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Prekäre Eheschließungen

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2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung

Die alten Chorgerichte und das Oberchorgericht wurden früh aufgehoben. Die alten gesetzlichen Ehehindernisse wurden durch die Praxis des Petitionierens sukzessive abgebaut. Doch obwohl die BittstellerInnen die ständischen Prinzipien der Berner Ehegerichtsordnung allmählich strukturell aushebelten und das anfänglich geförderte Petitionieren im weiteren Verlauf der Helvetik allmählich wieder erschwert wurde, kam es, wie anhand der Kurven in den Grafiken zu sehen gewesen ist, bis ans Ende der Helvetik zu Petitionen in ehelichen Angelegenheiten. In den folgenden Unterkapiteln wird es deshalb darum gehen, zu ergründen, was die Eheschließungen, die in den Gesuchen um Eheerlaubnis oder Kanzeldispens vorgestellt wurden, nach wie vor unsicher machte. Neben den Heiratsmotiven und den Beziehungen der AkteurInnen zum Staat, die in den Petitionen deutlich hervortreten, wird in diesem Kapitel erläutert, wie sich im lokalen Kontext Opponierende trotz abgebauten gesetzlichen Ehehindernissen weiterhin gegen die Eheschließungen sträubten. Aus den Petitionen erhält man zum Teil Informationen darüber, wie die Ehebegehren konkret prekarisiert wurden und was die außergerichtlichen Begleiterscheinungen sein konnten. Neben den Gründen für die Prekarität, die in Hinblick auf die Opponierenden in vielerlei Hinsicht dieselben blieben wie früher, treten in den Petitionen neue Argumentationslogiken für die Eheschließungen auf. Sie deuten auf eine Erweiterung der matrimonialen „Handlungsspielräume“ von AkteurInnen prekärer Eheschließungen hin,1 verweisen aber gleichzeitig auch auf neue Zwänge, die nun auch zuvor privilegierte Schichten trafen. Diese gilt es im Folgenden zu erläutern und in einen Zusammenhang mit der neuen Regierungsform zu bringen.

2.2.1 Die Rügerituale der unaufgeklärten Opponenten als vernünftiges Argument

In der vorausgehenden Betrachtung des Ancien Régimes wurden die Opponierenden der untersuchten Eheschließungsbegehren als relevante und in ihrer sozialen Zusammensetzung differenzierte Akteursgruppe erfasst. Sie prekarisierten die Ehebegehren mit ihren Einsprachen auf lokaler Ebene. In der Folge traten sie mit den Zugrechtsklagen persönlich, mit juristischer Unterstützung oder unter fürsprecherischer Vertretung vor dem Oberchorgericht auf. In den Rekursurkunden des Oberchorgerichts besaßen sie in den Eherichtern, die ihnen unliebsame Eheverbindungen bekämpften, eine entscheidende Stimme. Unter anderem diese Stimme wurde über den Gerichtsschreiber transportiert. In den Petitionen waren die vormals einsprechenden Parteien und Gegner der Eheschließungen hingegen zur Passivität gezwungen. Sie waren in diesem Medium den Fremddarstellungen der eigensinnigen PetentInnen und aufklärerischen Notare schonungslos ausgesetzt. Durch den direkten Weg der Bittschriften zwischen Ehewilligen und Zentralbehörden wurden ihre Argumente schlicht übergangen, weil sie nicht angehört wurden. Das hieß aber nicht, dass sie in den Petitionen nicht erwähnt wurden. Ganz im Gegenteil: Das Verhalten der Opponierenden, ihre im Rahmen von Rügeritualen physisch-performativ vorgebrachten Einwände und ihre außergerichtlichen Sanktionsmaßnahmen auf lokaler Ebene wurden von den Bittstellenden der hier untersuchten Eheschließungen oft als eigentliche Ursache für das Petitionieren angeführt. Die AkteurInnen prekärer Eheschließungen teilten dabei in den Bittschriften Informationen über ihre opponierenden Parteien und deren prekarisierenden Maßnahmen rund um die Eheschließungen aus einer Perspektive mit, die zuvor in den Rekursurkunden des Oberchorgerichts keinen Platz gefunden hatte. Obwohl die in den Bittschriften geschilderten Praktiken und Details auf horizontaler Ebene zuvor in den Gerichtsurkunden keine Erwähnung gefunden hatten, trugen sie selbstverständlich nicht erst seit der Helvetik zur Prekarisierung und Verhinderung von Eheschließungsbegehren bei. Angesichts der ehelichen Konfigurationen in den zuvor untersuchten Akten wäre es somit sehr wahrscheinlich, dass genau den Verhandlungen dieser Eheschließungen zum Teil kommunale Strafaktionen vorausgingen oder folgten. Entweder spielten diese außergerichtlichen Geschehnisse aber im Oberchorgericht schlicht keine urteilsrelevante Rolle, oder sie wurden von den Richtern konsequent ignoriert, beziehungsweise vom Gerichtsschreiber im Rahmen gerichtlicher Normierung herausgefiltert. Die beiden angestellten Mutmaßungen widersprechen sich dabei nicht, sondern ergänzen sich viel eher. Eine weitere Begründung dafür, wieso diese kollektiven Strafaktionen im lokalen Nahraum keine Erwähnung in den Rekursmanualen des Ancien Régimes fanden, könnte sein, dass es Eheschließungen, die Opfer dieser Praktiken wurden, gar nicht in den Ehegerichtssaal schafften. Aus historisch-anthropologischer Perspektive ist die Meinung vertreten worden, dass die Sanktionsmaßnahmen der Dorfgemeinschaft oft effektiver waren als jene der vielfach weit entfernten und der Gemeinde äußerlichen eherichterlichen Instanz.1 Wo diese Maßnahmen aus dem Ruder liefen, landeten sie vor dem Kriminalgericht, vor dem nicht über die eherechtlichen Aspekte der Eheschließung diskutiert wurde.

Wie groß die Furcht der Zeitgenossen vor diesen lokalen Sanktionsmaßnahmen zeitweise war, lässt sich von einem Priester aus dem helvetischen Kanton Waldstätten erfahren, der in einer Petition um „ein öffentliches Verbot dergleichen Unfuges und Ausschweiffungen“ bat.2 Es wird auch klar, dass es sich dabei ganz und gar nicht um bloßes Brauchtum und Folklore handelte, wie dies später in Beobachtungsberichten von Volkskundlern aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert teilweise suggeriert wurde. Als katholischer Geistlicher befand sich der Priester unter dem Ancien Régime noch in einem Dilemma. Er fand sich wieder zwischen weltlicher Obrigkeit, die grundsätzlich die dreimalige Kanzelverkündigung forderte, und seinen katholischen Glaubensüberzeugungen sowie den Anweisungen seines Bischofs, der in gewissen Fällen aus kanonischen Gründen Dispensationen anordnete. Im Rahmen dieses Spannungsverhältnisses musste der Geistliche die Brautleute jeweils befragen, wieso sie die Befreiung von den Verkündigungen wünschten. Diese, so der Kirchenmann im März 1800, antworteten ihm:

„[I]hre Ehe wurde durch verleumdungen, und böse streiche feindseliger menschen leicht hindertrieben, wenn sie verkündiget wurde; es geschah ja gewöhnlich den brautleuten bey bekannter einsegnung die ärgerlichsten, öffentlichen beschimpfungen und Possenspiele, daß das Sakrament schändlichst entunehret, und sie nicht einmal mit der behörigen Ruhe und Geistesversammlung eingesegnet werden konnten. ich war augenzeug, daß einige beym Altar deswegen vor zorne gezittert haben.“3

Folglich begrüßte der Priester die allgemeine gesetzliche Möglichkeit einer Verkündigungsdispens unter helvetischer Regierung.4

Durch weitere Informationen in den Petitionen der Ehewilligen ist zu erfahren, welche Beziehungskonstellationen im familiären und kommunalen Umfeld der Verlobten besonders großen Protest evozierten. Es ist in ihnen auch zu vernehmen, welche konkreten lokalen Strafaktionen sie bereits im Vorfeld der Petitionen ertragen mussten oder in Folge der Verkündigungen noch zu befürchten hatten. Das Gericht war im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert keineswegs das einzige Forum, in dem Konflikte ausgetragen wurden. Soziale Ordnung wurde auch außergerichtlich und auf horizontaler Ebene reguliert, verhandelt und hergestellt.5 Die Wiederherstellung dieser Ordnung folgte im Konfliktfall einer „Stufenleiter von Gerichtsformen“.6 Streitigkeiten, bei denen das obrigkeitliche Gericht miteinbezogen wurde, hatten häufig bereits eine hohe Eskalationsstufe erreicht.7 Die obrigkeitliche Justiz befand sich zweifellos am oberen Ende dieser Skala.8 So kann zum Beispiel durch die gemeinsame Petition von Daniel Moser, einem Brautvater, und Bendicht Junker, seinem Schwiegersohn in spe, erhellt werden, dass exogames Heiraten auf der Berner Landschaft trotz oder gerade wegen des steigenden Drucks zu räumlicher Mobilität erhebliche Schwierigkeiten für die ehewilligen Paare und ihr Umfeld evozieren konnte. Durch die Bittschrift erfährt man, wie die Konsequenzen aus einer solchen Heirat auf lokaler Ebene gestaltet sein konnten:9

„[E]in ländlicher unsinniger Gebrauch [bringt] mit sich […], daß in der Hochzeitnacht einer Weibsperson die sich nicht mit einem Ortsbürger verehlichet, ein Charivarii gegeben oder welches das nemlich bedeütet – das Troßel geführt wird, woraus öfters Unglück entsteht […].“10

Dabei handelte es sich um eine Beziehungskonstellation, die von den Urkunden des Oberchorgerichts explizit nie angesprochen wurde, weil sie juristisch nicht entscheidend war. Allerdings hat sich bei der Analyse der Herkunftsorte von Braut und Bräutigam auch in den Rekursurkunden gezeigt, dass diese auffällig oft voneinander abwichen. Die dort untersuchten prekarisierten Eheleute heirateten also relativ häufig einen Partner oder eine Partnerin außerhalb ihrer Heimatgemeinde. Das stellte zwar kein Problem für die gnädigen Herren von Bern dar, für die lokale Gemeinschaft der Brautleute hingegen sehr wohl. Für die ‚moralische Ökonomie‘ (E. P. Thompson) einer Gemeinschaft mit knappen Ressourcen konnte die Exogamie von sehr negativer Bedeutung sein. Die wenigen Menschen, die exogam heirateten, waren in den allermeisten Fällen entweder „überdurchschnittlich reich oder arm“.11 Folglich führte deren Heiratsverhalten dazu, dass entweder wertvolle Ressourcen an einen anderen Ort abflossen oder arme Leute aus anderen Gemeinden zu einer höheren Beanspruchung des Heimatortes beitrugen. Zudem verkleinerte jede Ausheirat den Pool ehefähiger Personen in der eigenen Gemeinde. Somit trug sie neben allen rechtlichen und familiären Be-stimmungen zu einer zusätzlichen Minderung der Heiratschancen der ledigen Gemeinschaftsglieder bei. Diese nachteiligen Folgen für die lokale Ressourcenwirtschaft konnten sich während der Helvetik verstärken, da die Einzugsgelder für die Gemeinden der Einheirat neuerdings wegfielen. Folglich bedrohten exogam heiratende Paare den von der lokalen moralischen Ökonomie geprägten „Sexualkodex einer Gemeinschaft“ in gesteigertem Masse.12 Mindestens 98 (61%) der hier untersuchten 160 prekären Eheschließungen in den Petitionen waren exogamer Natur. Mann und Frau stammten also nicht aus derselben Heimatgemeinde und sorgten dafür, dass Besitz oder Vermögenslosigkeit von einer Gemeinde zu einer anderen transferiert wurde.13

 

Eine Ahnung davon, was ‚Trossel führen‘ und ‚Charivari‘ zu dieser Zeit in Bern bedeuten konnte, erhalten wir aus einem zeitgenössischen Reisebericht von Johann Rudolf Wyss, einem bekannten Berner Dichter und Philosophieprofessor, der das Berner Oberland erkundete.14 Der Bericht entstand in den Jahren 1816/17 und beschreibt das sogenannte ‚Trossel führen‘ als „drollichte Zügelfuhr“ in einem Gebiet, das vor der Helvetik noch zum Berner Herrschaftsgebiet gehörte und somit in der Umgebung lag.15 Dabei handelte es sich um „das Zuführen des sogenannten Troßel’s, des Heyrathsgutes oder der Mitgift“ (von franz. trousseau, Aussteuer) unter karnevalesken Vorzeichen und „bey Nacht“, das in den ländlichen Regionen Berns veranstaltet wurde, „wenn ein Mädchen in ein anderes Dorf heyrathet[e]“.16 Das von Wyss beschriebene Szenario entspricht mehr oder weniger den Umständen der exogamen Heirat von Elisabeth Moser und Bendicht Junker in der zuvor zitierten Petition. In diesem konkreten Fall trat außerdem der erschwerende Umstand hinzu, dass der Brautvater Daniel Moser seine Tochter zuvor noch einem anderen, lokalen Mann versprochen hatte, weshalb er „in seinem eigenen Haus auf das grausamste thätlich mishandelt [ward]“.17 Die physische Misshandlung des Brautvaters im eigenen Haus durch die jungen Männer des Dorfes verweist auf den Schweregrad seines Vergehens im Rahmen der moralischen Ökonomie dieser Zeit. Gleichzeitig wird deutlich, wie weit die Interessen der dörflichen ’Peer-Group‘ der Brautleute und der Eltern – vor allem der Väter – und deren erweitertem sozialen Umfeld divergieren konnten.18 Die Verletzung des Hausfriedens, der die Zugänglichkeit zum Hausinnern normativ begrenzte,19 durch das Eindringen ins Hausinnere, war relativ selten. Der Bruch mit der hausväterlichen Unversehrtheit im eigenen Haus stellte die höchste Eskalationsstufe der ritualisierten Rüge dar.20 Die Übertretung der Türschwelle konnte sogar ein Anzeichen dafür sein, dass die Rügeaktion ihre ritualisierten Bahnen zu verlassen drohte. Aufgrund der ausgeführten Umstände der konkreten Verlobung von Bendicht Junker und Elisabeth Moser wurden von ihnen – trotz nuancierter regionaler Unterschiede in der praktischen Ausführung und zum Teil unterschiedlichen Benennungen der Rügerituale – verständlichermaßen Konsequenzen befürchtet, vergleichbar denen, die Wyss in seinem Bericht aus einer nahen Region mit ähnlichen kulturellen Vorzeichen beschrieb. Seinem Bericht zufolge zog in solchen Fällen ein „ganzer Schwarm junger Burschen“ aus dem Heimatdorf der Braut „mit Peitschen, Kuhglocken, Pfeifen, Hörnern, Kesseln und allem, was zu gräßlichem Gelärme taugen mag, vor des neuen Ehepaares Haus.“21

„Die Spötter haben ihre Kleider über den Kopf geworfen, oder sich sonst vermummt, um nicht erkannt zu werden. Einige tragen außerdem berußte Lumpen und Lappen an Stangen, und zeichnen mit kräftigem Schlag alle diejenigen, welche sich neugierig unter Thür und Fenster wagen. Am Ort der Bestimmung wird ein Kreis gebildet; die rasende Musik nimmt ein Ende; und aus dem Stegreife halten ein paar muthwillige Lecker spaßhafte Reden, deren [schmächlichen und anrüchigen] Inhalt sich errathen lässt. Man steckt eine stroherne Puppe an einer Stange auf, oder bringt sie in einer Wiege daher, wiegt sie und singt dazu. Ein verfrühtes Kindbett der Hochzeiterin wird ein wenig gar zu deutlich mit dieser Wiege in Anregung gebracht. Ist eines der Geheiratheten arm, oder sind sie es beyde, so handeln die launischen Gäste mit verstelltem Ernst um Vieh oder Käs, melken mit nachahmendem Geräusch die Kühe, oder machen den Hochzeitleuten zum Schein recht große Geschenke zur Aussteuer. Endlich zieht die ganze Schaar mit unbändigem Lachen und Lärmen wieder fröhlich nach Haus.”22

Der beschriebene Brauch fügt sich in die Reihe jener Rügerituale ein, die bereits von vielen Kulturhistoriker*innen und historisch arbeitenden Anthropolog*innen beschrieben und in ihrer sozialen Logik untersucht wurden.23 Sie stellten ein Instrument lokaler Gemeinschaften dar, um die ‚moralische Ökonomie‘ im Gleichgewicht zu halten, indem sie sich ihrer sozialen Normen versicherten und diese durchsetzten.24 Dabei wurde abstrakten Normen ein physisch-performativer Ausdruck verliehen, um vor allem sexuelle und eheliche Missstände, die die lokale Ordnung gefährdeten, im öffentlichen Raum anzuzeigen.25

Folglich treffen wir nicht nur in der Petition, die die exogame Heirat von Bendicht Junker und Elisabeth Moser betraf, auf das Phänomen dieser gewohnheitsrechtlichen Konsensrituale. Auch in zahlreichen anderen Petitionen, vor allem wenn es sich um Witwer- oder Witwenheiraten handelte, erfahren wir von ähnlichen Bräuchen. Wiederheiratende Witwen und Witwer brachen ebenfalls mit den kommunalen Vorstellungen moralischer Ökonomien, weil die erneute Heirat eine breitere Umverteilung von Besitz durch die Akkummulation von neuerlicher Mitgift verunmöglichte und die Heiratschancen der noch nicht verheirateten, meistens jungen Menschen, erschwerte. Der Besitztransfer an jüngere Generationen wurde teilweise verzögert oder verhindert. Junge Menschen wurden in der wirtschaftlichen und rechtlichen Partizipation an der Gemeinschaft behindert. So waren an etwas mehr als einem Viertel (47) der prekären Ehebegehren in den Petitionen aus der Zeit der Helvetik Witwen und/oder Witwer beteiligt. Um Öffentlichkeit zu vermeiden und dadurch die Bekanntwerdung des Bruchs mit der gewohnheitsrechtlichen Ordnung sowie die damit verbundenen rituellen Sanktionen zu verhindern, baten die Witwen und Witwer, beziehungsweise jene, die diese zu heiraten wünschten, die helvetischen Behörden mit dem Medium der Petition quasi politisch-öffentlich um Privatheit und Intimität ihrer Hochzeit.26 Christen Rohrer, der die Witwe Barbara Rupp mit nur einer Kanzelverkündigung zu heiraten wünschte, bat um die zweifache Dispens, „weil in seinem Dorfe noch wie in der umliegenden Gegend der Schlendrian herrscht, daß man einem jungen Mann der eine Wittwe heyrathet, allerley Karrikaturen und Poßen spielt“.27 Der Witwer Abraham Puenzieux forderte für seine zweite Heirat mit Susanna Marie Vielland die Dispensation mit ähnlichen Gründen: „[I]l craint un charivari, fetes nocturnes qui sont ordinairement accompagniees dans la Paraoisse […] et de Carocatires envers les personnes qui renouvellent leur mariage.“28 Von zwei betagten Ehewilligen, die sich beide seit längerer Zeit in verwitwetem Zustand befunden hatten, wurde „zu Vermeidung des ärgerlichen Publikums-Geschwäzes bey dergleichen Anläßen“ um Kanzeldispens gebeten.29 Die Witwe Ägerter, die wir bereits kennengelernt haben, fürchtete sich ebenfalls vor den ehrrührigen „verleumderische[n] Reden und Lügen“ nach der Kanzelverkündigung und versuchte diesen mit einer Dispens zu entkommen.30 Auch Bernhard Seiler und Salome Bühler, beide verwitwet, beanspruchten die Kanzelsdispens, „um nicht der Gegenstand eines allgemeinen verdrießlichen Gereds und Klatschereyen zu seyn“.31 Wieder andere scheuten „den Spott ihrer Bekannten und Verwandten“, weil sie „schon ziemlich bejahrt und in einem Alter[,] da sie schon Großeltern seyn könnten“, waren.32 Louis F. Sagan und Henriette Moutach wünschten die Befreiung von mehreren Kanzelverkündigungen, weil familiäre Gründe, die nicht weiter erörtert wurden, nicht das geringste Aufsehen duldeten – „des circonstance de famille ne permettant pas le moindre Eclat à cet occasion“.33 Reformierte Religionsdiener, die in der Gemeinde oft eine besondere Stellung zwischen Regierung und lokaler Bevölkerung besaßen und deswegen bereits unter dem Ancien Régime auf Ansuchen häufig von der Kanzelverkündigung dispensiert wurden, petitionierten ebenfalls, „um Aufsehen zu vermeiden“34 und Lärm und Skandal zu verhindern – „d’eviter par là bruit & l’éclat qui accompagnent ordinairement cette espèce [sacrée] de cérémonies“,35 um den Erlass von mindestens zwei Verkündigungen.36 In einer ähnlichen Situation befand sich Albrecht Salchli, der Mitglied der lokalen Gemeindekammer von Aarberg war und daher ebenfalls eine herausfordernde gesellschaftliche Position innehatte.37 Deswegen wünschte auch er gemeinsam mit seiner Verlobten „die priesterliche ein-segnung ihrer sich verheißenen ehe zu erlangen, ohne gepräng [Prunk, hier wohl im Sinne von übermäßiger Aufmerksamkeit gemeint], ohne mit Charivari begleitet, noch mit feur-geschoss angekündet zu werden, daraus wir nach neulicher beispielen, an seinem geburtsordt sich wirklich ohn-glük zu trugen“.38 Wo „wegen Rachsucht und Missgunst, Stoff zu großen Unfugen“ vorhanden war, im hier zitierten Fall von Jakob und Anna Bill wegen der Exogamie, wurden also „zu Verhütung dergleichen Unannehmlichkeiten“ Bittschriften an die Zentralbehörden verfasst.39 Insofern zeigt sich hier, dass Rügepraktiken am Übergang des 18. zum 19. Jahrhundert keines Falls verschwunden waren, sondern nach wie vor ein weit verbreitetes Phänomen darstellten.

Die Stoßrichtung und der argumentative Rückgriff dieser Bittschriften entsprach durchaus einem aufklärerisch-republikanischen Topos. Dieser setzte dem Stereotyp des irrationalen, ‚primitiven‘, lauten und effekthascherischen lokalen ‚Exzesses‘ den aufgeklärten republikanischen Wunsch nach vernünftiger Ruhe und Stille entgegen.40 Diese grundlegende Dichotomie war in der Verfassung angelegt. In dieser stand, dass das aufgeklärte Gesetz „alle Art von Ausgelassenheit“ verbot. Denn die obersten Gebote „des öffentlichen Wohls [waren] die Sicherheit und die Aufklärung“.41 „Eintracht und Ruhe“ waren konstitutionelle Grund-sätze, denen die lauten und irrationalen Bräuche der unteren Bevölkerungsschichten, die es zu erziehen galt, widersprachen.42 Stille und Gemeinsinn benötigte die nüchterne und rationale Aufklärung zur tugendhaften Veredlung der BürgerInnen, nicht „fremdartige, ungleiche, in keinem Verhältnisse stehende, kleinliche Lokalitäten und einheimische Vorurtheile“.43 Die Aufklärung kannte in ihrer Selbstwahrnehmung keinen ‚Schlendrian‘, kein ‚Geschwätz‘, keine ‚Klatschereien‘, keinen Lärm, sondern ausschließlich wohl überlegte Rationalität und universelle Rechte, mit denen sie erstere bekämpfte. Den lokalen ‚Karikaturen und Possen‘ stand hier grundsätzliche aufklärerische Ernsthaftigkeit und Effizienz gegenüber.44 Die „misbeliebigen Gebräuche (in den ärmeren u[nd] bettelnden VolksClassn) […] denen sich jeder (besonders der nicht Einheimische) nach der Ankündigung […] zu unterziehen hat“, wie es der petitionierende Munizipalsekretär von Bern, Ludwig Knecht, in seiner Bittschrift um Kanzeldispens zum Ausdruck brachte,45 wurden geradezu zum aufklärerischen Argument für die direkte Ehebewilligung oder wenigstens die Dispensation von öffentlichen Kanzelverkündigungen verwendet. Die AkteurInnen prekärer Eheschließungen wünschten sich in den konkreten Petitionen in Analogie zu den Verfassungsgrundsätzen, „dass diese Ehe[n] in möglicher Stille eingesegnet würde[n]“.46 Damit antizipierten sie in gewisser Weise zugleich die Interessen der Adressaten. So kamen die lokalen Ehegegner in den Bittschriften wiederholt als unaufgeklärter, gewalttätiger, ‚spasmodischer Mob‘ daher, gegen den man sich mit der Staatsgewalt zu solidarisieren wünschte. Wenn also Gerd Schwerhoff formuliert, dass die Mechanismen der informellen Sozialkontrolle während der Frühen Neuzeit von der Obrigkeit nur schwer zu kanalisieren waren, dann versuchten die hier vorgestellten AkteurInnen genau das mit Hilfe der republikanischen Zentralbehörden zu tun.47 Durch die Denunziation ihres sozialen Umfelds, das sie als unaufgeklärten Pöbel stigmatisierten – eine gängige aufklärerische Kritik an der ländlichen Bevölkerung –,48 versuchten sie in Kooperation mit dem aufgeklärten helvetischen Verwaltungsapparat informelle lokale Rechtsvorstellungen auszuschalten. Mit ihren Bittschriften trugen sie somit auf horizontaler, lebensweltlicher Ebene aktiv ebenso zu einer „Entritualisierung“ bei, wie sie im Verlauf der Frühen Neuzeit für die allgemeine juristische Verfahrenspraxis beobachtet werden kann und die im hier untersuchten Zeitpunkt gipfelte.49