständnis. Zweitens blieb trotzdem ein gewisser Grad an religiös-konfessioneller Toleranz bestehen, die Cousinenheiraten und konfessionsübergreifende Ehen in zunehmendem Maße möglich machte. Drittens war der bevölkerungs- und damit der ehepolitische Diskurs maßgeblich vom Phänomen des Pauperismus geprägt. Dieser Diskurs machte zunehmend die Frauen für den wahrgenommenen Sittenzerfall verantwortlich. Im Folgenden soll für den nachhelvetischen Zeitraum untersucht werden, wer die eigensinnigen AkteurInnen und ihre Kontrahenten vor Gericht waren. Zudem soll geklärt werden, in welcher Weise sich ihre Taktiken in Anbetracht der sich ausdifferenzierenden und professionalisierenden Verwaltung im Kanton Bern entwickelten.

2.1 Anhaltend vielfältig und exogam, zunehmend mittellos und kriminell

Für die nachhelvetische Zeit zeigt sich in Bezug auf die soziale Verteilung der prekarisierten Eheschließungen in vielerlei Hinsicht ein ähnlich vielfältiges Bild wie für das Ancien Régime und die Helvetik: Zum einen liefern die Quellen auch jetzt keine durchgängigen Informationen zu Rechtstiteln, Berufen und anderen Parametern, die eine umfassende soziale Klassifikation aller Ehewilligen zulassen würden. Zum anderen erlauben die vorhandenen Angaben dennoch die Aussage, dass die Eheschließung nach wie vor aus allen Schichten und Ständen begehrt wurde, aber im Gegenzug auch prekarisiert werden konnte. Auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verhieß sie für Frauen und Männer aller sozialen Stratifikate und aus allen Regionen eine grundlegende Verbesserung der Lebensumstände. Trotz der Lücken in der Überlieferung zu den Profilen der Eheleute ist zudem zu vermerken, dass ab 1803 aus den Quellen einige zusätzliche Angaben zu den AkteurInnen zu erfahren sind. Sie sind zum Teil auch in ihrer Qualität neu und zeichnen die Konturen der sozialen Profile der Ehewilligen schärfer als zur Zeit der reformabsolutistischen Herrschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert. Neue Akzente zeigen an, auf welche sozial klassifizierenden Parameter die Richter unter den veränderten gesellschaftspolitischen Verhältnissen nach der Helvetik achteten.

Während aus dem vom Gericht produzierten Quellenmaterial für das Ancien Régime lediglich in elf von 61 Fällen (ca. 18%) die genaue Berufsbezeichnung des involvierten Mannes in Erfahrung gebracht werden konnte, erhält man aus den Rekurs- und Konsistorialmanualen doppelt so viele entsprechende Angaben (23) auf 73 Fälle (ca. 32%). Daraus gehen allerdings bezüglich des Berufsstandes der ehewilligen Männer keine neuen Erkenntnisse hervor. Die Angaben weisen in dieselbe Richtung: Mehr als die Hälfte der beruflich identifizierten Männer gingen Handwerksberufen nach (13), wenn auch solchen mit sehr unterschiedlichem gesellschaftlichem Ansehen. Der ehemalige Bäcker mit Burgerrechten in Bern1 begehrte die Eheschließung ebenso wie der im Armenhaus wohnhafte, verdingte Schleifer aus Burgdorf2 oder der verwitwete Dachdecker aus Eggiwil.3 Zudem war in den Quellen von drei agrarwirtschaftlich tätigen Männern die Rede, einer davon ein Lehensbauer.4 Der zweite pachtete sein Grundstück.5 Der dritte wurde lediglich als Landwirt bezeichnet.6 Die unterschiedlichen Bezeichnungen der Landwirte weisen auf eine soziale Streuung innerhalb desselben Berufsfeldes hin. Erneut waren die expliziten Angaben zu agrarischen Berufen massiv unterrepräsentiert, wenn man bedenkt, dass in Bern der Übergang von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft zu diesem Zeitpunkt keinesfalls abgeschlossen war und immer noch der größte Teil der Bevölkerung von der Arbeit im landwirtschaftlichen Sektor lebte.

Da aber wiederum eine deutliche Mehrheit der Ehewilligen eine ländliche Herkunft aufwies, im Rekurs- und im Konsistorialmanual vom Schreiber jedoch keine Berufsbezeichnungen aufgeführt wurden, kann darauf geschlossen werden, dass ein beträchtlicher Teil dieser Menschen ihr Auskommen in Abhängigkeit von der regionalen Landwirtschaft verdienen musste. Besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten diese jedoch oft in instabilen Arbeits- und Wohnverhältnissen. Sie versuchten sich als Tagelöhner in der Landwirtschaft zu verdingen oder mussten zwischenzeitlich gewerblichen und heimindustriellen Tätigkeiten nachgehen.7 Die hier beschriebene Zeit war, wie bereits zu erfahren gewesen ist, für große Teile der ländlichen Bevölkerung in Bern von Arbeits- und Ressourcenmangel geprägt.8 Wem es nicht gelang, ein hinreichendes Auskommen zu finden, der/die musste „dem Bettel nachziehe[n]“ und hoffen, dass er dabei nicht erwischt wurde.9 Konkrete Berufsbezeichnungen konnten also auch gerade „wegen Mangels an einem Beruf“ und des Zwangs zu räumlicher und beruflicher Flexibilität fehlen.10 Dass diese Menschen, denen gewissermaßen ein fester Beruf fehlte, dennoch zu heiraten versuchten, verweist auf die existenziellen Hoffnungen, die viele Zeitgenossen mit einer Eheschließung verbinden mussten. Die materielle und emotionale Gemeinschaft mit einer Ehepartnerin oder einem Ehepartner versprach eine gewisse Stabilität und eine Erleichterung angesichts der prekären Lebensumstände. Die restlichen verlobten Männer, deren Beschäftigungen in den Urkunden ausgewiesen wurden, gingen tendenziell bürgerlichen Berufen in der Verwaltung und im Militär nach (7). Auch in Bezug auf diese soziale Gruppe stellt sich die Frage, inwiefern diese Akteure das gleiche soziale Schicksal teilten, wenn der eine Söldner in neapolitanischen Diensten war,11 der andere Buchhalter in Bern12 und der dritte Landjäger in Oberhofen.13 Weitere Nachforschungen wären notwendig, um zu klären, inwiefern die Zunahme der Angaben zur Profession mit einer Verschiebung von einer geburtsständischen hin zu einer stärker bürgerlich geprägten Gesellschaft interpretiert werden kann.14 Von einer abnehmenden Bedeutung von Herkunft und Rechtstiteln ist angesichts der angeführten Bezeichnungen in den ehegerichtlichen Akten jedoch nicht auszugehen. Aus ihnen erfährt man von 15 prekarisierten Akteuren, die zur Burgerschaft von Bern gehörten.15 In einem weiteren hier untersuchten Fall handelte es sich um einen mit Landesverweis belegten Mann, der dadurch seine Landes- und Burgerrechte verloren hatte.16 Zwei besaßen Burgerrechte in Munizipalstädten.17 Nur in drei Fällen protokollierte der Gerichtsschreiber, dass der Mann ein Hintersasse,18 ein Heimatloser19 oder ein Landesfremder20 war. Wiederum ist es also so, dass vermutlich vor allem dann Angaben zu Stand und Beruf gemacht wurden, wenn die Betroffenen der Aristokratie angehörten oder einem handwerklichen Beruf nachgingen.

In Bezug auf die Akteurinnen prekarisierter Ehebegehren zeigen sich ähnliche Tendenzen wie bei den Männern. Wiederum erhält man im Vergleich allerdings deutlich weniger Informationen zu den involvierten Frauen als zu ihren männlichen Pendants. Dennoch existieren mehr Angaben zu Beruf und Geburtsstand als unter dem Ancien Régime. Während die Rekursmanuale bis 1798 für drei Frauen Berufsbezeichnungen ausgewiesen hatten, sind im Untersuchungszeitraum seit 1803 die Beschäftigungen von neun Frauen bekannt. Vier von ihnen waren Mägde oder Dienstbotinnen.21 Weitere vier gingen Handarbeiten im Bereich der protoindustriellen textilen Heimarbeit nach – was andeutet, welche neuen Tätigkeitsfelder sich für Frauen zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch im industriell relativ rückständigen Bern zunehmend eröffneten.22 Eine Frau wurde explizit als Bettlerin bezeichnet.23 Daneben erfährt man auch zu einigen Frauen von ihrem geburtsständischen Status, wobei diese Informationen ebenfalls auf große soziale Unterschiede zwischen den Ehewilligen hindeuten. Sowohl Landsassinnen (3),24 Hintersassinnen (2),25 landesfremde Frauen (3)26 als auch Bernburgerinnen (4)27 erstrebten Eheschließungen, gegen die Einspruch erhoben wurde.

36 Fälle erlauben im Zeitraum nach der Helvetik Rückschlüsse zur sexuellen Vorgeschichte prekärer Ehebegehren.28 In mindestens 17 Fällen lag beim Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung eine Brautschwangerschaft vor.29 Zahlreiche Paare hatten bereits im Vorfeld der Verhandlung ein uneheliches Kind oder nicht selten auch schon mehrere uneheliche Kinder miteinander gezeugt. In einigen Fällen brachte der Mann oder die Frau bereits unehelichen Nachwuchs aus vorausgegangenen sexuellen Kontakten in die begehrte Ehe ein. Alle diese Kinder drohten die kommunalen Ressourcen und das Armengut der Heimatgemeinde des Mannes zu belasten. Die Illegitimität eines Teils des Paares oder der Verlobten miteinander kennzeichnete also auch nach 1803 zahlreiche prekäre Ehebegehren. Darüber hinaus stieg der Anteil exogamer Ehebegehren an der Summe der prekären Eheaspirationen nach dem helvetischen Intermezzo von 72% (44) auf 88% (64).30 Ehebegehren mit illegitimer sexueller Vorgeschichte und exogamer Konfiguration stellten für die Gemeinden der Männer offensichtlich ein erhöhtes Risiko für eine allfällige Belastung der kommunalen Ressourcen dar und wurden in der Folge verhältnismäßig häufig durch Einsprachen prekarisiert. Außerdem nahm in Bern die räumliche Mobilität mit der Niederlassungs- und Gewerbefreiheit, aber auch der wachsenden Armut zu. Das begünstigte die exogamen Verbindungen zunehmend.

Eheschließungsbegehren, die auch im Zeitraum nach der Helvetik verhältnismäßig oft prekarisiert wurden, weil sie nach wie vor nicht der moralischen Ökonomie der Gemeinden und Korporationen entsprachen, waren jene von Witwen und Witwern. Der Anteil von Fällen, in denen mindestens eine Seite verwitwet war, stieg im Vergleich zum Ancien Régime sogar an. Vor dem Oberchorgericht waren in rund 18% (11 von 61) der prekären Eheschließungen verwitwete Personen involviert gewesen. Nun stieg der Anteil auf ca. 26% (19 von 73) an.

Während in den bisher angestellten Beobachtungen die Parallelen zum Ancien Régime überwiegen – eine große soziale Streuung bei ähnlichen sexuellen und exogamen Konfigurationen und einem relativ hohen Anteil verwitweter Personen – existieren auch Unterschiede zwischen den beiden Zeitperioden. Erstens erhält man seit 1803 wesentlich öfter Informationen zum prekären Besitzstand der Eheleute als zuvor. Darin kommt jenes ökonomisch-materielle Element zum Vorschein, das vor allem die ehewilligen Männer prekärer Eheschließungen im Zeitraum nach der Helvetik am stärksten miteinander verband. Unabhängig davon, aus welchem Stand oder Beruf die Betroffenen kamen, erschienen sie in der Mehrheit der Fälle arm, mittel- oder vermögenslos und erhielten daher Unterstützungsleistungen ihrer Gemeinde oder Korporation, waren also besteuert, oder drohten zumindest durch die Eheschließung endgültig armengenössig zu werden. Dieser Umstand zeigt in Kombination mit der großen sozialen Vielfalt der Akteure, dass man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgrund der wirtschaftlichen Strukturveränderungen in Bern sowohl als Burger als auch als einfacher Handwerker oder Landwirt in die Armut geraten konnte oder in Abhängigkeit vom Stand für arm befunden wurde. Gleichzeitig zeigt sich, dass der Geburtsstand als soziales Kapital gegenüber dem Besitzstand, also dem gewissermaßen monetären oder monetarisierbaren Kapital, in Anbetracht einer allgemeinen Ökonomisierung allmählich an Bedeutung verlor.

 

Zweitens fällt auf, dass der Gerichtsschreiber ab 1803 parallel zu den vermehrt prekären materiellen Umständen der Ehewilligen verhältnismäßig oft eine kriminelle Vorgeschichte von Ehewilligen protokollierte. In einer Rekursurkunde ist von einem Mann zu lesen, der zuvor in vierzehntägiger Haft gesessen hatte.31 Andere hatten vorgängig fünfjährige Kettenstrafen absitzen müssen oder bereits eine Schellenwerkstrafe verbüßt.32 Einige waren schon im Zuchthaus oder in anderweitiger Gefangenschaft gewesen.33 Es ist aus den Quellen auch von ehewilligen Frauen zu erfahren, die Schellenwerk hatten verrichten müssen,34 vierzehntägige Haftstrafen abgesessen hatten35 oder anderweitig inhaftiert gewesen waren.36 Gewisse von ihnen waren ein oder sogar mehrere Male in Zuchthäuser gesteckt worden37 – eine wegen des Verdachts auf Infantizid.38 Zum Teil war die Kriminalisierung der Ehewilligen in der sprachlichen Logik der Quelle unmittelbar mit ihren prekären Vermögensverhältnissen verschränkt, wenn zum Beispiel „der mittellose Trachsel, und noch mehr aber die Theiler [die aufgrund ihres vierten unehelichen Kindes ins Arbeitshaus musste, AH], sich schlecht aufgeführt haben“ sollen.39 Aufgrund der Verschränkung von Armut und Kriminalität beziehungsweise Sittendelinquenz in der Logik der Opponierenden zeigt sich, dass moralische Kriterien zu Beginn des 19. Jahrhunderts in verstärktem Ausmaß in Zusammenhang mit Armut gebracht wurden.40 Diese Beobachtung ist auffällig analog zum Befund bezüglich der normativen Stoßrichtung der Ehegesetzgebung und der bevölkerungspolitisch dominanten Position in den öffentlichen Debatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie gilt es nachfolgend in ein Verhältnis zu setzen zu den Taktiken der Opponierenden und den Strategien des urteilenden Gerichts. Zuvor sollen im nächsten Abschnitt allerdings diejenigen identifiziert werden, die die Eheschließungen prekär werden ließen.