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Prekäre Eheschließungen

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Die Eheschließung wurde während des helvetischen Intermezzos in den Petitionen tendenziell zu einem zentralen Argument für individuellen und allgemeinen sozioökonomischen Fortschritt. Dadurch reihten sich die untersuchten matrimonialen Bittschriften in einen sozialen Wahrnehmungsrahmen ein, der die Zeitgenossen die Helvetische Revolution als Phase des Umbruchs und der Akzeleration erfahren ließ.23 Die schnell voranschreitende Zeit duldete keine ehelichen ‚Wartezeiten‘ mehr.24 So bildete die hier vorgestellte Taktik, die die Ehebeziehung auf der einen Seite als unabdingbare haushaltsökonomische Größe vorstellte und auf der anderen Seite neuerdings mit einem wirtschaftlichen Effizienzgedanken paarte, durchaus jenen „manchmal plötzlich vorangetriebenen Erfahrungswandel“ ab, den Reinhard Koselleck veranschlagt, wenn er über die sogenannte ‚Sattelzeit‘ schreibt.25 Mit seinen Worten lässt sich in Bezug auf das ökonomische Argument getrost sagen, dass „alte Begriffe“, beziehungsweise hier genauer eben alte Taktiken, „sich in ihrem Bedeutungsgehalt den sich verändernden Bedingungen der modernen Welt angepasst“ hatten.26






3 Strategien: Der Umgang der helvetischen Regierung mit den Ehebittschriften



Nachdem die ehewilligen AkteurInnen und ihre Heiratstaktiken vorgestellt worden sind, wird abschließend analysiert, welcher zahlenmäßige Erfolg ihnen vor den helvetischen Zentralbehörden beschieden war. Bereits weiter oben ist vom gesetzeswirksamen Erfolg der helvetischen PetentInnen die Rede gewesen, was es in Bezug auf die Eheschließung problematisch macht, zu sagen, dass „Reformen allesamt von oben initiiert“ waren.1 Hier führten ehelicher Eigensinn und Hartnäckigkeit von ‚unten‘ beziehungsweise aus der Mitte der Gesellschaft im Zusammenspiel mit reformfreundlichen, reformorientierten Kräften durchaus dazu, dass verschiedene Ehehindernisse – Konfessionsverschiedenheit, der Verwandtschaftsgrad der Geschwisterkinder, Armut, Einzugsgelder – sukzessive abgeschafft oder in der Vollzugspraxis der Regierung ignoriert beziehungsweise sogenannte ‚Verkündigungsdispensen‘ erteilt wurden. In Anbetracht der herrschenden Ehepolitik in der Helvetik kann daher in Relation zum Ancien Régime von einer Praxis gesprochen werden, die gesetzlich festgeschriebene Normen verminderte und Hindernisse aufhob und damit die Eheschließungen vereinfachte. Parallel dazu ist vom euphorischen Anfangsgeist der Helvetik zu erfahren gewesen, der die reformerische Bevölkerungspolitik vom Rand des Ancien Régimes in die Mitte des politischen Reformdiskurses der Helvetischen Republik spedierte. Die grundlegende ehepolitische Stoßrichtung der helvetischen Führungselite, ob im Parlament oder der mächtigen Exekutive, war also trotz zahlreichen anderen ideologischen Machtkämpfen zumindest zu Beginn der Republik verhältnismäßig eindeutig und reformorientiert.2 Deswegen und weil die Recherche sämtlicher parlamentarischer und vollziehungsrätlicher Diskussionen, die die hier vorgestellten Ehebittschriften erzeugten, aufgrund der dürftigen Findmittel zum helvetischen Zentralarchiv den Rahmen dieser Dissertation gesprengt hätte,3 begnügt sich die Arbeit an diesem Punkt mit der Darstellung einiger quantitativer Tendenzen. Dies ist möglich, weil die Beschlüsse der urteilenden Instanz – Großer Rat, Senat, Direktorium beziehungsweise Vollziehungsausschuss – in den meisten Fällen direkt auf die Bittschriften um Ehebewilligung oder Kanzeldispens notiert wurden. Bei den Gesuchen um Kanzeldispensen wurde zudem in den allermeisten Fällen eine Kopie des Schreibens an die PetentInnen mit der Bittschrift archiviert, das zusätzlich über den Wortlaut des Urteils informiert.



Wo bei den ersuchten Kanzeldispensen und Ehebewilligungen die Informationen über das Urteil zu erhalten sind (108 Fälle), ist eine eindeutige Tendenz zu verzeichnen. In den allermeisten Fällen entschied hier das Direktorium, beziehungsweise nach dem ersten Staatsstreich der Vollziehungsausschuss oder das Parlament, in rund 90% der Fälle (97 von 108) zu Gunsten der PetentInnen. Lediglich 10% der Bitten um Ehebewilligung oder Kanzeldispens (11) wurden abgewiesen. Dadurch begünstigten Exekutive und Legislative Diskretion und Ruhe. Das helvetische Vollziehungsgremium verhinderte Aufsehen systematisch und förderte damit Privatheit und individuelle Intimität. Indem es in der Mehrheit ihrer Entscheidungen der Argumentationslogik der Petitionen folgte, betrieb es eine Politik, die öffentlichen Widerstand und patriarchale Ehehindernisse behinderte und persönliche Interaktionen zwischen BürgerIn und Staat begünstigte. Die ehewilligen AkteurInnen trafen auf einen Staat, dessen Führungskräfte, die zum größten Teil aus den reformabsolutistischen Kreisen des Ancien Régimes stammten, gewillt waren, den „zeitgenössischen staatstheoretischen und -wissenschaftlichen Kriterien von Rationalität, Effizienz, Macht und Souveränität“ zum Durchbruch zu verhelfen.4 Diese stimulierten die direkte Beziehung zwischen BürgerIn und Verwaltung, um die Staatsgewalt auf Kosten intermediärer Faktoren auszubauen. Dadurch wurden andererseits aufgrund von Vorstellungen einer moralischen Ökonomie lokaler Gemeinschaften prekarisierte Eheschließungen wie Witwenheiraten, Eheschließungen in nahen Verwandtschaftsgraden, exogame Heiraten und gemischtkonfessionelle Ehen zweifellos begünstigt. Matrimoniale Unsicherheiten wurden reduziert und das Recht auf Eheschließung eindeutig demokratisiert. Insofern kann man in Bezug auf die Gelegenheiten zu Heiraten auch für Bern vom „Freiheitsatem der Helvetik“ sprechen, wie das für Zürich getan worden ist.5 Da durchgängig so wenige Ehebegehren abgewiesen wurden, lässt sich diesbezüglich nicht eine Modernisierungsphase von einer Stagnationsphase unterscheiden, wie von Historiker*innen für die politische Entwicklung der Helvetischen Republik im Allgemeinen konstatiert wird. Allerdings lässt sich wie gezeigt eine klare Tendenz von den direkten Ehebewilligungen hin zu Kanzeldispensen erkennen. Diese Tatsache dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass gesetzliche Ehehindernisse zwar wegfielen, die vormals verbotenen Heiraten aber auf lokaler Ebene aufgrund moralisch-ökonomischer Vorstellungen nach wie vor zum Teil heftigen Widerstand evozierten. Eheschließungen, denen aus dem sozialen Nahraum die Prekarisierung drohte, brauchten zwar keine grundsätzliche Bewilligung mehr, aber Schutz und Verborgenheit vor dem ‚Dorfauge‘.





D Die nachhelvetische Zeit bis zur Bundesstaatsgründung (1803–1848)



Die Zeit vom Ende der Helvetik bis zur Bundesstaatsgründung wird in der Schweizer Geschichtsschreibung traditionell in drei Etappen eingeteilt: Mediation (1803–1813/15), Restauration (1813/15–1830/31) und Regeneration (1830/31–1848). Während für Bern Mediation und Restauration von einer verfassungs- und ereignisgeschichtlichen Erzählweise traditionell in der allgemeinen Tendenz als rückwärtsgewandt charakterisiert werden, wird die Regeneration in den groben Entwicklungslinien als reformorientierter Aufbruch in eine liberale Ära gedeutet, die in den 1840er Jahren in die Gründung des Bundesstaates mündete.1 Hier stellt sich die Frage, wie sich diese allgemeinen Entwicklungen der Politikgeschichte auf den Umgang mit der Eheschließung ausgewirkt haben. Der Titel dieses letzten Hauptteils deutet bereits an, dass der Zeitraum zwischen dem Ende der Helvetik und dem Bundesstaat in seiner Tendenz in Bezug auf die Eheschließungsthematik als eine Einheit behandelt wird. Zunächst sollen die politischen Ereignisse und die allgemeinen verfassungsgeschichtlichen Dynamiken holzschnittartig nachgezeichnet werden. Im nachfolgenden Kapitel wird diese Abstraktion dann mit den Entwicklungen in der zeitgenössischen Ehegesetzgebung und den bevölkerungspolitischen Debatten der Zeit in Beziehung gesetzt. Danach wendet sich die Arbeit analog der Gliederung der vorausgehenden Teile den entsprechenden Taktiken von ehewilligen und opponierenden Parteien zu, um abschließend die Strategien des Gerichts und die Erfolgschancen der Heiratswilligen während dieser letzten rund 45 Jahre von Bern als mehr oder weniger souveräne Stadtrepublik zu thematisieren. Durch das gewählte Vorgehen soll die Differenziertheit des bevölkerungspolitischen Alltags eingefangen werden, der allzu oft etwas vorschnell als eine bürgerlich-liberale Erfolgsgeschichte gedeutet worden ist.2 Wie verhielt sich der Umgang mit prekären Eheschließungen zu restaurativen und liberalen Entwicklungen in Bern?





Das Ende der Helvetik (1802/03)



In den vorausgehenden Ausführungen zur Helvetischen Republik wurde erläutert, was für ein ausgesprochen instabiles politisches Gebilde sie war und welche matrimonialen Erfolgschancen sie eröffnete. Ihr Bestehen hing maßgeblich von der Gunst des französischen Direktoriums und von Napoleons Politik ab. Die Ursachen für das Scheitern des helvetischen Projekts waren vielfältig.1 Es sollen hier lediglich einige Faktoren erwähnt werden. Sicherlich spielten bei der Umsetzung der Reformprogramme finanzielle Aspekte eine zentrale Rolle: Der notorisch unterfinanzierten Verwaltung fehlten die Mittel zur Umsetzung der ambitionierten Reformideen. Viele Versprechen wurden nicht eingelöst, weil praktische Probleme in der Verwaltung die Umsetzung verhinderten. Die von Frankreich arg strapazierte Staatskasse – die Staatsschätze der städtischen Aristokratien wurden nach Paris abtransportiert und angeblich für Napoleons Ägyptenfeldzug verwendet – musste nicht nur den Aufbau und den Unterhalt eines modernen und effizienten Verwaltungsapparates finanzieren. Aus ihr mussten vorrangig Kontributionen und Requisitionen an Frankreich bezahlt werden. 1799 wurde dann das Gebiet der heutigen Schweiz auch noch zu einem zentralen Schauplatz im Krieg zwischen Frankreich und den koalierenden Mächten Großbritannien, Russland, Österreich und einigen weiteren. Die Ereignisse des zweiten Koalitionskriegs und ihre kollateralen Folgen führten zum endgültigen ökonomischen und finanziellen Erliegen der ‚einen und unteilbaren‘ Republik. Aufgehobene Feudalsteuern wurden wieder eingeführt, um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Das wiederum erschütterte den Rückhalt in jenen agrarischen Bevölkerungsteilen, die die Helvetische Republik bis anhin gestützt hatten, weil ihre Regierung sie von Feudalabgaben befreit hatte. Ferner führten direkte Steuern, die im Ancien Régime in der Eidgenossenschaft und insbesondere in Bern weitgehend unbekannt waren,2 Rekrutierungen für den eingeführten obligatorischen Militärdienst, Kirchen- und Religionsfeindlichkeit sowie der Verlust der Gemeindeautonomie zunehmend zu breit abgestütztem Widerstand gegen den Zentralstaat. Unter den führenden Helvetikern, die nach wie vor mehrheitlich aus Familien von Magistraten, Offizieren, Kaufleuten und Freiberuflern stammten, obwohl sie anfänglich durchaus auch neue soziale Elemente repräsentiert hatten, kam es bald zu Verfassungskämpfen zwischen verschiedenen politischen Lagern. Es folgten Intrigen und insgesamt vier Staatsstreiche. Dabei standen sich unterschiedliche weltanschauliche Parteien gegenüber. Die Grenzen verliefen entlang politischer Ideologien und trennten gemäßigte Republikaner und radikaldemokratische Patrioten. Innenpolitisch wurde die Verfassungsfrage bezüglich der Organisation des Staates zur Gretchenfrage. Es kam zum offenen Konflikt zwischen unitarischen Verfechtern des Zentralstaats und föderalistischen Befürwortern einer bundesstaatlichen Organisationsform. Die dadurch evozierten Staatsstreiche führten zu schnell wechselnden Regierungen; ein Symptom wie auch ein verstärkendes Element der politischen Instabilität. Die neuerlichen Regierungsbildungsprozesse schlossen in zunehmendem Masse wieder konservative Agitatoren ein, was sich auch in der Diskussion um die Wiedereinführung der Chorgerichte zeigte. In der Folge handelten die neu gebildeten Regierungen tendenziell abwartend. Durch die inneren Umwälzungen kam es auch zu zwei weiteren kurzlebigen Verfassungen, die von Napoleons Einverständnis abhängig waren. Als dieser Ende Juli 1802 den Abzug der französischen Besatzungstruppen anordnete, markierte spätestens dies den Anfang vom Ende der Helvetischen Republik. Bereits im September 1802 erhoben sich überall in der Republik Föderalisten gegen Unitarier und ein Bürgerkrieg brach aus. Die sogenannten ‚Stecklikrieger‘, behelfsmäßig bewaffnete Föderalisten, zogen gegen die Stadt Bern, die seit 1799 die Hauptstadt der Helvetischen Republik war. Am 18. September floh die helvetische Regierung nach Lausanne, worauf sich in Bern eine mehrheitlich patrizisch besetzte Standeskommission bildete, die als provisorische Regierung amtierte.3

 





Die Mediationsakte und Bern (1803–1813/15)



Von den siegreichen Föderalisten wurden in der Folge im ganzen Gebiet der ehemaligen Eidgenossenschaft wieder Regierungen in ihrem Geiste eingesetzt, die sich 1802 in Schwyz zur eidgenössischen Tagsatzung zusammenschlossen. Napoleon wollte die Kontrolle über die weiteren Entwicklungen behalten, besetzte die Eidgenossenschaft erneut und berief Ende 1802 eine

Consulta

 in Paris ein. Für diese vermeintliche Verfassungsberatung reisten rund 70 Abgesandte aus dem Gebiet der damaligen Schweiz nach Frankreich und verhandelten dabei die politische Neugestaltung. Daraus resultierte eine weitere Machtdemonstration des ersten französischen Konsuls, der sich gegen außen aber als Vermittler inszenierte. Napoleon war zum Schluss gekommen, dass der Zentralismus der Natur des Landes widersprechen würde.1 So diktierte er der Versammlung die sogenannte ‚Mediationsakte‘. Sie stellte eine Kompromisslösung zwischen Unitariern und Föderalisten dar. Sie schuf einerseits 19 gleichberechtigte Kantone und behielt die Überwindung vorausgegangener Untertanenverhältnisse bei. Bürgerliche Rechts-, Niederlassungs-, Handels und Gewerbefreiheit blieben ebenfalls unangetastet. Das zuvor abgetrennte Oberland wurde wieder den Kantonsgrenzen von Bern eingegliedert. Die Waadt und der Aargau blieben zum Leidwesen des Berner Patriziats eigenständige Kantone. Andererseits restituierte die Akte die ehemalige Souveränität der Kantone. Die Stände waren nun politisch wieder über das einmal jährlich tagende Organ der eidgenössischen Tagsatzung in einem verhältnismäßig losen Staatenbund miteinander verbunden.2



Bern gab sich in der Folge eine knappe Konstitution mit lediglich 22 Artikeln, deren Revision nicht vorgesehen war. Sie wird von der Forschung im Vergleich zu den anderen eidgenössischen Verfassungen als eine städtisch-aristokratische charakterisiert. Das darin verbriefte Wahlverfahren zur Besetzung der Regierung und Ämter bevorzugte wiederum die reichen Bewohner der Hauptstadt gegenüber der restlichen Bevölkerung. Obwohl die Verfassung vermeintlich auf gleichen politischen Rechten für alle basierte, schrieb sie ein Zensuswahlrecht fest, das den allergrößten Teil der Bevölkerung von der politischen Partizipation ausschloss. Das aktive Wahlrecht kam nur männlichen Bürgern von bernischen Gemeinden zu. Diese mussten finanziell unabhängig, militärdiensttauglich und mindestens seit einem Jahr ortsansässig sein. Als verheirateter Mann konnte man das aktive Wahlrecht ab 20 Jahren in Anspruch nehmen, wenn man über Grundstücke oder Schuldbriefe von einem bestimmten Wert verfügte. War man unverheiratet, verfügte man frühestens ab dem 31. Lebensjahr über das aktive Wahlrecht. Für das passive Wahlrecht lag der Wahlzensus wesentlich höher. In der Folge kam es bei den Wahlen im April 1803 zu einem Ergebnis, das vor allem den Aristokraten gefiel. Von 195 Mitgliedern des Großen Rats waren 121 Bernburger. Rund drei Viertel von ihnen (80) gehörten schon vor 1798 Berns Obrigkeit an. Die 74 restlichen Großratssitze wurden von Landbewohnern und Bürgern der Munizipalstädte besetzt, die sich mehrheitlich ebenfalls die vorhelvetischen Zustände herbeisehnten. Im 27 Mann umfassenden Kleinen Rat, der von den Großräten gewählt wurde, saßen dann 21 Patrizier. Deren politische Karrieren hatten ebenfalls schon vor 1798 begonnen und konnten sich nun fortsetzen. Die Stadt Bern, die seit der Mediation ein eigenständiges Gemeinwesen war und einen separaten Haushalt zu führen begann, wurde ebenfalls von einem konservativen Kleinen und Großen Stadtrat regiert. Auch auf der lokalen Verwaltungsebene und in den Bezirken besetzten fast ausschließlich Patrizier die Stellen, die sehr lukrativ sein konnten.3 So zeigen prosopographische Untersuchungen einen eindeutig rückwärtsgewandten Reflex auf das Ende der Helvetischen Republik, der jene, die sich in der helvetischen Politik und Verwaltung reformerisch betätigt hatten, tendenziell sogar benachteiligte.4 In der Konsequenz kann in Anlehnung an die Historiker Ulrich Im Hof und Andreas Fankhauser zumindest für Bern aus der Retrospektive eine verfassungsgeschichtliche Entwicklung beschrieben werden, die viele gesellschaftspolitische Tendenzen der sogenannte ‚Restauration‘, die auf den Wiener Kongress folgten, andeutete oder sogar vorwegnahm.5





Die Restauration in Bern (1813/15–1830)



Als ab 1813 Napoleons Macht mit sich häufenden militärischen Misserfolgen zu schwinden begann, erstarkte im Berner Rat jenes Lager, das sich von einem Sieg der Alliierten die umfassende Restauration der Verhältnisse von 1798 erhoffte. Als am 23. Dezember österreichische Truppen Bern erreichten, hob der Große Rat die von Napoleon vermittelte Konstitution auf.1 Der österreichische Einmarsch wurde zum Anlass genommen, jene Patrizier, die 1798 aufgrund der revolutionären Ereignisse aus ihren Ämtern entfernt worden waren, zumindest provisorisch wieder in diese einzusetzen. Bern agierte damit in der Eidgenossenschaft als restaurative Vorreiterin. Die neue alte Obrigkeit von Bern war in der Folge daran interessiert, neben dem Oberland die Waadt und den Aargau zurückzuerhalten. Dadurch versuchte sie die alte Ordnung und die überwundenen Untertanenverhältnisse vollumfänglich wiederherzustellen. Allerdings war Bern mit diesem Bestreben weder an der eidgenössischen Tagsatzung noch am Wiener Kongress erfolgreich. Als schwache Entschädigung für die verlorengegangenen Kantonsteile erhielten sie lediglich die größten Teile des ehemaligen Fürstbistums Basel. Dieses Gebiet bildete fortan den Berner Jura. Auf Standesebene gelang den restaurativen Berner Kräften nach dem Wiener Kongress mit einiger Verzögerung allerdings weitgehend das, was ihnen in der Eidgenossenschaft und auf der europäischen Bühne versagt blieb: Sie kehrten 1815 zu einer patriarchalen Ordnung zurück, die im Vergleich zu den anderen aristokratisch regierten Städteorten der Eidgenossenschaft restaurative Grundsätze am stärksten akzentuierte.2 Sogar der Epochenbegriff erhielt eine Berner Prägung: Für die Bezeichnung stand die Veröffentlichung des Berner Patriziers Carl Ludwig Haller von 1816 unter dem Titel

Restauration der Staatswissenschaft

 Pate. 200 Sitze des 299 Mitglieder umfassenden Großen Rats waren wieder mit Hauptstädtern besetzt. Die Repräsentation der Hauptstadt war, gemessen am Bevölkerungsanteil, gegenüber der Landschaft immens.3 So übernahmen 1815 die Patrizier, denen zu diesem Zeitpunkt noch ungefähr 60 Familien angehörten,