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Prekäre Eheschließungen

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2.2.2 Schicksalshafte Gefühle, natürliche Sexualität, empfindsamer Staat

Ein Staat, der bestrebt war, seinen wirtschaftlichen Fortschritt durch eine auf Peuplierung angelegte Bevölkerungspolitik zu fördern und ein legales Gewaltmonopol auf- und auszubauen, vertrug sich schlecht mit kommunaler Selbstjustiz, die Ehen zu verhindern suchte. Ebenfalls widersprachen hausväterliche Partikularinteressen dem auf Fortschritt ausgerichteten Zentralisierungsstreben der helvetischen Verwaltung, die bestrebt war, „viel effizienter auf ihre Staatsbürger zugreifen und weit mehr fiskalische und militärische Ressourcen in der Gesellschaft mobilisieren zu können“ als dies unter den aristokratischen Ständeregierungen noch möglich war.1 Diese standen dem direkten und rationalen Zugriff der Behörden auf das Individuum, das es zu hegen und zu pflegen, aber auch zu binden und kontrollieren galt, im Weg. Aus Sicht der Staatsräson stellten aristokratische Ständeregierungen und hausväterliche Partikularinteressen ein potenzielles Hindernis auf dem Weg des gesellschaftlichen Fortschritts und wirtschaftlichen Wachstums dar. Insofern hatten die Vertreter der Republik ein starkes Verlangen nach der Loyalität und Liebe ihrer Bürger. Die Individualisierung und Säkularisierung der Eheschließung ging Hand in Hand mit der Intimisierung der Beziehung zwischen Bürgern und Staat. Der Übergang von der absolutistischen zur republikanischen Sexualordnung stellte einen konstitutiven Aspekt der Transformation der Öffentlichkeit dar.2 Während Liebe unter der alten Herrschaft noch eine Hypothek für die erfolgreiche Durchsetzung prekärer Ehevorhaben darstellte und aus obrigkeitlichlicher Perspektive höchstens ein Privileg vermögender Schichten sein konnte, wurden die Emotionen während der Helvetik zu einem Eckpfeiler in der Kommunikation mit der neuen Regierung. Intimität wurde politisiert und dadurch zu einem wichtigen Vehikel des umfassenden staatlichen Machtanspruchs im Zugriff auf seine Bürger.3 Es entstand gewissermaßen ein öffentliches Recht auf Privatheit, das der Staat zu garantieren hatte. In der Durchsetzung dieses Rechts wurde der Staat zum Komplizen des Individuums im Kampf gegen die kommunale Kontrolle eines hausväterlichen Regimes. In Anlehnung an allgemeinere gefühlshistorische Überlegungen kann gesagt werden, dass heiratswillige AkteurInnen und helvetische Zentralbehörden in der Interaktion des Petitionierens ein „Gefühlssystem“ mit einer „enorme[n] Bindungsmacht“ entwickelten.4 Die romantische Liebe, die in ihrer diskursiven Ausformung bereits im Untergrund des manifesten Diskurses vereinzelt in den Rekursurkunden aufgeblitzt war, drang nun mit den staatlich geförderten Petitionen also an die Oberfläche und wurde taktisch als Ressource in verschiedenen Ehebittschriften genutzt. So verlangten die gewählten Repräsentanten der Helvetischen Republik von ihren BürgerInnen Patriotismus. Mit der Vergabe von Kanzeldispensen und Eheerlaubnissen konnte die Republik eine reziproke und enge Solidaritätsbeziehung mit ihren BürgerInnen eingehen: Der Staat gab gewissermaßen Liebe und Zutrauen, um im Gegenzug vertraulich geliebt zu werden – do ut des. Dieser Zusammenhang zwischen Patriotismus, staatlicher Gegenliebe und ehelicher Gefühlswelt wird im Folgenden anhand der Quellen zu entwickeln sein.

Unter dem Ancien Régime war die Liebe von Obereherichtern in Fällen prekärer Eheschließungen als unvernünftige Leidenschaft, als ein unbeständiges und trügerisches Gefühl, das Leiden und nicht Glück generierte, behandelt und unterdrückt worden. Dagegen konnte die Liebe nun in den Bittschriften um Kanzeldispens und Ehebewilligung aus allen Schichten „tiefe Wurzeln [schlagen]“ und „die Frucht der Liebe“ konnte gedeihen.5 So trat Hans Jakob Born, „[e]in unglücklicher […] Landmann“ aus Thunstetten, am 16. Juli 1798 mit seiner Petition um die Ehe in vormals verbotenen Verwandtschaftsgraden geradezu gefühlsschwanger vor den Gesetzgebern auf. In seiner Bitte um die Erlaubnis für die Heirat mit Anna Maria Müller ließ er verlauten:

„Der Exponent liebte die Tochter seiner Stiefschwester, seine Liebe hatte bei ihrer ersten Entstehung allzu tiefe Wurzeln geschlagen, als daß er dieselbe unterdrücken konnte; Sie liebte auch ihn. Die Bekanntwerdung des Verbots, wodurch sie aufhören sollten einander zu lieben, kettete die Liebenden nur desto stärker aneinander; kurz die Anna Maria Müller wurde schwanger.“6

Die schicksalshafte, zuvor aber unterdrückte Liebe führte in der Argumentationslogik der Petition zu ihrer unweigerlichen natürlichen Folge, dem Sex und der Zeugung eines Kindes, und avancierte zum primären Heiratsmotiv. Born und Müller wollten das Kind bereits unter dem Ancien Régime durch die Heirat legitimieren. Ihre Liebe wurde von den aristokratischen Eherichtern, die in der Petition als AkteurInnen eines anderen Diskurses auftraten, aber bezeichnenderweise „nicht gehört“, was dem vorausgehenden Befund zur Liebe in den Rekursmanualen des Oberchorgerichts aus dem Ancien Régime entspricht. Deswegen musste das Paar in der Logik der Petition fortan ungerechterweise, da wider die Natur, getrennt leben.7 Doch dadurch wuchs „ihre Zuneigung, ihr Wunsch, sich auf ewig mit einander zu verbinden“ in fatalistischer Weise nur noch mehr.8 In ihrer Selbstdarstellung war die Liebe ganz und gar nichts Unbeständiges mehr, sondern ein unwiderstehliches Gefühl, das gleichwohl auf dauerhafte Loyalität angelegt war. Gerade deshalb war das auf Beständigkeit angelegte Gefühl für die eher instabile helvetische Regierung wohl interessant, da es sich auch auf den Staat projizieren ließ. In dieser diskursiven Akzentuierung erschien die Liebe geradezu als die zentrale Ressource bei der Durchsetzung der vorgestellten prekären Eheschließungen. Mit der Bittschrift eines ‚unglücklichen Landmanns‘ wurde ganz im Sinne Ute Freverts Definition von ‚Gefühlspolitik‘ „Politik mit Gefühlen und um Gefühle“ betrieben, allerdings nicht nur von ‚oben‘ nach ‚unten‘, sondern auch von ‚unten‘ nach ‚oben‘.9

Die Petition von Born und Müller war bei weitem nicht die einzige, in der die Liebe taktisch eingesetzt wurde, um zur begehrten prekären Eheschließung zu gelangen. Auch Samuel Wahli und Anna Barbara Röthlisberger, die bereits ein gemeinsames uneheliches Kind hatten und die Geburt eines zweiten erwarteten, setzten ihre Liebesgefühle politisch ein und ‚arbeiteten‘ so mit Emotionen am Erwerb der Eheerlaubnis.10 Dabei brachte die Petitionsschrift dieses Paares den kausalen Zusammenhang zwischen Liebe und Sexualität wie folgt zum Ausdruck: „Die Liebe zwischen diesen jungen Leuten brachte es […] so weit, daß die Röthlisberger sich nun zum 2.ten male schwanger befindet […].“11 Mit der Bittschrift versuchten sie mittels der natürlich-schicksalshaften Verbindung von Liebe und Sexualität den Widerstand des Vaters der noch minderjährigen Braut zu überwinden: „[B]eyde wünschen sehr und sind entschlossen“ ihre Liebe mittels Petition ehelich durchzusetzen, so die hartnäckigen PetentInnen.12 Dieselbe Beständigkeit der Gefühle zeigte sich auch im Fall von Hans Stämpfli und Maria Bürgi, die „Ehrfurcht und Liebe“ für einander empfanden, in der Absicht zu heiraten allerdings vom unsensiblen Brautvater gehindert wurden.13 Doch auch in diesem Fall wurde gerade durch den patriarchalen und unbarmherzigen Widerstand „dieses Band“, das auf schicksalshaften Liebesgefühlen basierte, „fester als jemahls geknüpft“.14 Stämpfli und Bürgi insistierten folglich beim opponierenden Vater der minderjährigen Braut auf der Durchsetzung der Eheschließung. Dieser ließ aber der Petition zufolge „diese Sache […] eine Sache des Kaufs und des Handels“ werden. Der Brautvater verlangte nämlich unterdessen vom Verlobten 8‘000 bis 10‘000 Pfund, die dieser von seinem Patenonkel erheischen sollte. Andernfalls würde er sich ungeachtet der gegenseitigen Gefühle der Vorlobten der Heirat bis zur Volljährigkeit seiner Tochter „nach der ihm zukommenden gesezlichen Gewalt“ widersetzen. Die schicksalshafte Beständigkeit der Liebe taktisch betonend, fragte der Verfasser der Bittschrift die Gesetzgeber in rhetorischer Weise:

„Was würde also der Vater mit aller seiner gesezlichen Gewalt endlich ausrichten, als die Vollziehung eines gegenseitigen Versprechens auf eine kurze Zeit zu behindern, das alles Wiederstrebens ungeacht dennoch geschehen wird[?]“15

Liebe und Glück waren in diesem Diskurs keine Gegensätze mehr. Vielmehr entsprach hier die schicksalshafte Liebe dem Fundament allen ehelichen Glücks und wurde geradezu als Garantie für die Beständigkeit einer Ehe präsentiert. Wo hingegen „ohne ehliche Liebe“ und „von den Ehlteren [sic] durch allerhand Drohungen bezwungen“, im Umkehrschluss also gewissermaßen widernatürlich geheiratet werden musste, wie das laut der Petition von Ulrich Gerber in seiner ersten und kinderlosen Ehe der Fall war, ist „vermuetlich keine Stiftung Gottes“ vorhanden gewesen.16 Mit der mittels patriarchaler Macht erzwungenen und somit ‚unnatürlichen‘ ersten Ehe versuchte der Mann in seiner Petition die Eheschließung mit der zweiten Frau zu legitimieren, mit der er in gegenseitiger Liebe ein außereheliches Kind im Ehebruch gezeugt hatte. Die Kulturkritik, verstanden als Zivilisationskritik, war in diesen Petitionen, die auf die natürliche Liebe rekurrierten, angedeutet. Die patriarchalen Gesetze des Ancien Régimes hatten in dieser Logik quasi zur Entfremdung des Menschen von seiner wesenhaften Natur und seinen natürlichen Gefühlen geführt.17

In den hier vorgestellten Petitionen wurde der Zusammenhang zwischen Liebe, Sexualität und Natur als vollkommen logische und ergo schicksalshafte Beziehung geknüpft.18 Das ist in den angeführten Quellenbeispielen nicht zu überlesen. Der Knecht Rudolf Meyer hatte mit seiner Nebenmagd Elisabeth Thomet vor etlichen Jahren Ehebruch begangen und zwei uneheliche Kinder gezeugt. Unter dem Ancien Régime hatten aber keine Aussichten auf die eheliche Institutionalisierung dieser Beziehung bestanden. Seine wohl mit Hilfe eines Schreibers formulierte Petition brachte in unnachahmlicher Klarheit zum Ausdruck: „[…] die Liebe und aufrichtige Freundschaft […] stiftete einen vertrauten Umgang zwischen ihnen beyden, wovon 2. noch lebende Kinder die natürliche Folge waren.“19 Durch solche Formulierungen erhielt die Sexualität generell einen säkularen Anstrich und verlor mit diesem zumindest in den Petitionen ihren ‚leichtsinnigen‘ und sündhaften Charakter. Illegitime Sexualität zeigte sich in den Zuschriften an die Regierung nicht mehr ‚unzüchtig‘ und ‚unrein‘, sondern war quasi ein natürliches Resultat, das von der ständisch-patriarchalen Ehepolitik zu Unrecht stigmatisiert worden war. Die außerehelich gezeugten Kinder waren folglich „unschuldige Geschöpf[e]“, ja „unschuldige Schlachtopfer“ dieser ehemaligen geburtsständischen Politik.20 Sie galt es nun unter den helvetischen Verhältnissen durch Eheschließungen nachträglich zu legitimieren. Illegitimität figurierte in den Bittschriften, die die voreheliche Sexualität thematisierten, nicht mehr als Sittenfehler der AkteurInnen, sondern als die natürliche Folge ihrer schicksalhaften Gefühle. Die Menschen unterlagen in Fällen vorehelicher Sexualität nicht mehr ihren moralischen Schwächen, sondern gehorchten ihrer menschlichen Natur. Ganz in diesem Verständnis der Sexualität war die helvetische Regierung allgemein darum bemüht, den Status illegitim Geborener nachträglich aufzuheben. Ihnen galt es dieselben Grundrechte anzugedeihen wie ehelich Geborenen.21 Das konnte von Erwachsenen durch einen offiziellen Antrag auf Änderung des Status erwirkt oder bei Kindern mit der nachträglichen Heirat der Eltern realisiert werden, wenn diese unter der alten Regierung nicht möglich gewesen war.22 Der Status der Illegitimität, interpretiert als Ausdruck eines ungerechten ständisch-patriarchalen Systems, konnte somit von den Petitionären zum Argument für die Eheschließung gemacht werden. In den Petitionen während der Helvetik kamen die natürliche beziehungsweise göttliche und die soziale Ordnung durch diese Entwicklungen in einer Weise zur Deckung, wie es die Populationisten mit ihren bevölkerungspolitischen Idealen zum Ausdruck brachten und forderten.

 

Es bleibt anzumerken, dass im Verhältnis zu den im vorausgehenden Teil B analysierten Rekursurkunden wesentlich weniger PetentInnen die voreheliche Sexualität zum Thema ihrer Bittschrift machten. In den Quellen tauchen lediglich 18 illegitim gezeugte Kinder und 16 voreheliche Schwangerschaften auf. Dazu kamen elf Kinder, die in vorausgehenden Ehen geboren wurden. Während mehr als die Hälfte (51%) der Gerichtsurkunden die Sexualität, die der konkreten Eheschließung vorausging, thematisierte (31 von 61 Fällen), erwähnten diese nur gerade 28% (45 von 160) der Petitionen. Eine mögliche Interpretation könnte lauten, dass die sexuelle Vorgeschichte unter dem Ancien Régime von den Ehegegnern in die Gerichtsverhandlung eingeführt werden konnte, während in den Petitionen kein Zwang zu solcher Selbstoffenbarung bestand. Deswegen dürfte diese Thematik in den Bittschriften in gewissen Fällen bewusst ausgespart worden sein.

Liebe schlug, wie wir in der Petition des ‚Landmanns‘ Hans Jakob Born erfahren haben, in Analogie zu einem Baum, der allegorisch für die Natur stand, tiefe Wurzeln, wuchs und trug Früchte. Was den liebenden Paaren widerfuhr, folgte wie das Wachstum einer Pflanze einer vollkommen ‚natürlichen‘ und daher unschuldigen Gesetzmäßigkeit, der der neue Staat zum Durchbruch zu verhelfen hatte.23 Schließlich war die Ehe durch die Naturrechtslehre der Aufklärung zum „Pflanzgarten des gemeinen Wesens“ geworden.24 Während die Aristokraten in den Rekursmanualen emotional gehörlos geblieben waren und dadurch in irrationaler Weise den natürlichen Lauf der Dinge behindert hatten, waren die Hoffnungen der PetentInnen in die einfühlsame und vernünftige Regierung der Helvetischen Republik schier grenzenlos. So auch im Fall des Hans Jakob Born:

„Was soll er sich nicht von Euch Bürger Gesezgeber! versprechen, deren tägliches Bestreben den leidenden Unglüklichen zu trösten das Glük Euerer Mitbürger und Brüder zu befürdern, dem niedersten Hüttenbewohner unsers freyen und – wills Gott! glüklichen Helvetiens kund worden ist! Mit Vertrauen tritt dieser Unglükliche in Euern Hörsaal; Möchte er Eueren Aufmerksamkeit und – was ihne unaussprechlich glücklich machen würde – Euerer Hilfe würdig befunden werden! […] Möge Bürger, Vätter, Freunde und Brüder! die traurige Lage dieses treuen und intressanten Paars und ihres unschuldigen Kindes Euch tief zu Herze gehen damit Ihr Gesezgeber! die Heyrath zwischen den Verlobten und die Ehlichmachung des Kindes für gültig erkennen würdet!“25

Born war längst nicht der Einzige, der sich zuvor in der Rhetorik der Bittschriften der gefühlslosen Autorität der Aristokraten beugen musste und sich nun hoffnungsvoll an die aufgeklärte Regierung wandte. Auch der seit 1796 geschiedene Hans Binggeli aus Guggisberg, der nach der Scheidung vor Ablauf der gesetzlichen einjährigen Wartezeit bis zur Wiederheirat eine Frau schwängerte, appellierte an die Gefühle der neuen Regierung, um sein eigensinniges Ehebegehren durchzusetzen. Er sprach in Bezug auf das sexuelle Vergehen, das im Ancien Régime unter Androhung gesetzlicher Sanktionen stand, ebenso wenig von einer Schuld, sondern von einem durch die damals herrschenden Gesetze verursachten „Unglück“, dem in natürlicher Konsequenz ein Kind folgte.26 Ihm und seiner Verlobten wurde vom aristokratischen Richter das Einverständnis zum prekären matrimonialen Begehren ebenfalls verwehrt, das nun als Menschenrecht präsentiert wurde:

„Es war ein harter Schlag für die Eltern wieder ihren Willen ein uneheliches Kind erzeugt zu haben. Sie mußten sich solches aber gefallen lassen, und sich dem Druck der Oligarchen unterziehen. – Aber jetz da Menschenrechte und Menschengefühle wieder unter uns herrschen, da Helvetiens Gesetzgeber nicht nach Vorurtheilen sondern nach Billigkeit und Gerechtigkeit zu Werke gehen, so hoffet und bittet der Unterschriebene von Denselben, sowohl die Einwilligung zu dieser Heurath, als die Legitimation des Kindes zu erhalten.“27

In ihren prekären Ehebegehren, die von despotischen Oligarchen und unaufgeklärten, gewalttätigen Gemeinschaften unterdrückt wurden, suchten die PetentInnen nun „Zuflucht zu [den] Vätern des Landes“, wie es der Sohn eines mittellosen Bauern in der von ihm unterzeichneten Petition umschreiben ließ.28 In den Bittschriften mutierte der Staat quasi zum vernünftigen und vertraulichen ‚partner in crime‘ oder eben ‚in love‘ gegen traditionalen hausväterlichen und geburtsständischen Machtmissbrauch, der das Naturrecht der Ehe missachtete und dadurch gesellschaftlichen Fortschritt bremste.29 So brachte der bereits zuvor zitierte Knecht Rudolf Meyer von Villigen seine Beziehung zur Republik und ihrer Regierung mit Hilfe eines Notars wie folgt zum Ausdruck:

„Dieses [sein prekäres Ehebegehren] bewegt nun den Exponent, der sich, als ein freier Bürger, von seinem natürlichen Rechten nicht verschalten zu seyn glaubt, zutrauensvoll vor Euch, Bürger Gesetzgeber! zu treten, und sich Eurer Vaterhilfe dahin bestens zu empfehlen, daß Ihr doch gütigst belieben möchtet, ihn mit der gleichen günstigen Aufnahme und Unterstützung zu beschenken, mit deren Ihr bereits mehrere Bürger in der nämlichen Verlegenheit beschenktet: Er bittet demnach inständigst um die Bewilligung, sich mit der gedachten [Frau] verehelichen zu können […].“30

Die Mitglieder des Parlaments wurden als mitfühlende und fürsorgliche Väter angeredet, die den Naturgesetzen und Menschenrechten zum Durchbruch verhalfen. Sie wurden von den PetentInnen im Kampf gegen „die Schlingen des […] eingeschlagente alte Gesez“ in die Pflicht genommen; „um so mehr, da durch […] der ganz helvetischen Stimmenmehrheit, sie […] zu Neuen Gesezgäberen erwelt und verordnet [worden] sind, Land und Leuthe zu beglüken.“31 Die PetentInnen übertrugen gewissermaßen in aktiver Weise Autoritäts- und Machtfunktionen über sich an den Vater Staat, um der patriarchalen Gewalt des Hausväterregimes zu entkommen. Insofern stellte die Helvetische Republik nicht das revolutionäre Ende eines seit der Frühen Neuzeit anhaltenden „Aufstieg[s] des Vaters“ dar.32 Vielmehr veränderte sich das Vaterbild drastisch: Neben den Hausvater, der zunehmend über seine ‚privaten‘ Eigenschaften definiert wurde und zum Familienvater mutierte, trat ein abstraktes väterliches Ideal, das auf den Staat projiziert wurde und stark herrschaftsstabilisierend wirkte. Dabei wurden Fürsorge und Schutz zum Kern der neuen Rolle des Vaters.33

Mit ihrem Verhalten entsprachen die PetentInnen dem bereits weiter oben angesprochenen expliziten Begehren der helvetischen Regierung, „sich mit den Bürgern in immer mehrere Verbindung zu setzen“, das diese mit dem geförderten Mittel der Petitionen gezielt einforderten.34 Heiraten war einerseits zu einem Akt individueller Freiheit geworden. Andererseits banden dieser Akt und die damit verbundenen Verfahren das Individuum aber auch auf neuartige und intensive Weise an den republikanischen Staat und die Nation und definierten den zivilrechtlichen Status des Subjekts in spezifischer Weise.35 Die Bitten um die Erlaubnis prekärer Eheschließungen waren nicht nur Nachweise intimer Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch Zeugnisse enger Bindungen und Abhängigkeiten zwischen den Paaren und dem aufgeklärten und väterlich auftretenden Staat.36 Diese Beziehungen wurden als bemerkenswert vertraut dargestellt, wenn PetentInnen „so dringend als Kinder ihren gütigen Vatter bitten [konnten]“ und die Regierung um eine Eheerlaubnis oder Kanzeldispens ansuchten.37 Durch die eheliche Institutionalisierung der partnerschaftlichen Liebe sicherte sich der Staat von seinen Bürgern eine Portion patriotische Liebe. Während die alten Obereherichter göttliche Gnade verwaltet hatten, bewirtschafteten das helvetische Vollziehungsdirektorium und die Gesetzgeber die Vaterlandsliebe. Umgekehrt versprachen die Petitionnäre den Regierenden bezüglich des allfälligen Erhalts der Ehebewilligung oder Kanzeldispens ihre Treue: „Sie werden mich dadurch besonders verpflichten.“38 Ein „ausgezeichnet guetter Patriot“ versicherte der Regierung seine Treue, erwartete von den Direktoren des Vollziehungsausschusses aber im selben Atemzug, dass sie „beträngten Lüt […] die Hälfs-Hand reichen werden“.39 Die PetentInnen appellierten an das Mitgefühl der Regierenden und stellten in taktischer Weise jene patriotische Loyalität als Belohnung für den Erhalt einer Kanzeldispens oder einer Ehebewilligung in Aussicht, die die republikanische Regierung von ihren Bürgern forderte. So legitimierten erteilte Kanzeldispensen und Ehebewilligungen nicht nur eine vormals prekäre Eheschließung, sondern knüpften auch einen engen gegenseitigen Bund zwischen den liebenden Bürgern und dem liebevollen Staat.40 Es wird hier nicht ausgeblendet, dass sich auch das Ancien Régime in Bern in seinem republikanischen Selbstverständnis landesväterlich und mild inszeniert hatte.41 Doch war nun eine andere Vaterfigur das Vorbild. Während dem Ancien Régime der gütige Hausvater vorschwebte, der für das materielle Wohl und die Versorgung der im Haus Lebenden zu sorgen hatte und durchaus noch gewalttätig züchtigen und strafen konnte, also eine Art „Vater-Fürst“ war, entwickelte sich in der aufklärerisch akzentuierten Helvetik daraus tendenziell die persönlichere, weniger distanzierte und einfühlsame Figur des Familienvaters, die den Bitten und Gefühlen seiner Landeskinder Gehör schenkte.42 Sicherlich gab es auch Kontinuitäten zwischen den Vatertypen und es handelte sich nicht um einen absoluten Bruch. Dennoch waren die Unterschiede in der helvetischen Neuordnung deutlich zu vernehmen.

Die rasante Transformation der Beziehung zwischen Regierten und Regierenden lässt sich nicht nur für die Helvetische Republik beobachten, sondern ist von der Forschung auch schon für das revolutionäre Frankreich beobachtet worden. Die Revolutionäre wollten den ständischen Despotismus überwinden und eine neue, auf Gleichheit basierende Gesellschaftsordnung errichten. Dadurch musste die Eheschließung, die zuvor ein ständisches Privileg und tendenziell eine willkürliche obrigkeitliche Gnadengabe repräsentierte, unweigerlich zu einem zentralen Thema ihres Projekts werden. Zahlreiche Bürger verbanden deswegen öffentliche Politik auf das Engste mit einer intimen Politik. Wenn jetzt das Fundament des Staates in einem Gesellschaftsvertrag lag, der von den Bürgern vermeintlich freiwillig eingegangen wurde, dann sollte auch die Heirat ideell auf der freien Partnerwahl und einem zivilen Vertrag zwischen Individuen basieren.43 Damit soll nicht suggeriert werden, dass sich plötzlich die ‚echten‘ oder ‚wahren‘ Gefühle der Menschen ‚frei‘ äußern konnten. Diese Optik war – wenn schon – Teil der Petitionsrhetorik. Lanzinger verweist vollkommen zurecht darauf, wie heikel und zum Teil unwegsam der Zugang zu den Gefühlen über Quellen ist, die von Behörden oder Dritten im Kontext der Verwaltung produziert wurden.44 Wie stark die in den Petitionen beschriebene Liebe mit dem ‚realen‘ Empfinden der AkteurInnen zu tun hatte, lässt sich historisch-empirisch nicht sagen. Auch die neuerdings zum Ausdruck gebrachten Gefühle unterlagen selbstverständlich Machtbeziehungen. Ihr taktischer Einsatz bewegte sich nach wie vor im Feld mächtiger Strukturen.45 Von der historischen Emotionsforschung ist darauf hingewiesen worden, dass Verschiebungen im Muster, wer zu welchem Zeitpunkt welche Emotionen ausdrücken darf und kann, immer auch Transformationen in den herrschenden Machtstrukturen anzeigen.46 Dadurch ist der Umgang mit Gefühlen immer politisch, also nicht einfach authentischer oder freier.

 

Allerdings wandelte sich der Stil eindeutig, in dem sich Gefühle während der Helvetik äußerten und äußern konnten. In Anlehnung an Foucault treffen wir hier auf einen neuartigen Subjektivierungsmodus.47 Dieser Art von Subjektivierung waren intime Gefühle inhärent. Die schicksalhaften Emotionen wurden unter der neuen Regierung, die sich in persönlicher Weise um die Anliegen ihrer Bürger kümmern wollte, zum schlechthin Authentischen und Natürlichen. Damit wurde jedoch gleichzeitig tendenziell ein latenter Zwang zum Fühlen vermittelt, der von den Bürgern Introspektion und Selbstprüfung erforderte. Wenn also Frevert schreibt, dass die Reflexion und Artikulation die Gefühle „aus dem arkanen Innenleben einer Person“ befreien, entspricht das höchstens der halben Wahrheit.48 Liebe war in der Argumentationslogik der AkteurInnen keine Wahl, sondern wurde als Schicksal vorgestellt. Ihre Artikulation gegenüber der Regierung entsprach einem Vertrauensbeweis an den Staat. Sie wurde durch dessen Verwaltung gefördert, woraus ein unmittelbarer und daher intensivierter Zugriff auf das Individuum resultierte.

Für Bern lässt sich in diesem Bruch die Umsetzung dessen erkennen, was Foucault das Prinzip der Biopolitik nannte: Zu regieren bedeutete nun, sich um die Menschen zu kümmern, ja, sie zu lieben, zu umsorgen und sie in ihren innersten Empfindungen zu leiten. Dazu genügte es nicht mehr, das Territorium und seine Untertanen von ‚oben‘ herab in „landesväterlicher Milde“ zu regieren.49 Die Beziehungen zwischen Regierten und Regierenden veränderten sich dadurch fundamental: Der Souverän sorgte sich jetzt um die intimsten Gefühle seiner Bürger und kultivierte diese. Während sich die Richter des Oberchorgerichts in den Protokollen gehorsamgebietend mit ihrem burgerlichen Titel – ’wohledelgebohrene, gnädige Herren‘ – bezeichnen ließen, adressierten nun die Petitionäre und Petitionärinnen vertrauensvoll die ‚Bürger Gesetzgeber‘. Diese wurden zum Teil gar als ‚Mitbürger‘ und „Vätter unseres gemeinschaftlichen Vatterlandes“50 angesprochen. Auch die reformabsolutistischen Herren von Bern hatten sich gerne als mildtätige ‚Landesväter‘ inszeniert,51 die aber, wie zum Beispiel die Henzi-Verschwörung zeigte, durchaus mit sehr strenger Hand zu regieren wussten. Während der Helvetik wurde die Vaterfigur tendenziell horizontaler und reziproker akzentuiert, auch wenn deren Vorbild eindeutig im Reformabsolutismus lag. Die Mitglieder der helvetischen Zentralbehörden wurden als einfühlsame und liebevolle Väter vorgestellt, die ihren Kindern mit den Petitionen eine Stimme gaben. Die Väter des Landes gaben nicht mehr vor, die Bedürfnisse ihrer Kinder a priori zu kennen und sich vorausschauend darum zu kümmern, sondern luden sie zum Mitwirken ein.52 Sie wurden von den PetentInnen in einer Weise gebeten, „als Kinder ihren gütigen Vatter bitten können“,53 ihnen die jeweils prekäre Eheschließung zu gewähren. Während die Untertanen der aristokratischen Herrschaft dienten und von deren Gnade abhängig waren, sorgten sich nun die Staatsdiener in der Logik der Petitionen um ihre MitbürgerInnen beziehungsweise Vater Staat um seine Kinder. Der Staat wurde zum sensiblen väterlichen Partner erklärt, zu dem man Zuflucht nahm, weil er bei der Realisation von prekarisierten Eheschließungen half.

So war die neue Bevölkerungspolitik der Republik mindestens zu Beginn auf ein Regime der Gefühle abgestützt,54 das die Emotionalität nicht nur tolerierte, sondern zwecks Patriotismus mit unterschiedlichen Mitteln stimulierte.55 Diese Anreizung der Gefühle zur Förderung der Liebe zum Vaterland zeigte sich in der prohelvetischen Propaganda, in intendierten Volksfesten, der Aufrichtung von sogenannten ‚Freiheitsbäumen‘ und im Kokardenobligatorium,56 vor allem aber in der verfassungsmäßig geforderten Ablegung des Bürgereids, mit dem sich der junge volljährige Mann im Beisein seiner Eltern gegenüber der Helvetischen Republik verpflichtete, „ein guter und getreuer Bürger“ zu sein.57 Die Eltern sollten dabei zusehen, wenn sich das volljährige männliche Individuum aus der elterlichen Obhut begab und sich in patriotischer Weise dem Vater Staat anvertraute und verpflichtete. So wurden gleichzeitig neue Abhängigkeiten und Zwänge geschaffen, die das Individuum stärker an die staatliche Zentralmacht banden. Heinrich Zschokke, einer der prägenden Köpfe der Helvetischen Republik, der unter anderem Leiter des Büros für Nationalkultur war, schrieb laut seinen eigenen Erinnerungen an den berühmten Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi, dass das Volk, dem Kinde gleich, „der Macht der Einbildungskraft und der Gefühle mehr, als dem Gesetz des Verstandes untergeben“ sei.58 Auch daraus geht noch einmal hervor, welchen Einfluss Teile der helvetischen Führungselite den Gefühlen beimaßen.

Das hier besprochene öffentliche Auftreten der Emotionen entstand nicht plötzlich in einer spontanen und vollkommen freien Autogenese. Die spezifisch romantische Ausformung der Liebesbeziehungen, die wir in den Petitionen mitgeteilt erhalten, spiegelt eine konkrete Form der Vergemeinschaftung, die an verschiedene spezifische Umstände gekoppelt war.59 Es existierten bereits latente diskursive Anknüpfungspunkte für die Liebe. Das zeigte indirekt die tendenziell abwehrende Haltung der früheren Obereherichter gegenüber diesem Gefühl. Unter den bevölkerungspolitisch günstigen Vorzeichen der Helvetik änderte sich die Wertigkeit der Liebesgefühle aber komplett.

Wie die Gefühlswelt, zu der eben eine spezifische Rhetorik gehörte, in die Petitionen kam, lässt sich nicht eindeutig klären. Zu wenig explizit wurden die Zusammenhänge zwischen individueller Gefühlswelt und externen Vorbildern von den AkteurInnen und ihren Notaren gemacht. Auf die bedeutende Rolle der Kunst, insbesondere der Literatur, wird in der Forschung in anderen Kontexten seit längerer Zeit immer wieder entschieden verwiesen.60 Im konkreten Einzelfall ist diese Relation schwer zu exemplifizieren. Anhand von bürgerlichen Selbstzeugnissen, die zum Teil eindeutig literarischen Skripten folgten, konnte Rebekka Habermas diesen Zusammenhang von romantischer Literatur und Gefühlen mit literarischen Vorbildern allerdings sehr überzeugend aufzeigen.61 Da die Bittschriften während der Helvetik in großer Zahl von Notaren verfasst wurden, wäre ein ähnlicher Zusammenhang auch für die hier untersuchten Quellen durchaus plausibel. Die Schreiber der Petitionen waren vielfach Bildungsbürger und somit potenzielle Leser romantischer Literatur.