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Prekäre Eheschließungen

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1 Normen und Debatten: Status quo ante?

Nachdem die allgemeinen politischen Entwicklungen in groben Zügen nachgezeichnet wurden, stellt sich die Frage, welche Entwicklungen sich auf der Ebene der Normierung der Eheschließung und im Rahmen zeitgenössischer bevölkerungspolitischer Debatten feststellen lassen. Bestätigen diese Entwicklungen das allgemeine Narrativ einer stark ausgeprägten Restauration nach der Helvetik, gefolgt von einer stark liberal akzentuierten Regeneration? Diese Frage gilt es im vorliegenden Kapitel zu klären. Damit wird der „vorfabrizierte Raum“ abgesteckt, in dem sich die Berner AkteurInnen prekärer Eheschließungen mit ihren Taktiken unter den veränderten Verhältnissen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bewegen mussten.1 Die Zeit nach 1800 kann grob in zwei eherechtliche Phasen aufgeteilt werden. In der ersten Phase, ab 1803, galt formell wieder die alte und religiös begründete Ehegerichtsordnung von 1787. Diese wurde Ende 1824 von der Ehegesetzgebung des Civilgesetzbuchs abgelöst. Diese zunächst rein formale Einteilung wirft allerdings die Frage auf, inwiefern sich die Gesetze in Bezug auf die Möglichkeiten zur Prekarisierung von Eheschließungen tatsächlich unterschieden, beziehungsweise welche Handlungsräume sie den Ehewilligen faktisch eröffneten. Diesen Fragen widmen sich die folgenden Ausführungen.

1.1 Die Restitution der alten Ehegerichtsordnung
Die ‚Unordnung‘ der helvetischen Ehegesetzgebung

In Bern wurden zur Aufrechterhaltung der Sitten und zur „Befestigung des Hausfriedens sowie der ehelichen Verbindungen“ das „ordentliche Gericht […] und überhaupt die alte bewährte Einrichtung Unserer Chorgerichte und Ehrbarkeiten“ nach dem Ende der Helvetischen Republik sofort wieder eingesetzt.1 Es war eine der ersten Verordnungen, die unter der neuen alten Regierung erlassen wurde. Die letzte revidierte Ehegerichtsordnung unter alter Herrschaft von 1787 wurde am 8. Juli 1803 vom neuen Berner Rat tel quel restituiert: „Dem Oberen Ehegericht kommen alle die Rechte und Befugnisse zu, welche die Ehegerichts-Satzung vom Jahre 1787. dem ObernEhegericht ertheilt.“2 Damit war die anfängliche ehepolitische Stoßrichtung in eindeutiger Weise geklärt. Sie entsprach vollkommen der allgemeinen politischen Ausrichtung: Berns Obrigkeit wollte im Bereich des Eherechts unmittelbar zurück zu vorhelvetischen Zuständen, als Eheschließungen gesetzlich im Sinne eines Privilegs verknappt und damit prekarisiert wurden.

In Anbetracht der Praxis der Verkündigungsdispensen waren die wiedereingesetzten Eherichter – die, wie in den Ausführungen zum Ancien Régime zu sehen gewesen ist, ihre Urteile oftmals mehrstimmig fällten – am 10. August 1803 „über den Nachtheil der häufigen Enthebungen von jener gesetzlichen Vorschrift der öffentlichen Verkündigungen ganz einmütig“.3 „[D]ie schon vor der Revolution, besonders aber seither, sich eingeschlichenen Missbräuche“ im Zusammenhang mit den prekären Ehen sollten aus der Sicht der neuen alten Machteliten sofort wieder unterbunden werden.4

„[D]iese Nachlaßung [war] zufolge der Ehegerichtssatzung […] nur in Nothfällen, oder für geistl[iche] und weltliche Beamten erlaubt, hat aber bey den ausgedehnten schwer zu beobachtenden Schranken öftere Unordnungen veranlaßt. Dermal nun scheinen die ordentlichen Verkündigungen immer nöthiger zu werden, theils überhaupt wegen der zunehmenden Sittenlosigkeit, theils auch wegen der vielen Fremden, und theils endlich wegen der übrigen Abschaffung hiesiger bürgerlichen Vorrechte.“5

Das burgerliche Privileg der Diskretion im Vorfeld der kirchlichen Einsegnung,6 das im Zuge der helvetischen Revolution durch die Petitionen der AkteurInnen und deren Verwaltung demokratisiert worden war, schien der neuen alten Herrschaft von Bern und ihren obersten Eherichtern zu Beginn der neuen Ära ein Dorn im Auge zu sein. Das Unbehagen war so groß, dass es das wiedererstarkte Patriziat dazu veranlasste, zu Gunsten der gesellschaftlichen Ordnung auf eigene ehemalige Vorrechte zu verzichten. Durch die ausnahmslose Anwendung der rechtlichen Pflicht der Eheverkündigung auf alle gesellschaftlichen Gruppen wurden also ständische Privilegien in der Tendenz gleichwohl unterhöhlt. Zwar mussten die Burger ihre Eheschließungen nur im Berner Münster verkünden, bevor sie sich trauen lassen durften. Doch war im neuen Dekret vom 12. November 1804 auch in Ausnahmefällen davon keine Enthebung mehr vorgesehen.7 Dennoch versuchten heiratende Burger und Eherichter in der Folge wiederholt, ihre durch die Helvetik erschütterten ehelichen Privilegien in Anbetracht der ausgesetzten Verkündigungsdispensen wiederholt zu restituieren.8 Der angestrengte Versuch der eherechtlichen Restauration, der, wie de Certeau sagen würde, die „Beherrschung der Zeit durch die Gründung eines autonomen Ortes“ wiederherzustellen und „aus den errungenen Vorteilen Gewinn zu schlagen“ beabsichtigte,9 zeigte sich zum Beispiel in einer Diskussion zwischen Rat und Oberehegericht 1808. Nach der aufgezeigten vorläufigen Einmütigkeit bezüglich der Aufhebung von Eheverkündigungsdispensen zu Beginn der Mediation musste nun das Oberehegericht selbst von der Regierung getadelt werden. Es gewährte nämlich dem Sachmagazinverwalter Wild „[auf] das Ansuchen eines [seiner] Mitglieder“ die Befreiung von der dritten Verkündigung. Die Obereherichter bezogen sich in der Rechtfertigung der gerügten Dispensierung darauf, dass mit der Einsetzung der Mediationsakte 1803 die Ehegerichtssatzung von 1787 wieder in Kraft getreten sei. Mit dieser seien ihnen wieder sämtliche alten Befugnisse zugesprochen worden. Dabei war das oben erwähnte Schreiben an den Kleinen Rat von 1803 nicht etwa vergessen gegangen. Vielmehr hätte die darin vertretene Position nie Eingang in die Ehegerichtsordnung gefunden, so die Obereherichter. Es läge lediglich ein handschriftlicher Beschluss des Schultheißen und Kleinen Rates vor. Weil aber die Mitglieder bei ihrer Amtseinsetzung jeweils auf die gedruckte Ehegerichtsordnung schwören würden, könne man sich seitens des Kleinen Rats nicht auf den ungedruckten Beschluss berufen.10 Damit gab das Oberehegericht in derselben Stellungnahme zu erkennen, dass man es 1808 – als die neue alte Regierung wieder seit fünf Jahren etabliert war – für „unzwekmäßig“ hielt, „etwas an der Ehegerichts-Sazung zu ändern“.11 So zeichnete sich hier in Bezug auf die ständischen Privilegien innerhalb des obersten Berner Ehegerichts eine eindeutig restaurative Tendenz ab, auch wenn es dabei blieb, dass die Verkündigungsdispensen auch in Zukunft für die Aristokratie nicht mehr vorgesehen waren.

Aber nicht nur die alten Ehegerichte, die vormaligen Ehegesetze und das Verbot der Verkündigungsdispensen wurden mit der Mediationsverfassung rehabilitiert. Auch im Umgang mit den unehelich Geborenen kehrte man zu alten Gepflogenheiten zurück und führte die Einzugsgelder für auswärtige Frauen und Fremde wieder ein. Während sich unehelich Geborene in der Helvetischen Republik den ehelichen Status nachträglich erwerben konnten, wurden die Pfarrer von Bern am 18. November 1803 angehalten, „kein Kind in den Taufrodel als ehelich ein[zu]tragen, es sey denn der eheliche Stand des Vaters und der Mutter aus dem Eherodel oder Heyrathsschein zu ersehen“.12 Der Geburtsstand hatte offensichtlich seine alte Bedeutung wiedererlangt.

Einige Jahre später, am 27. September 1815, wurden die Eherichter von der Regierung nach der Ursache der Sittenverderbnis gefragt. Sie antworteten unumwunden und ganz im oben präsentierten politischen Geist der Zeit:

„Die durch die politischen Ereigniße unsrer Zeiten erzeugten, durch die zahllose Menge von Neuerern und sogenannten Aufklärern genährte und großgezogene, schiefe Richtung, vorzüglich der jugendlichen Gemüther, wo durch jegliches Band der bürgerlichen Ordnung zerrissen, und sowohl die positiven Religionslehren, als auch die gesellschaftlichen Verhältniße, welche den Strom gefährlicher Leidenschaften aller Art eindämmen, […] darniedergetreten werden.“13

Es fällt in der Zeit nach der Helvetik für Bern auf, dass die Helvetische Republik von den wieder an die Macht gelangten alten Eliten in Anbetracht der Eheschließung eindeutig als Zeit der Unordnung und Erschütterung interpretiert respektive zurückgewiesen wurde.14 Was durch die aufklärerischen Behörden der Helvetischen Republik zerstört worden war – „indem der Rath damals nicht mehr existierte“ und die gesetzestreuen Menschen „nicht einmal gewußt, bey welcher Behörde [sie] sich […] zu melden hätte[n]“15 – musste jetzt wieder restauriert werden. Aufklärer erschienen nun als Blender, die Chaos stifteten. Der ausufernde, unkontrollierte Strom gefährlicher Leidenschaften, der mit den Petitionen um Verkündigungsdispens alle Dämme gesellschaftlicher Ordnung niedergerissen hatte, musste schleunigst wieder in gesetzlichen Schranken kanalisiert werden, um nicht noch mehr Unheil anrichten zu können. Das matrimoniale Menschenrecht aus helvetischer Zeit musste wieder dem ehelichen Privileg weichen.

Interessanterweise wurden in der Zeit zwischen Mediation und Bundesstaatsgründung die Pfarrer wiederholt von der Obrigkeit oder den Eherichtern für ihre Einsegnungspraxis getadelt. Bereits im November 1803 wurde die Ungenauigkeit der Pfarrer bei der Führung der Taufrodel als Grundlage zur Klärung des Geburtsstandes kritisiert.16 Am 6. Dezember 1805 wurde ebenfalls „mehr Sorgfalt der Pfarrer“ gefordert, um betrügerische Ehen effektiver verhindern zu können.17 Die Liste der Beispiele könnte problemlos weitergeführt werden. So traten Pfarrer nicht nur unter dem Ancien Régime in der Oekonomischen Gesellschaft als reformorientierte Bevölkerungspolitiker auf, die zum Teil als Komplizen der AkteurInnen prekärer Eheschließungen in Erscheinung treten konnten.18 Sie schienen auch unter der restaurativen Regierung nach der Helvetik ein eheförderndes gesellschaftliches Element gewesen zu sein, das jetzt der vermeintlichen aufklärerischen Unordnung Vorschub leistete und in den Augen der Obrigkeit diszipliniert werden musste.19

 

1.2 Wachsende religiös-konfessionelle Toleranz
Gemischtkonfessionelle Eheschließungen

Mit dem Ende der Helvetischen Republik wurde in Bern also vorerst die alte Ehegerichtsordnung wiederhergestellt. Verkündigungsdispensen wurden zwischenzeitlich ständeübergreifend ausgesetzt und der Status der erbberechtigten Ehelichen sollte wieder in aller Deutlichkeit vom Stand der Unehelichen unterschieden werden. Dennoch gab es Ehehindernisse, mit denen das Oberehegericht im weiteren Verlauf der nachhelvetischen Episode bald wieder weniger restriktiv verfuhr beziehungsweise die durch Dekrete überholt wurden. So duldete die Obrigkeit von Bern katholische Eheschließungen und interkonfessionelle Ehen zwischen reformierten Bernerinnen und fremden Katholiken in Bern nicht zuletzt aufgrund eidgenössischer Entwicklungen und politischem Pragmatismus über das Bestehen der Helvetischen Republik hinaus.1 Während der Helvetik hatten sich aufgrund der religionstoleranten Gesetzgebung erste Katholiken im reformierten Kantonsgebiet niederlassen können. Dies geschah in der Folge immer häufiger. Zunehmend wurde das konfessionelle Staatskirchentum durch steigende Mobilität, Niederlassungs- und Handelsfreiheit unterwandert. Der Umstand der „zahlreichen in Bern sich aufhaltenden Katholiken“ führte so zu ehegesetzlichen Neuerungen.2 Mittels Dekret hoben Schultheiß und Räte von Bern den neunten Paragraphen der alten Ehegerichtssatzung mit dem Zusatz, dass die Kinder von Bernern mit katholischen Frauen in der Religion des Vaters erzogen werden mussten, auf. Bestimmungen zum umgekehrten Fall blieben vorerst aus.3 Immer öfters musste sich die eidgenössische Tagsatzung in der nachhelvetischen Zeit mit kantonsübergreifenden interkonfessionellen Ehen beschäftigen. In der Folge kam es auch zu einer Reihe von Konkordaten, die zwischen unterschiedlichen Kantonen geschlossen wurden und rechtliche Implikationen für konfessionsübergreifende Ehen mit sich brachten.4 Auf diese Weise etablierten sich gewisse Werte der Aufklärung, die sich während der Helvetik Raum verschafft hatten, allmählich auch in Bern. Das Eherodel im Berner Staatsarchiv, das seit 1804 vom Geistlichen der katholischen Kirche in Bern geführt wurde und in dem er im Auftrag der Regierung die interkonfessionellen Eheschließungen katholischer Männer mit reformierten Frauen bis 1831 verzeichnete, dokumentiert diese Entwicklung.5

Diagramm 6:

Eheschließungen zwischen katholischen Männern und reformierten Frauen in Bern zwischen 1804 und 1831 (Quelle: StABE B XIII 580, Eherodel über die Heiraten mit Katholischen)

Die Grafik zeigt, dass die Zahl der gemischtkonfessionellen Eheschließungen im Mittel über die Jahre stetig zunahm und Konfessionalismus in der Eheschließungspraxis an Bedeutung verlor. Die ausbleibenden gemischtkonfessionellen Eheeinsegnungen in den Jahren zwischen 1817 bis 1824 lagen nicht etwa in einer neuerlichen Repression solcher Verbindungen durch die bernische Obrigkeit begründet, sondern im Verhalten des katholischen Lehramts. Dieses gewann seit der Restauration auf gesamteuropäischer Ebene wieder an Macht und trat in der Folge erneut selbstbewusst auf.6 So schrieb der amtierende katholische Priester A. Dolder am 26. März 1816 in das besagte Rodel, dass ihm sein Kirchenoberer, der Bischof von Freiburg, entgegen seinem persönlichen Streben, mündlich und schriftlich verboten hätte, weitere Ehen zwischen Katholiken und Andersgläubigen einzusegnen.7 Dass ab 1825 der Priester wieder gemischte Ehen einsegnete, hing unter anderem mit der Politik des Kleinen Rats von Bern zusammen. In Anbetracht „der Würde und dem Ansehen einer souverainen Regierung“ befand dieser mehr denn je, dass sowohl die katholischen als auch die reformierten Geistlichen „ihre […] Obliegenheiten gegen den Staat zu erfüllen“ hatten.8 Ansonsten war die Regierung gewillt, repressiv gegen die Geistlichen vorzugehen.

Verwandtenehen

Mit dem unter dem Ancien Régime religiös begründeten Ehehindernis der zu nahen Verwandtschaft verhielt es sich ähnlich wie mit dem konfessionellen Hinderungsgrund. Am 27. Januar 1806 traten die Repräsentanten des Oberehegerichts deswegen vor den Räten auf. Sie seien bereits des Öfteren gefragt worden, wie mit den Eheverkündungen und Eheschließungen zwischen Geschwisterkindern und anderen Graden der Verwandtschaft umzugehen sei. Auch hier befand sich das Oberehegericht im Widerstreit mit den alten Gesetzen der restaurierten Ehegerichtsordnung und den Neuerungen, die mit der Helvetischen Republik eingeführt wurden. Dabei verhielten sich die Vertreter des höchsten Berner Ehegerichts laut eigener Aussage tendenziell reformorientiert, wenn sie den Räten Eheschließungen zwischen Geschwisterkindern, „und jene, um einen ganzen oder halben Grad weiter stehenden Heirathen von Neffen, oder Niecen par alliance zu empfehlen pflegten, indem es [ihnen] wiedersprechend schien, das aufgehobene Verbott, gegen weitere Grade beyzubehalten“.1 Die Richter hielten dagegen den Widerspruch fest, dass einige der empfohlenen Verwandtenehen dennoch abgewiesen wurden, obwohl der Große Rat in den Verhandlungen vom 18. und 23. Mai 1804 „in wiederholter Bestätigung des helvetischen Gesetzes, diese ehen ohne weitere Dispensationen zu gestatten [schien]“.2 Aufgrund dieses Widerspruchs in der Haltung der Räte verlangte das Oberehegericht eine eindeutige Weisung, „damit es sich in künftigen Fällen […] zu verhalten wisse“.3 Den Widerspruch löste das Oberehegericht am 20. März 1809 auf kantonaler Ebene in einem Kreisschreiben an sämtliche lokalen Chorgerichte gleich selbst auf. Aufgrund des Ausbleibens einer „entworfenen neuen Ehegerichtssatzung“, die bis zur Einführung des Zivilgesetzbuchs nicht zum Einsatz kam, erklärte das Oberehegericht im vierten Absatz des Kreisschreibens die Eheverbindungen zwischen Geschwisterkindern für „einstweilen“ erlaubt.4 Diese Weisung wurde in Bern bis zur Gründung des schweizerischen Bundesstaates nicht mehr rückgängig gemacht, wodurch die oben erwähnten Anfragen bei den Räten oder von lokaler Seite beim Oberehegericht obsolet wurden.5

Nach einer anfänglich dezidiert restaurativen Tendenz, die aus Sicht des Patriziats darauf abgezielt hatte, nach dem helvetischen Schock den status quo ante wiederherzustellen, ließen sich also im Bereich der religiösen Ehehindernisse unter der neuen alten Regierung und ihrem Ehegericht zwei nachhaltige Veränderungen beobachten, die in der Kontinuität zur Helvetischen Republik standen. Im Kern dieser Liberalisierung ging es um die Säkularisierung zweier Ehehindernisse, wovon das eine konfessionalistisch motiviert und das andere religiös begründet gewesen war.

1.3 Der Versuch der Armutsbekämpfung durch Ehepolitik

Die zunehmende weltanschauliche Toleranz in Bezug auf interkonfessionelle Ehen und der gelockerte Umgang mit den Eheschließungen zwischen Geschwisterkindern (Cousinenheiraten) in der Folge der Helvetischen Republik dürfen allerdings nicht über die generell repressive Ehepolitik hinwegtäuschen, die vom Berner Rat zur Armutsbekämpfung in der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrieben wurde. Sie diskriminierte einen großen Teil der Berner Bevölkerung massiv. Durch die Koalitionskriege, die Hungersnot in den Jahren 1816/17, das rasant ansteigende Bevölkerungswachstum aufgrund sinkender Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit und die Folgen der Industrialisierung kam es auch in Bern zu Massenarmut. Armut gab es zwar schon zuvor, sie war im jetzigen Ausmaß allerdings präzedenzlos und schien nicht abzureißen.1 Sie brachte das traditionelle System der Armenunterstützung an seine Kapazitätsgrenzen.2 Berns agrarisch und gewerblich dominierte Wirtschaft konnte mit dem Bevölkerungswachstum nicht mehr Schritt halten und schuf nicht hinreichend Arbeitsplätze.3 Die allgegenwärtige Befürchtung war, dass die existenziellen Bedürfnisse der Bevölkerung die Bodenerträge im landwirtschaftlich dominierten Bern übersteigen würden. Doch die Bekämpfung der Massenarmut diktierte nicht nur die Berner Bevölkerungs- und somit die Ehepolitik in den Jahren zwischen dem Ende der Helvetik und der Bundesstaatsgründung, sondern wurde auch zu einem intensiv diskutierten Thema der gesamteuropäischen Öffentlichkeit.4 In Bezug auf die Wahrnehmung, Bewertung und Bekämpfung des Pauperismus spielte auf europäischer Ebene der von Thomas Robert Malthus 1798 erstmals publizierte Essay on the Principle of Population spätestens nach seiner zweiten Auflage 1803 eine bedeutende Rolle.5 Für Bern ist dessen direkte Rezeption allerdings schwer nachzuweisen, obwohl die vertretenen Ansichten zum Teil stark jenen des bekannten Demographen und Pfarrers glichen.6

In Bern nahm der Anteil verheirateter Personen an der Gesamtbevölkerung nach der Helvetik – in einer durch gesteigerte Bodenerträge und das sogenannte ‚agrarische Bevölkerungswachstum‘ geprägten Zeit – bis 1856 ab. Die Zahl der Unverheirateten stieg relational dazu an.7 Gleichzeitig nahm die Illegitimitätsrate, also der Anteil der unehelich geborenen Kinder an der Gesamtzahl der Geburten, in Bern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts drastisch zu. Sie erreichte um die Jahrhundertmitte einen Höchstwert von 7,2%. Damit lag der Kanton im eidgenössischen Vergleich hinter den Kantonen Luzern und Genf an dritter Stelle.8 Bern war jedoch keine Ausnahmeerscheinung. Ähnliche Entwicklungen können für diesen Zeitraum in zahlreichen anderen Kantonen und zum Teil in noch stärkeren Ausprägungen in mitteleuropäischen Regionen und Ländern festgestellt werden.9 Diese Entwicklungen waren das unmittelbare Resultat einer Politik, die das Bevölkerungswachstum in Anbetracht des Pauperismus rigoros zu drosseln versuchte und dies in Bern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch erfolgreich tat.10

Der restriktive ehepolitische Umgang mit Armen lässt sich nicht nur an den präsentierten abstrakten Zahlen ablesen. Er dokumentiert sich auch in der Gesetzgebung und in den öffentlichen Debatten, die über die Bevölkerungspolitik geführt wurden. Mit der Wiedereinsetzung der alten Ehegerichtsordnung wurden bereits die alten Zugrechte der Gemeinden und Korporationen gegen ihre besteuerten Mitglieder wieder eingeführt. Während Armut unter dem naturrechtlichen Eheverständnis führender Helvetiker kein prinzipielles Argument mehr gegen Eheverbindungen sein konnte, wurde sie nun offiziell wieder zum vollkommen anerkannten Hinderungsgrund. Am 20. Dezember 1816 wurden wieder die alten Einzugsgelder im gesamten Kantonsgebiet restituiert, die vielen Paaren die Eheschließung finanziell erneut verunmöglichten oder zumindest erschwerten. Auswärtige Frauen mussten fortan wieder ins Bürgerrecht ihres Ehemanns eingekauft werden, was mit dem Gesetz der Helvetischen Republik vom 18. August 1798 weggefallen war.11 Die Gebühren waren in den Augen der Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt „vorzüglich dazu geeignet […], den Gemeinden für die Aeufnung ihrer durch die Zeitumstände und durch die Last der Armenverpflegung sehr geschwächten Armengüter eine neue ergiebige Hülfsquelle zu eröffen“.12 Diese rückwärtsgewandten Maßnahmen im Bereich des Ehegesetzes dokumentieren, wie zur Eindämmung eines in seinen Ursachen neuartigen Phänomens an alten Deutungsmustern der Armut festgehalten wurde und deswegen alte Lösungsansätze als probate Mittel vorgestellt wurden.13

Just im selben Jahr als eine große Hungersnot herrschte, berichtete das Berner Oberehegericht an den Rat über den „ehelose[n] Stand so vieler männlicher Bewohner“, beklagte die große Zahl arbeitsloser Stadt- und Kantonsfremder in der Hauptstadt, „die entweder in ihrer Heimath vergeldstaget, oder sonst um Ehre und Ansehen gekommen [waren]“ und deshalb auf der Suche nach einem Auskommen in die Stadt strömen würden.14 In der Stadt würden sie dann in den „unteren und obern Stokwerken und Hintertheilen der Wohnungen“ leben.15 „In solche Winkel flüchtet sich das Laster der Unzucht“, so das Urteil der Eherichter.16 Zudem würden „Trinkanstalten“, die von zwielichtigen Frauen geführt würden, „Trinker“ anlocken.17 Das von den Bernern entworfene Sittenbild erinnerte an die 1751 gedruckten Stiche Beer Street und Gin Lane des berühmten englischen Künstlers William Hogarth.18 Das derart wahrgenommene Bevölkerungswachstum wurde vor allem in der Verbindung von wachsender Sittenlosigkeit und Zunahme der besitzlosen Schichten interpretiert.19 Bern litt unter einem moralischen Verfall, der „vor den Augen von ganz Europa zur Schande gereicht[e]“.20 Dass die steigende Zahl illegitimer Geburten und die Zunahme des Anteils eheloser Menschen an der Gesamtbevölkerung – Phänomene, die von Zeitgenossen als Sittenlosigkeit interpretiert wurden – auch hausgemacht waren, erkennen retrospektiv nicht nur Sozialhistoriker*innen, sondern fiel auch den zeitgenössischen Eherichtern auf. In einem Lagebericht an den Rat hielten die Obereherichter Ende 1821 durchaus selbstkritisch fest:

 

„Die Quellen des Sittenverderbnißes sind […] an mehr als einem Orte zu suchen. Sie liegen unter andern sowohl in dem Aufenthalte so vieler Fremden im Lande, als in dessen eigener starken Bevölkerung, woraus immer wachsende Schwierigkeit des Erwerbes in der Heimath, aus dieser eine wandernde Lebensart für beide Geschlechter und zunehmender Mangel an Unterkommen und Arbeit; dann wieder Luxus und freiwilliger Müßiggang, und mit allen diesen auffallende Verminderung der Ehen aus Wahl oder Noth, oder auch vermöge der immer wachsenden Strenge der Armengeseze, horvorgehen; vieler anderer Anläße zu regelloser Lebensweise hier zu geschweigen.“21

Tatsächlich wurden die Armengesetze im Nachgang der Helvetik, während der die Berner Staatskasse stark geblutet hatte, allgemein, aber auch spezifisch in Bezug auf die Eheschließungen am 22. Dezember 1807 entscheidend verschärft. Danach konnten Gemeinden und Gesellschaften nicht mehr nur jene ihrer Mitglieder durch das Zugrecht hindern, die für sich im volljährigen Alter Unterstützungsleistungen bezogen hatten und diese nicht zurückbezahlen konnten. Auch wer in Armut aufgewachsen war und auf Kosten der Gemeinde- oder Gesellschaftskasse erzogen, ausgebildet und versorgt werden musste, weil die Eltern dazu nicht im Stande waren, konnte laut dem angepassten Armenreglement über die Minderjährigkeit hinaus an der Eheschließung gehindert werden, bis der entsprechende Betrag zurückbezahlt war. Außerdem galt mit dem neuen Armengesetz auch die Besteuerung von Kindern als Hinderungsgrund für deren Väter. „Ohne die Einwilligung der Gemeinde soll kein Besteuerter sich verehelichen dürfen, es sey dann, daß er ihr dasjenige erstattet habe, was er an Steuern genossen hat“, war der strikte Grundsatz des neuen Reglements, das damit im Widerspruch zur Ehegesetzgebung stand und vermutlich auch deswegen von den Eherichtern kritisiert wurde.22

In den Zeugnissen des Oberehegerichts und den Instruktionen des Rats fällt ferner auf, dass es im sozio-ökonomischen Rahmen wachsender Armut bezüglich der sittlichen Zustände zu einer zunehmenden Moralisierung des Phänomens und damit einhergehend zur Akzentuierung der Schuldzuweisung an weibliche Unterschichten kam.23 „Untugend und Liederlichkeit“ wurden „immer eindeutiger als weiblich konnotiert“.24 Es war von einer zunehmenden „Schaar berufloser Weibsbilder“ in Bern die Rede, die in grenzenloser Ausschweifung lebten und Männer verführten.25 Unter den Assessoren des Oberehegerichts wurde von der „Unverschämtheit der niedrigen weiblichen Klasse“ gesprochen. Diese würden bei der gerichtlichen Klärung der Vaterschaft „keine Scheu, kein erröthen mehr“ zeigen und die Konsistorialgesetzgebung aufgrund der milden Strafen kaum mehr achten.26 Auch der bereits zu Lebzeiten berühmte Berner Pfarrer und Schriftsteller Jeremias Gotthelf nahm dieses stereotype Frauenbild in seine 1840 erschienene Darstellung der Armennot auf. „[G]anz besonders sieht man die Weiber sich entfremden allem Heiligen […].“27 Dabei glichen Gotthelfs Ansichten jenen von Malthus stark.28 Nachzuweisen, inwiefern Gotthelf tatsächlich von der malthusianischen Theorie beeinflusst war, ist nicht der Anspruch der vorliegenden Arbeit. Aber es lässt sich damit illustrieren, dass der bevölkerungspolitische Diskurs in Bern Teil einer europäischen Erscheinung war. Weiter behauptete Gotthelf, vor allem „Mädchen […], die zu Huren wurden freiwillig, um Mutter zu werden“, würden sich „am häufigsten, am frühesten“ beim Pfarrer für die Eheerlaubnis und Einsegnung melden.29

„So stürchelten sie durchs Leben in die Ehe hinein ohne heiligen Sinn, ohne verständigen Sinn, ohne Geld und sehr oft ohne Kleider, mit Schulden und Untugenden ärger beladen als Kamele in der Wüste mit kostbaren Kaufmannswaren.“30

Die armen Frauen waren bei ihm auch zum verantwortlichen Ausgangspunkt des gesamtgesellschaftlichen Sittenzerfalls geworden, den er vor allem in den Armenehen gespiegelt sah: Sie würden junge Männer, „oft kaum den Kinderschuhen, der Rute entwachsen“, mit Alkohol verführen.31 Die Burschen würden „sehr oft halb und ganz betrunken, sehr oft aus der Mädchen Geld“ vor dem Pfarrer erscheinen, „weil sie die Ehe nicht angegeben hätten in nüchternem Zustande“.32 Die daraus resultierenden ehelichen Verbindungen nannte er „Ehekloaken“. Sie begriff er als „den Kessel, in welchem die Armut gebraut wird, aus dem heraus in immer größern Strömen Menschen fluten, verkümmert an Leib und Seele, Gott ein Ärgernis, den Menschen eine Last“.33

„Hier liegt das Ansteckende, Krebsartige dieses furchtbaren Zeitübels. Die sich absamende Armut, wo aus zwei Armen halbe oder ganze Dutzend entstehen, schwellt das Übel so an, dass es fast in geometrischen Proportionen zu wachsen scheint, dass in zwanzig Jahren, wenn alle die gegenwärtigen armen Kinder in die Fußstapfen ihrer Eltern werden getreten sein, ganze halbe Länder von der Armut werden aufgezehrt sein wie Korn und Gras von den Käfern […].“34

Während im Ancien Régime noch zwischen ‚würdiger‘, also nicht selbstverschuldeter, und ‚unwürdiger‘ Armut unterschieden worden war,35 entwickelte sich die Armut im Diskurs des 19. Jahrhunderts zu einer Krankheit, die gewissermaßen ansteckend, respektive erblich bedingt war. In dieser Vorstellung pflanzte sich Armut fort und machte durch diese Pathologisierung alle Armen gleichermaßen moralisch verdächtig. Gepaart mit der Vorstellung, dass die Ehe nach wie vor der einzig legitime Ort der Sexualität sei, mussten sogenannte ‚Bettelehen‘ aus der Sicht der Obrigkeit mit aller Vehemenz bekämpft werden.36

Infolge der zunehmenden Schuldzuschreibung an die Frauen, die dadurch zu den Hauptverantwortlichen für die Bettelehen und die steigende Illegitimitätsrate in Bern gemacht wurden, kam es zu einem grundsätzlichen Wechsel in der Paternitätsgesetzgebung von Bern. Das neue Vaterschaftsgesetz verschlechterte die ohnehin prekäre Position der Frauen zusätzlich und machte sie für die weitere Verarmung besonders anfällig.37 Unter dem Ancien Régime waren Vaterschaftsklagen in den allermeisten Fällen in Verbindung mit einem weiblichen Eheanspruch verhandelt worden. Dabei hatten die Chancen auf die Eheschließung bei der Erhärtung der Vaterschaft relativ gut gestanden. Dagegen ging es vor dem Oberehegericht seit der Einführung des neuen Paternitätsgesetzes im April 1820 ausschließlich um die Klärung der Vaterschaft. Während vorher die Kinder im Fall der bewiesenen Vaterschaft nach der Stillzeit der väterlichen Obhut übergeben wurden (Paternitätsprinzip), beziehungsweise der Vater die Versorgung und Erziehung der unehelichen Kinder übernehmen musste, hatte die Mutter neuerdings lediglich noch Anspruch auf Alimente. Doch die Betreuung, Erziehung und Versorgung der Kinder musste nun die Frau übernehmen. Die Höhe der Alimente variierte je nachdem, ob die außereheliche Sexualität mit einem verheirateten oder ledigen Mann stattgefunden hatte.38 Die Verdienstmöglichkeiten der Frauen, die in der Regel wesentlich eingeschränkter waren als jene der Männer, schwanden durch die aufwändige Verantwortung für das Kind zusätzlich.39 In der Tendenz war dieses patriarchale Gesetz also zum Vorteil der (verheirateten) Männer und der besitzenden Bewohner der Hauptstadt, wo viele Frauen vom Land als Dienstbotinnen in städtischen Haushaltungen fernab vom Schutz ihres sozialen Umfelds lebten, sofern sie überhaupt eines hatten. Wurden diese Frauen schwanger, schickte sie die Obrigkeit zurück in ihre Heimatgemeinden, wo sie diesen zur Last fielen. Auf diese Weise wurden die Kassen des städtischen Patriziats geschont. So kam es gerade im Rahmen der liberalen Verfassungsbewegung von 1830/31 in Bern zu massiver Kritik von ländlichen Gemeinden an diesem Gesetz, das die Landschaft gegenüber der Stadt einmal mehr benachteiligte. Sie forderten in ihren Petitionen die Aufhebung des Maternitätsgrundsatzes, weil ihnen durch dieses Rechtsprinzip noch mehr uneheliche Kinder zur Versorgung anheimfielen als zuvor.40 Vom Oberehegericht wurde der „moralische Einfluss des Gesezes“ in einer Einschätzung an die Gesetzgeber bereits 1821 als „nur eine halbe Maaßnahme“ kritisiert, weil sich nach einem Jahr keine Reduktion der Illegitimität feststellen ließ.41 Solange die Verlobung ein Zwangsrecht begründe, würden Frauen versuchen, durch Schwangerschaften die Eheschließungen zu erzwingen. Erst der „Grundsaz von der Unwirksamkeit der Eheversprechen“ konnte in den Augen der Eherichter die Unehelichenrate verringern.42