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Prekäre Eheschließungen

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In Albrecht von Hallers Alpengedichten lag sogar ein lokaler Idealtypus romantischer Liebesrhetorik vor, der den Ursprung der Liebe in poetisch-pathetischer Weise auf die Alpenbevölkerung projizierte. Haller schrieb 1729 über die Bewohner der Alpen, die in diesem literarischen Zusammenhang sicher mit der agrarischen Bevölkerung im Kanton Bern gleichgesetzt werden dürfen, und ihre Liebe:

„Denn hier, wo die Natur allein Gesetze gibet,

Umschließt kein harter Zwang der Liebe holdes Reich.

Was liebenswürdig ist, wird ohne Scheu geliebet,

Verdienst mach alles werth, und Liebe macht es gleich.

Die Anmuth wird hier auch in Armen schön gefunden,

Man wiegt die Gunst hier nicht für schwere Kisten hin,

Die Ehrsucht theilet nie, was Wehrt und Huld verbunden,

Die Staatssucht macht sich nicht zur Unglücks-Kupplerin:

Die Liebe brennt hier frei und scheut kein Donnerwetter,

Man liebet für sich selbst und nicht für seine Väter.

[…]

Die Sehnsucht wird hier nicht mit eitler Pracht belästigt!

Er liebet sie, sie ihn, dies macht den Heirat-Schluß.

Die Eh wird oft durch nichts als beider Treu befestigt,

Für Schwüre dient ein Ja, das Siegel ist ein Kuß.“62

Die Parallelen zur Thematisierung der Liebe in den Petitionen sind nicht zu übersehen: Die Liebe figurierte als ein schicksalhaftes, individuelles Gefühl, das auf beständiger Treue fußte. Es war frei von Konvenienz und folgte nicht materiellen Interessen oder dem familienpolitischen Kalkül. Wie Haller schrieben auch die Notare rund 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung dieses positive, ‚natürliche‘ Gefühl den ‚niederen Hüttenbewohnern‘ und ‚mittellosen Landmännern‘ zu. Diese erschienen darin als vollkommen reine und sündenfreie Gesellschaftsglieder, die lediglich ihrem natürlichen Schicksal folgten.63 Festzuhalten bleibt trotz der notariellen Verfasserschaft, dass es vor allem die ehelich prekarisierten Teile der Landbevölkerung waren, die durch ihr taktisch geschicktes Spiel „mit den Ereignissen“ und ihren Geschichten die Ehevorhaben durchzusetzen begehrten.64 Denn sie unterschrieben die Petitionen.

Mit den Worten von Michel de Certeau lässt sich deswegen sehr wohl resümieren: Indem die ehebegehrenden AkteurInnen „heterogene Elemente kombiniert[en]“ – Inanspruchnahme der schreiberischen Fähigkeiten der Notare, Nutzung des politischen Mittels der Petition, „günstige [bevölkerungspolitische] Gelegenheit“ und eigene Lebens- und Liebesgeschichten –, versuchten sie während der Helvetik die Erfüllung ihres ehelichen Willens zu erreichen.65 Ihre „intellektuelle Synthese [hatte] nicht die Form eines Diskurses, sondern sie [lag] in der Entscheidung selber, das heißt, im Akt und in der Weise, wie die Gelegenheit ’ergriffen [wurde]‘.“66

2.2.3 Gleichheitsforderungen aus Routine und Tradition

Durch die Liebesrhetorik in den Petitionen zeichnete sich in Bezug auf die sexuelle Ordnung bereits die implizite Forderung nach bürgerlicher Gleichheit und Überwindung geburtsständischer Unterschiede ab. Wenn die Liebe natürlich war, stellte sie ein allgemeines Menschenrecht dar. Und wenn aus ihr die Sexualität folgte, konnte es in dieser Argumentationslogik eigentlich keine Illegitimität mehr geben, die arme, unterständische Schichten mangels Besitz sexuell diskriminierte, indem sie sie von der privilegierten ehelichen Ordnung ausschloss. Auch die alten Ehehindernisse – verbotene Verwandtschaftsgrade, Konfessionsverschiedenheit und Ehebruch – waren durch die schicksalhafte und säkulare Liebe in ihrer religiösen Rechtfertigung problematisch geworden. Das brachte die zuvor zitierte Petition von Hans Binggeli aus Guggisberg ganz eindeutig zum Ausdruck, der sich nach der Scheidung nicht an die einjährige Wartezeit halten wollte, weil er vorher ein uneheliches Kind gezeugt hatte.1 Zur Erinnerung: In seiner matrimonialen Bitte bezog er sich explizit auf die Menschenrechte. Er beziehungsweise sein Schreiber verlangte in aufklärerischer Manier, dass nicht auf der Grundlage von ständischer Willkür, sondern nach universellen Rechten geurteilt werde.2 Die quasi natürliche Liaison zwischen der Liebe und der Sexualität stellte in den Petitionen auch einen frontalen Angriff auf ständische Privilegien und patriarchale Zwänge zur Konvenienz dar. Der Lauf der Natur konnte in dieser Vorstellung durch kein kommunales oder väterliches Zugrecht mehr verhindert werden.

Als Menschenrechte verstandene eheliche Freiheit und Gleichheit wurden in vielen Bittschriften nicht nur auf dem schicksalhaften Weg der Liebe eingefordert. Auf formaler Ebene waren ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ als Präliminarien im Sinne offizieller helvetischer Parolen allen untersuchten Bittschriften vorangestellt. Sie rahmten alle darin gestellten Forderungen dadurch per se in einer formellen Art und Weise. Seit dem 25. September 1798 stellte die Artikulation der helvetischen Parole sogar eine verbindliche Anforderung der Regierung dar und erhob sie damit für die PetentInnen zu einem formalen Zwang. Die helvetischen Zentralbehörden verlangten von den Bürgern, dass sie ihre Bittschriften mit dem doppelten Motto eröffneten, sie als „Bürger Directoren“ anredeten und sich mit republikanischem Gruß von ihnen verabschiedeten.3 Wie bereits erwähnt, ‚nahmen‘ sich auch nicht wenige ehewillige AkteurInnen mit einer Petition wortwörtlich ‚die Freiheit‘, vollumfängliche Eheerlaubnis oder wenigstens Kanzeldispensen zu beantragen.4 Auch wenn es sich dabei vordergründig um eine rhetorische Figur zu handeln scheint, wird der Freiheitsformulierung eine Charakterisierung als bloße Redewendung und Floskel nicht vollumfänglich gerecht. Denn die Petitionäre taten, was sie sagten: Sie machten mit ihren Petitionsschriften von einer Freiheit Gebrauch, die am Ende des Ancien Régimes zumindest in Bern deutlich eingeschränkt und nicht nur theoretisch, sondern auch erfahrungsgemäß von drastischen obrigkeitlichen Sanktionen bedroht worden war, neuerdings aber konstitutionell verbrieft und anfänglich behördlich sogar gefördert wurde.

Die Gerechtigkeit in Form von Freiheit und Gleichheit konnte in den Petitionen auch gezielter und weniger formell eingefordert werden. Vielfach ging mit der genommenen Freiheit nämlich auch die explizite inhaltliche Forderung nach Gleichheit einher. Diese Forderung, die Gerechtigkeit verlangte, konnte in den konkreten Petitionen allerdings sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Gleichheit konnte mit äußerst unterschiedlichen Argumenten und mehr oder weniger ausführlich eingefordert werden. Die schärfste Form der Forderung war diejenige, die sich mit aufklärerischer Kritik an den Zuständen unter dem Ancien Régime verband. So forderte zum Beispiel der angehende Tavernenwirt Daniel Großi für die Eheschließung mit Magdalena Briod am 13. März 1801 zwei Kanzeldispensen, unter anderem mit dem folgenden Argument:

„Gerecht und weise ist gewiß die Abschaffung jenes Stände-Brauchs: wo deren Landbürgere die dreymalige Canzelproklamation ihre Eheverlöbnisse und ihnen ohne Nachlaß vorgeschrieben war, während fürgegen dem akkretierten Städter – für Geld – nach der Willkür der ehemaligen alten Consistorialräthe, gänzliche Dispensation ertheilt wurden. Jetzt aber ist niemand von der Verkündlichkeit, sich verkünden zu lassen frey, und obschon zwar die daherige Verordnung die Proklamationen auf drey aufeinanderfolgende Sontage ausdehnt, so ist es doch an Ihnen, Bürger Vollziehungsräthe, je nach den Umständen allfällig die dritte und auch die zweite Verkündung nachzulassen, wofern nemmlich, dem Zweck derselben gemäß, die erste wenigstens statt hat.“5

Großi kritisierte mit seiner Petition zum einen den Stadt-Land-Gegensatz, der im Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 19. Jahrhundert eine zentrale Achse der Ungleichheit und des politischen Machtungleichgewichts darstellte,6 und zum anderen die alte geburtsständische Privilegienpraxis, die 1790 gesetzlich noch einmal verfestigt wurde und mit diesem Gegensatz zusammenhing,7 unmissverständlich. Die aristokratischen Oberchorrichter, die er ‚Konsistorialräte‘ nannte, hatten inhaltlich nach willkürlichen, also objektiv nicht nachvollziehbaren Gründen, gegen Geld gänzliche Kanzeldispensen unter der städtischen Aristokratie verteilt und damit Eheeinsprüche verhindert. Gleichzeitig hatte dasselbe Recht der ländlichen Bevölkerung unter den alten Eherichtern nicht zugestanden. Das wiederum führte zu einer allgemeinen Prekarisierung der Eheschließungen in den unteren Ständen, was in der Petition als eklatante Ungerechtigkeit dargestellt wurde. Insofern lobte der angehende Wirt die Abschaffung des aristokratischen Vorrechts der Verkündigungsdispens und die Verbreiterung des Obligatoriums auf alle gesellschaftlichen Schichten. Der Wirt gab in seiner Petition aber darüber hinaus an, dass in seinem konkreten Fall geradezu objektive wirtschaftliche Gründe für eine Kanzeldispens vorlagen. Die langwierige dreifache Verkündigung würde aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit, also aufgrund rational nachvollziehbarer Kriterien, „zu seinem œkonomischen Nachtheil“ gereichen und dadurch wirtschaftlichen Fortschritt verhindern.8 Somit kann der Petition von Großi hier durchaus ohne „Anachronismus-Gefahr“ ein Gleichheitsverständnis unterstellt werden, das mit seiner Kritik an ständischer Willkür und Ungleichheit aufklärerisch anmutete.9 In diesem Verständnis nahm der Petent die helvetische Regierung mit der Gleichheitsforderung taktisch in die Pflicht, ihm zur Vermeidung von Willkür und auf Basis wirtschaftlich nachvollziehbarer Gründe die Kanzeldispens an zwei Sonntagsgottesdiensten zu erlassen.

Nicht alle Petitionäre legitimierten die ehelichen Dispens- oder Bewilligungsforderungen mit impliziter Bezugnahme auf modern wirkende Gleichheitsvorstellungen wie Großi und die zuvor vorgestellten Liebenden oder auch jene, die sich im Zeichen der Vernunft gegen den lokalen Widerstand ständischer Zwischengewalten wehrten.10 Dennoch verwiesen sehr viele ehewillige Bittsteller als Argument für ihre Ehebegehren auf „häuffige Beyspiele“11 in der Dispenspraxis des helvetischen Vollziehungsdirektoriums „in ähnlichen Fällen“12 unter der expliziten Bezugnahme auf die erwartete Gleichbehandlung. In dieser Weise bat beispielsweise auch der bereits erwähnte Knecht Rudolf Meyer, der mit seiner Nebenmagd Elisabeth Thomet Ehebruch begangen und ein uneheliches Kind gezeugt hatte, die Gesetzgeber, sie „mit der gleichen günstigen Aufnahme und Unterstüzung zu beschenken, mit deren [sie, die Gesetzgeber] bereits mehrere Bürger in der nemlichen Verlegenheit beschenktet“.13 Und auch Anna Kähr und der Landarzt Johann Jacob Kunz meinten, sie „dürfen also mit gleichem, und auch mehrerem Recht, um dasjenige bitten, was andere vor ihnen begehrt, und erlanget haben.“14 Das Verlangen nach Gleichbehandlung war an und für sich kein neuer juristischer Topos. Auch in der Frühen Neuzeit wurde in Suppliken und Gravamina im Kontext der Justizpraxis aus allen Ständen Gerechtigkeit im Zeichen der Gleichheit eingefordert.15 Während aber das Wort ‚Gleichheit‘ als Argument der Ehewilligen keinen Eingang in die hier untersuchten Rekursurkunden des Berner Oberchorgerichts gefunden hat, verwendeten zahlreiche Petitionäre um 1800 ihre eigene Kenntnis von ‚gleichen‘ Fällen, oder die Kenntnis des Notars taktisch, um eine Ehebewilligung oder Kanzeldispens zu erwirken. Bendicht Bill verlangte zum Beispiel 1801 in seiner Petition „die Willfahr seiner Bitte um so eher von dem Vollziehungs-Rath […], als er weiß, daß solche Dispensations-Begehren schon mehrer mahl gestattet worden sind“.16 Diese Forderung nach Gleichbehandlung implizierte, dass die PetentInnen beziehungsweise die sie beratenden Notare informiert waren und wussten, dass es Präzedenzfälle gab, die im Zeichen der Gleichheit mit hoher Wahrscheinlichkeit Erfolg in Aussicht stellten. Dieses Wissen wurde in Bezug auf die Gleichheitsforderung in vielen Petitionen explizit und selbstbewusst als Mittel des Nachdrucks eingesetzt. Vor den patrizischen Obereherichtern war den prekarisierten Ehewilligen nur die zum Teil zwar hartnäckig und eigensinnig vorgetragene Hoffnung auf einen Gnadenakt geblieben, der dennoch zumindest eine gewisse rhetorische Demut und Unterwürfigkeit erforderte. Gleichheitsforderungen hatten sich in den Rekursmanualen kein Gehör verschaffen können beziehungsweise waren vom Gerichtsschreiber nicht explizit erwähnt worden. In den helvetischen Petitionsschriften zeigten die ehewilligen AkteurInnen nun in durchaus fordernder Tonalität die Erwartung an, dass ihre „Bitte[n], gleich andern Bürger[n], werde gewähret werden“.17 Sie verlangten zielstrebig und direkt, dass ihnen „gleich wie mehrere[n] […] Mitbürgern“ die Dispens oder Ehebewilligung erteilt wurde.18 Indem „da schon Beyspiele dieser gänzl[ichen] Dispensation vorhande [waren]“,19 berief man sich nun aus allen Schichten taktisch geschickt auf den Erfolg anderer Eheschließungen, die früher prekär erschienen wären. „Da die gleiche Gunst anderen [war] erwiesen worden“,20 reklamierten nun auch ländliche Bevölkerungsteile und subalterne AkteurInnen in ihren Bittschriften dieselbe von den helvetischen Vollziehungsräten mit der Unterstützung von Notaren unverhohlen für die eigene Eheschließung und erklärten sich dadurch zu Gleichen unter Gleichen.

 

Allerdings bleibt in Bezug auf die Petitionen gleichzeitig zu erwähnen, dass – ähnlich wie in den Rekursurkunden des alten Oberchorgerichts, die vormals reformorientierte bevölkerungspolitische und traditionelle ständisch-patriarchale Urteilslogiken vereint hatten – von den Ehewilligen zum Teil auf sehr verschiedene Gleichheitsvorstellungen rekurriert wurde. Denn es gab auch einige PetentInnen, die sich auf ein traditionelles Gewohnheitsrecht bezogen, das ihnen oder ihrem Stand bereits früher zustand. So verwies etwa Abraham Jean Puenzieux, der 1803 eine vollständige Kanzeldispens verlangte, darauf, dass er bereits bei seiner ersten Heirat vom Oberchorgericht die Erlaubnis erhalten hatte, seine erste Ehe ohne Verkündigungen einsegnen zu lassen. Gleichzeitig bezog er sich auf seine Ehre, die er sich in verschiedenen Ämtern erworben hatte.21 Und auch Jean Rodolf de Luternau und Louis Frederic Sagan rekurrierten 1801 in ihren jeweiligen Petitionen ausschließlich auf das Argument des alten Rechts – „l’ancien usage que rendait de telles concessions facilles“.22 So hatten nicht nur im alten Oberchorgericht unterschiedliche Ansichten in Bezug auf die zu verfolgende Ehepolitik bestanden. Auch unter den AkteurInnen existierten während der Helvetik unterschiedliche Argumentationslogiken, die auf widersprüchliche Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen referierten und damit zeigten, dass die Inhalte der Petition nicht ausschließlich von aufklärerischen Formeln und Topoi geprägt waren. Dadurch wird aber auch ersichtlich, dass durch die neue zentralistische Verwaltung Menschen in Zusammenhang mit der Eheschließung dem staatlichen Gewaltmonopol unterworfen wurden, die zuvor relativ selbstverständlich auf weitläufige Privilegien vertrauen konnten.

Neben den Unterschieden in den Gerechtigkeitsvorstellungen der Petitionäre, die sowohl auf neue universelle Rechtsgleichheit als auch alte Gewohnheitsrechte hinwiesen, zeigte sich in Bezug auf die Gleichheit eine weitere Tendenz: Die Begründungen und Argumentationen wurden immer dünner. So bat beispielsweise Franz Gruber am 26. Mai 1801 ohne weitere argumentative Bemühungen und in gewissermaßen abgeklärter Weise, „daß ihme die nach anhin gewohnten Gebrauch zweymahlige Verkündigung möchte nachgelaßen und geschenkt werden.“23 Schaut man sich die Petitionen um Kanzeldispensen im zeitlichen Verlauf der Helvetik an, stellt man allgemein fest, dass die Begründungen und Rechtfertigungen für die Bitten zumindest tendenziell standardisierter wurden. Man stößt in zunehmender Häufigkeit auf Gesuche, in denen die PetentInnen beziehungsweise die Notare lediglich die Bitte ohne legitimierende Begründungen formulierten. Das weist daraufhin, dass sich im Vollziehungsdirektorium bezüglich der untersuchten Petitionen eine Routine etabliert hatte, die alle PetentInnen unabhängig von der taktischen Geschicklichkeit ihrer Begründung in ihrem Anspruch auf Kanzeldispens gleichbehandelte. Es scheint, als wäre die Eheschließung zunehmend als Menschenrecht verwaltet worden. Dieses wurde offenbar kategorisch und ungeachtet der Motive der Ehebegehrenden gewährt. Zugleich wurde der Anspruch auf Kanzeldispens und Intimität der PetentInnen, so der Eindruck, zunehmend als eine Art Gewohnheitsrecht erachtet und als Erwartung formuliert. Es schien kaum noch Gründe zu geben, die eine Heirat ohne öffentliche Verkündigung verhindern sollten, wodurch, etwas anachronistisch formuliert, das zuvor ständische Vorrecht auf ‚Privatheit‘ nun in Absprache mit dem Staat auf alle Schichten ausgeweitet wurde.

2.2.4 Haushaltsökonomie, wirtschaftliches Glück und ‚fortschreitende‘ Zeit

Die bisher vorgestellten taktischen Argumente für die angestrebten prekären Eheschließungen in den Petitionen haben eine auffällige Gemeinsamkeit. Sie enthalten in einem aufgeklärten Kontext oft mehr oder weniger direkte Kritik an den alten Zuständen unter dem Ancien Régime.1 Die ständisch-patriarchale Sexualmoral von Kirche und Obrigkeit wurde mit dem Hinweis auf Natürlichkeit der Sexualität konterkariert. Das vormalige geburtsständische Verständnis der Ehe als göttliche Gnadengabe und rechtliches Privileg verwandelte sich in den Petitionen in eine tendenzielle Forderung nach quasi naturrechtlich hergeleiteten Menschenrechten. Der vormalige Zwang zur öffentlichen Verkündigung wurde abgelöst vom aufgeklärten Bedürfnis nach Ruhe, Intimität und Privatheit. Entweder wurde also die unaufgeklärte moralische Ökonomie und das letztlich irrationale Gewohnheitsrecht der lokalen Gemeinschaften beklagt oder das ständisch-patriarchale Ehegesetz und seine aristokratischen Vertreter wurden in zivilisationskritischer Manier als Hinderungsgrund der natürlich interpretierten Liebe und Fortpflanzung kritisiert.2 Mit diesen Argumenten verband sich die allgemeine Forderung nach Gerechtigkeit unter den Auspizien von Freiheit, Gleichheit und Diskretion. Dadurch entstand eine binäre Argumentationsstruktur: Auf der einen Seite stand die rückständige und unvernünftige Vergangenheit unter der Willkürherrschaft unaufgeklärter Hausväter und despotischer Vollstrecker aristokratischer Gesetze. Auf der anderen Seite zeigte sich die verheißungsvolle Zukunft unter den demokratisch gewählten und aufgeklärten Mitgliedern der helvetischen Zentralbehörden. Dabei waren die Argumente, die wir bis hierher aus den Petitionen der AkteurInnen für eine Eheschließung kennengelernt haben, in der Gegenüberstellung mit den Taktiken, die in den Rekursurkunden des Oberchorgerichts präsentiert wurden, in vielerlei Weise vollkommen neu. Während sich die AkteurInnen dort vor Gericht in einem Rechtfertigungsdruck gegenüber den Argumenten der opponierenden Intermediären befunden hatten, stellten hier die AkteurInnen in den Petitionen mit Hilfe von Notaren selbstbewusste Forderungen auf und artikulierten matrimoniale Erwartungen und Hoffnungen in einem selbstsicheren Duktus.

Wesentlich weniger kontrastreich im Vergleich der Zeiten und Quellengattungen als die eben aufgezeigten Argumente für eine Eheschließung erschien das haushaltsökonomische Motiv in den Petitionen. Dieses hatte bereits unter dem Ancien Régime die Eheschließung als Ausgangspunkt für die Verbesserung der aktuellen wirtschaftlichen Lage und die ökonomische Eigenständigkeit in der Zukunft präsentiert. Wie schon vor dem Oberchorgericht des Ancien Régimes machten auch zahlreiche PetentInnen vor den helvetischen Gesetzgebern und dem Vollziehungsdirektorium geltend, dass sie auf die Eheschließung aus haushaltsökonomischen Gründen in existenzieller Weise angewiesen waren. „[B]esonders [die] in gegenwärtiger Zeit drukenden Umstände[]“3 – gemeint waren die wirtschaftlich allgemein schwierigen Verhältnisse unter französischer Besatzung und die Einquartierungen der Soldaten – machten den Bittschriften zufolge das Haushalten und Auskommen als Alleinversorgende zum Teil während der Helvetik noch beschwerlicher als zuvor.4 „Ein beträchtliches Heimwesen war ohne vertraute männliche Hilfe, unmöglich länger zu besorgen“, meinten die haushaltsökonomisch argumentierenden verwitweten PetentInnen Anna Trachsel und Maria Dähler.5 Und für die 23-jährige Anna Kähr, die Witwe des Land- und Wundarztes Johann Jacob Kunz aus dem ländlichen Rüderswil waren zum Beispiel die ca. 20 Jucharten Land ohne die Unterstützung eines Ehemanns nur mit der Hilfe von fremden Tagelöhnern zu bewirtschaften. Letztere waren ihrer Meinung nach aber zu teuer und bestellten die landwirtschaftliche Fläche ineffizient, wohingegen ein Ehemann aus wirtschaftlichen Erwägungen die attraktivere, da loyalere Alternative darstellte. Während Tagelöhner, so scheint es in der Petition, lediglich an ihrem Lohn interessiert waren, hatten Ehepartner geteilte wirtschaftliche Ziele.6 Neben dem landwirtschaftlichen Betrieb würde auch die vom verstorbenen Mann geerbte und zu dessen Lebzeiten angeblich florierende Apotheke „unwiederbringlichen Schaden“ nehmen, wenn nicht zeitnah geheiratet werden könnte. In anderen Worten konnte der stark ökonomisch akzentuierten Argumentationslogik dieser Petition zufolge nur eine baldige neuerliche Eheschließung die Frau „dem androhenden Ruin ihres Vermögens entziehen“.7 Sie verlangte deswegen die sofortige Erlaubnis für die Eheschließung mit Johann Ulrich Lüthi von Lauperswil, der wohl nicht zufällig ebenfalls Land- und Wundarzt war, unter Abschlag der gesetzlichen Wartezeit von zwölf Monaten bei Witwen- und Witwerheiraten.8

Kähr war nicht die einzige Protagonistin, die laut ihrer Petition einzig aus ökonomischen Überlegungen zu heiraten gedachte. Auch Johannes Wallacher von Ersigen, der in der Bittschrift als „ein Jüngling von 25. Jahren“ beschrieben wurde, wünschte die Witwe eines angeblich entfernten Verwandten ausschließlich aus wirtschaftlichen Erwägungen und möglichst bald zu heiraten.9 Sein Vater besaß zwei Höfe, wovon der eine von einem Lehensmann bewirtschaftet wurde. Weil aber ständig französische Truppen auf dem Durchmarsch waren und auf diesem Lehensgut einquartiert wurden, forderte der Lehensmann so weitreichende Konzessionen von seinem Gutsherrn, „dass dem Hinleiher vom Lehenzins wenig zu gut bleibt“. Aufgrund mangelnder Rentabilität sollte nun der Sohn diesen Hof so schnell wie möglich übernehmen. „Um […] das Hauswesen zu übernemmen, muß sich der Supplikant nach einer Gehülfin umsehen“, so das in der Petition vorgestellte Heiratsmotiv.10 Die Hofübernahme war demnach der Grund für die Heirat. Dessen landwirtschaftlicher Betrieb konnte nur mit einer Frau an der Seite aufrechterhalten werden. Insofern waren Männer und Frauen in den Bittschriften gleichermaßen aufeinander angewiesen.

 

Die angeführten Beispiele verdeutlichen, dass unter den helvetischen Verhältnissen ökonomische und funktionale Erwägungen nach wie vor einen ganz wesentlichen Beweggrund für eine Eheschließung darstellten. So hatte Anna Kähr direkt den unternehmerisch passenden Mann zur Stelle, weil er die Apotheke des verstorbenen Manns weiterführen konnte.

Viele PetentInnen versuchten weniger exklusiv ökonomisch gelagert als in den eben geschilderten Beispielen ihren Ehewunsch zu legitimieren. So intendierten einige, zwar ihre „häuslichen Umstände zu verbessern“, damit verbunden aber auch explizit ihr „Glück zu machen“,11 wie es bereits in den Ehegerichtsfällen unter dem Ancien Régime geschehen war. Wie in den zuvor untersuchten Rekursurkunden zeigt sich auch in den Petitionen wiederholt, dass Wirtschaftlichkeit und das Gefühl des Glücks verständlicherweise keine sich ausschließenden Größen waren, sondern sich bedingende Parameter einer Eheschließung bilden konnten. Ganz deutlich kam die Verbindung zwischen den materiellen Verhältnissen und dem zu erwartenden Glück in der Bittschrift des Witwers Bendicht Weingartner aus Zollikofen zum Ausdruck. Er wünschte Anna Balmer, nota bene die uneheliche Tochter des Schwagers, zu heiraten. Weingartner, „der zum Behilf seines Hauswesens eine Gattin bedarf“, formuliert darin seine Bitte um Eheerlaubnis, „das er nicht thun würde, wenn sein wirthschaftliches Glük nicht von seinem Vorhaben abhangen würde“.12 Die Verquickung von prosperierendem Hauswesen und wirtschaftlichem Erfolg kam auch in der Bittschrift des Ehebrechers Ulrich Gerber und seiner Magd Anna Gerber zur Geltung, erhielt aber emotional eine etwas andere Konnotation. Darin wurde argumentativ nicht nur auf das zukünftige Glück verwiesen, sondern eine sehr explizite Relation zwischen Haushaltsökonomie und Liebe hergestellt. Seit der Scheidung von seiner ersten, ungeliebten Frau, „führte ihm die eben gedachte Anna Gerber […] bisher seine Haushaltung, wodurch sie sein ganzes Zutrauen und seine Liebe erworben“ hatte.13 Nicht minder ausdrücklich stellte Peter Bauer diese Beziehung zwischen Liebe und Haushalt her, der ebenfalls petitionierend begehrte, jene Frau zu heiraten, mit der er zuvor Ehebruch begonnen hatte. Da sich seine erste Frau entsprechend seiner Darstellung auch nach der Heirat mehrheitlich bei ihren Eltern aufgehalten und ihn in der Haushaltsführung im Stich gelassen hatte, stellte der Petent eine Magd ein, „ein Mädchen, welches sowohl in der Häuslichkeit als in Verstand und Sitte sein Eheweib weit übertraf, und eben deswegen eine leidenschaftliche Liebe und Vertraulichkeit, ihre Schwängerung – und darauf die Scheidung von seinem Weib zur Folge hatte“.14 In beiden hier vorgestellten Fällen führten die haushälterischen Fähigkeiten der Mägde zur Liebe und zum ehelichen Begehren. Geliebt wurde laut diesen Petitionen das ökonomisch Nützliche, weil es Glück in Form von materiellem Erfolg in Aussicht stellte. Haushälterische Fähigkeiten machten in dieser Logik attraktiv und brachten im zweiten Fall sogar die männlichen Leidenschaften in Wallung.

Gleichzeitig wurde in einigen Ansuchen das individuell Nützliche für die einzelne Hauswirtschaft nicht nur geliebt, sondern in utilitaristischer Manier auch als allgemein Nützliches vorgestellt. Im Fall von Anna Kähr und Johann Ulrich Lüthi bewahrte die Eheschließung zum Beispiel nicht nur die Witwe vor dem wirtschaftlichen Scheitern, sondern konnte „auch dem dortigen Publicum diejenigen Dienste ersezen […], welche durch den Tod des Kunz verlohren gegangen [waren]“.15 Dadurch wurde auch in den Bittschriften das haushaltsökonomische Argument für die Eheschließung mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Wohl in Verbindung gesetzt, wie es zum Teil vor dem Oberchorgericht passiert war. Das Direktorium wurde von einer prospektiven Verbesserung der hauswirtschaftlichen Lage für das Ehepaar und die Gemeinde überzeugt, weil dadurch knappe kollektive Ressourcen geschont werden konnten. In manchen helvetischen Bittschriften kam allerdings ein argumentativer Akzent hinzu, der mit der Eheschließung allgemeinen wirtschaftlichen Fortschritt verband. Dadurch wurde den helvetischen Zentralbehörden durch die Bittsteller mit der Heirat eine Art profitabler Anstieg wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Effizienz in Aussicht gestellt, wie sie auch die bereits erwähnten populationistischen Bevölkerungspolitiker im Zusammenhang mit der Eheschließung skizzierten. Der Haushalt avancierte nicht nur zum Relais gesellschaftlicher Organisation, sondern auch zur Grundeinheit wirtschaftlicher Progression. „[D]as Hauswesen“ machte es in zahlreichen Fällen „erforderlich, dass die Copulation befürderlich vor sich gehe“,16 also auf die Kanzelverkündigungen in den Heimat- und Wohngemeinden verzichtet werden konnte, um den ehelichen Prozess zu beschleunigen und den wirtschaftlichen Fortschritt nicht aufzuhalten. Denn „durch […] Verzögerung [würde] dem häuslichen Wesen […] Nachtheil erwachsen“.17 Es traten Bittsteller auf, denen ihr „neues Etablissement die beschläunigung der heyrath sehr nothwendig und über alles wünschenswerth machte[]“.18 „Beruf und Privat-Geschäfte“ machten es erforderlich, dass keine „kostbare Zeit misbraucht“ wurde.19 „Geschäfte […] befehlen […] sich schleunig möglich zu verbinden“, so Ludwig Knecht, der helvetische Munizipalsekretär, der bereits in der Verurteilung der Bräuche der sogenannten „ärmeren u[nd] bettelnden VolksClassen“ als flammender Fortschrittsoptimist aufgetreten war.20

Die PetentInnen argumentierten zum Teil in unternehmerischem Eifer, der aus Gründen der Effizienz und Beschleunigung nach sofortiger Eheerlaubnis oder Kanzeldispens verlangte. In diesem Sinne baten zum Beispiel Friedrich Brunet aus Wimmis und Verena Zimmerli von Zofingen über den Bruder der Braut um die Dispensation der Kanzelverkündigungen. Da beide nicht mehr in der Heimatgemeinde zuhause waren und in zwei unterschiedlichen Gemeinden – Bern und Muri – lebten, hätten sie ihre Heirat in vier Gemeinden an jeweils drei aufeinander folgenden Sonntagsgottesdiensten von der Kanzel verkünden lassen müssen. „Die Entfernung dieser Orte würde eine solche Zeit erfordern“, die durch bevorstehende Feiertage zusätzlich verlängert würde, dass nicht nur dem Brautpaar daraus wirtschaftlicher Schaden entstehen musste, sondern auch dem stellvertretend petitionierenden Bruder. Denn durch die allfällige Verzögerung konnte er nicht in „Association mit den Manufacturis Sincon & Zimmerli“ treten, wozu die Heirat scheinbar ein Erfordernis war.21 Eheschließungen sollten in vielen Fällen aus wirtschaftlichen Gründen ohne Zeitverlust etabliert werden. Es scheint, als hätten jene PetentInnen, die sich in ihren Bittschriften um ihre Eheschließungen bemühten, der aufklärerischen Aufforderung der Regierung, man solle „mit raschem Schritt mit fortgehen, gar nicht stille stehen, gar nicht zurückbleiben“,22 Folge geleistet.