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Prekäre Eheschließungen

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2.1 Heiratswillige PetentInnen

In Analogie zu den Ausführungen im Kapitel zum Ancien Régime soll nach diesem allgemeinen Überblick zu den helvetischen Petitionen in punkto prekäre Eheschließungen in den anschließenden Unterkapiteln aufgezeigt werden, wer die Petitionierenden waren, welche narrativen Taktiken sie unter den helvetischen Verhältnissen entwickelten und welche Veränderungen dieser Taktiken im Unterschied zum Ancien Régime erfolgten. Welche Argumente verwendeten sie nun, um sich die Ehe unter den neuen republikanischen Vorzeichen anzueignen und in den Genuss der damit verbundenen rechtlichen und materiellen Vorzüge zu kommen? Welcher Topoi bedienten sie sich?

2.1.1 Gesetzeswirksamer Eigensinn

Formal behielten die alten Ehegesetze ihre Gültigkeit, die bereits in der Alten Eidgenossenschaft bestanden hatten. Der Entwurf des Helvetischen Civilcodex kam nicht zur Vollendung. Da dieses im Entwurf begriffene Zivilgesetzbuch nie angewendet wurde, blieb es auf dem Gebiet des Familien- und Eherechts offiziell bei punktuellen Entscheiden durch die Legislative und die Exekutive.1 Allerdings nahm sich schon am 4. Mai 1798 ein erster Ehewilliger die Freiheit zu petitionieren: Wenige Wochen nach der Proklamation der ersten helvetischen Konstitution wandte sich Jakob Schneider aus der Ortschaft Mett bei Biel, nota bene ein Berner Kantonsbürger, an die gesetzgebenden Räte der Republik und nutzte somit das konstitutionell verbriefte Recht. Er wünschte laut seiner Bittschrift Barbara Schneider, seine Cousine ersten Grades, zu heiraten.2 Damit forderte er eine eheliche Verbindung, die im alten Bern für Untertanen strikt verboten gewesen war. Die Ehegerichtsordnung von 1743, die bezüglich der verbotenen Verwandtschaftsgrade auf biblischer Grundlage fußte, hatte Cousinenheiraten zweiten Grades noch rigoros verboten. Nach diesen Regelungen waren die aus diesen Verwandtenehen resultierenden strafrechtlichen Folgen für die meisten Menschen schlicht untragbar. Wer nämlich außerhalb des Territoriums von Bern dennoch eine Ehe in verbotenen Verwandtschaftsgraden einging, verlor seine Rechte, durfte das Gebiet nicht mehr betreten und wurde mit der Konfiskation von sämtlichem Hab und Gut durch die Obrigkeit bestraft.3 In der revidierten Ehegerichtsordnung von 1787 öffnete sich allerdings mit dem dritten Paragraphen der fünften Satzung für eine sehr vermögende Schicht im Gesetz ein Schlupfloch:4 Sich heiratende Geschwisterkinder verloren zwar nach wie vor unmittelbar ihre Bürgerrechte und mussten das Kantonsgebiet verlassen. Doch die Strafe war befristet, wenn auch auf mindestens vier Jahre. Das stellte eine harte Strafe dar, die man sich sozial, finanziell, materiell oder emotional erst noch leisten können musste. Zudem behielt sich die Berner Obrigkeit ein Recht auf Leibes- und Ehrstrafen sowie güterrechtliche Sanktionen vor. Nach Ablauf dieser Dauer konnten diese Paare allerdings ein Gesuch um Begnadigung einreichen und dadurch ihre Bürgerrechte wiedererlangen und ins Kantonsgebiet zurückkehren.5 Von dieser Möglichkeit wurde von einzelnen AkteurInnen erfolgreich Gebrauch gemacht. Davon zeugen zum Beispiel die dem lokalen Amtmann von Lausanne mitgeteilten Bewilligungen der Gnadengesuche durch Schultheiß und Räte im Staatsarchiv des Kantons Waadt aus der Zeit unter Berner Herrschaft.6 Aber auch für vermögende Familien waren solche Verwandtschaftsverbindungen, die in Bern oft strategischen Zielen, also nicht zuletzt dem familienpolitischen Kalkül von Besitzstandswahrung und -vermehrung sowie herrschaftlichen Partizipationschancen folgten, bei allen Vorteilen mindestens zwischenzeitlich mit erheblichen Nachteilen und Schwierigkeiten verbunden.7 Sie waren prekär, da die Eheleute die vier vorgeschriebenen Jahre fern ihrer Heimat zubringen mussten.8 Margareth Lanzinger stellt in ihrer Forschung darüber hinaus fest, dass die in den protestantischen Territorien tendenziell weniger zahlreichen Ehehindernisse und -verbote von den Obrigkeiten dafür umso kompromissloser und prinzipieller gegen ‚unten‘ durchgesetzt wurden als in den katholischen Gebieten. Sie sahen vielfach keine oder sozial weniger zugängliche Möglichkeiten für eine allfällige Dispensierung vor, weil das Erwerben von göttlicher Gnade, von Segen und Heil auf fundamentale reformatorische Kritik stieß.9 So waren vermutlich die Hemmungen gegenüber Eheschließungen in nahen Verwandtschaftsgraden im Gebiet von Bern erheblich größer, weil die Hürden höher waren und die Chancen der Realisation schlechter standen. Daher waren sie seltener als in den benachbarten katholischen Gebieten der Eidgenossenschaft.10

Jakob Schneider aus Mett war sich dieser beschriebenen rechtlichen Rahmenbedingungen als Zeitgenosse durchaus bewusst, wenn in der von ihm unterzeichneten Petition überzeugt und in Bezug auf die alte Dispenspraxis in seiner sozialen Position vielleicht etwas euphemistisch formuliert wurde, dass „eine solche Ehe […] nach dem ehemaligen Landes Gesäzen verboten [ware], es seye dann Sach, dass man hierzu von dem Landesherre eine Dispensation in Handen hatte, welche aber, wie häuffige Beyspiele zeugen, nicht so gar schwer zu erhalten ware.“11 Und genau so eine Dispensation, beziehungsweise den Schein mit der Ehebewilligung, forderte Jakob Schneider nun für die kirchliche Einsegnung seiner Eheschließung. Der Bitte wurde im Großen Rat sogleich entsprochen. Allerdings überwiesen seine Mitglieder das alte Berner Ehegesetz an eine Kommission, die ad hoc vom Ratspräsidenten gebildet wurde. Sie sollte die Dispensation überprüfen und eine Einschätzung des alten Ehegesetzes vornehmen. Obwohl auch der Senat, die kleinere Parlamentskammer, der Petition stattgab, löste Schneiders Bittschrift hier größere Spannungen aus. So meinte zumindest der Jurist Jules Muret aus dem Kanton Léman,12 dass die aktuelle Verfassung die Befolgung der alten Gesetze mangels neuer Gesetze zwar verlange, Dispensen allerdings Privilegien darstellten und deswegen dem obersten Gebot der Gleichheit widersprechen würden.13 Der Basler Peter Ochs, geistiger Vater der Verfassung und zu diesem Zeitpunkt noch Präsident des Senats, der nach der Helvetik Präsident des Basler Ehegerichts wurde, vertrat bezüglich des Umgangs mit den alten Gesetzen eine andere Auffassung.14 Laut des alten Berner Ehegesetzes, das während der Helvetik nie vollständig außer Kraft gesetzt und nur durch punktuelle Erlasse ‚übertüncht‘ oder ergänzt wurde, waren Dispensationen möglich und wurden erteilt. Insofern sollten sie dem Rechtsverständnis von Ochs zufolge nun nicht aufgehoben werden. Stattdessen sollten sie allen Bürgern, unabhängig von ihrem ehemaligen Stand oder ihren Vermögensverhältnissen, mittels Bittschriften als Möglichkeit zugänglich gemacht werden.15 Die naturrechtliche Auslegeart des Ehegesetzes von Ochs gewann nicht nur in der einmaligen parlamentarischen Auseinandersetzung, sondern auch in der generellen Praxis: Nach Jakob Schneider petitionierten Menschen aus allen Schichten und Kantonen in vergleichbaren Situationen und verlangten Ehebewilligungen oder Kanzeldispensen, die sie oftmals auch erhielten.

Am Fall von Jakob Schneider wird pointiert deutlich, wie von einem konkreten Akteur aus einer ländlichen Gemeinde die ‚günstige Gelegenheit‘ der Helvetischen Republik zu eigenen Gunsten taktisch erfolgreich ausgenutzt wurde. Sein Handeln hatte in der konkreten historischen Konstellation eherechtliche Folgen. Seine Aktion veranlasste das Parlament zu ersten grundlegenden Reflexionen über das herrschende Eherecht. Die parlamentarische Debatte bewirkte vorerst die Transformation eines ständischen Privilegs in ein allen Schichten und Klassen zustehendes Recht. Am 17. Oktober 1798 wurde das alte Hindernis für die Ehen von Geschwisterkindern sogar gänzlich aufgehoben.16 In dieser Entwicklung kommt der „produktive Charakter“ der Taktiken,17 der während der Helvetik sehr ausgeprägt zu sein schien, exemplarisch zum Ausdruck: Die taktierenden AkteurInnen veranlassten die Strategen zu Anpassungen der alten Gesetze. Auf diese Weise evozierten sie in dieser Zeit grundlegende Veränderungen.18 Dabei fanden sie in der historisch vorteilhaften Situation neben Gegnern zweifellos auch verbündete Strategen,19 die das Handeln der TaktikerInnen ihrerseits als Ansatzpunkte betrachteten, um die herrschenden Verhältnisse zu verändern und eine neue Bevölkerungspolitik einzuführen. Es entwickelte sich also eine Allianz zwischen Heiratswilligen und reformorientierten Politikern, die durch die Aktionen der Heiratswilligen ihrerseits Anlass geboten bekamen, Neuerungen einzuführen. Seitens der AkteurInnen prekärer Eheschließungen war nun verhältnismäßig weniger Hartnäckigkeit erforderlich, um zum matrimonialen Erfolg zu gelangen. Während der Helvetik entstand zwischen eigensinnigen Taktiken und republikanischen Strategien in besonderem Maße eine wechselseitige Beziehung. Man kann sich die Frage stellen, ob es während der Helvetik im Feld der Eheschließung zu einer zwischenzeitlichen Reduktion des Machtgefälles, beziehungsweise zur Annäherung zwischen TaktikerInnen und Strategen, kam. Aber auch in diesem Fall brachte erst die historische „Inanspruchnahme“ durch die AkteurInnen die Strategen im Parlament zum Sprechen, indem die TaktikerInnen „den eigenen Standpunkt nachdrücklich klarmach[t]en“ und dadurch Reaktionen erzwangen.20 Ganz in diesem Sinne meint Bruno Latour: „Sichtbar ist das Soziale […] nur in den Spuren, die es hinterlässt“21 und formuliert damit das grundlegendste Quellenprinzip von Historiker*innen. Hätten sich die historischen AkteurInnen nicht schriftlich petitionierend an die gesetzgebenden Räte oder das helvetische Direktorium gewandt, wären sie nicht zuletzt auch für die Historiker*innen stumm geblieben, weil sie keine Quellen produziert hätten. Die AkteurInnen prekärer Eheschließungen mussten „ihre Aktivitäten“ also auch während der für sie günstigen Helvetik zuerst „einschreiben“, damit sie für die Mächtigen wahrnehmbar wurden.22 Mit ihren prekären Ehebegehren „bekritzelt[en]“ sie die Kodizes der helvetischen Verwaltung in Form von Petitionen, und hinterließen damit ein „Zeichen [ihrer] Existenz als Autor[en]“.23

 

Dem Beispiel des Bürgers aus Mett folgten zahlreiche andere AkteurInnen, die ebenfalls um eine Ehebewilligung baten, auch aus anderen Gründen als einer Cousinenheirat. Sie und ihre ehelichen Vorstellungen werden Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Die taktischen „Spiele“, die die AkteurInnen mit ihren prekären Eheschließungen bereits während des Ancien Régimes „in die Grundlage der Macht“ eingebracht hatten,24 trafen während der Helvetik auf ideale politische Umstände. Denn die lokale Macht der Hausväter wurde durch die Zentralbehörden und deren Streben nach einem zentralistischen Gewaltmonopol unterwandert. Die AkteurInnen hatten es anfänglich mit einer zentralistischen Verwaltung zu tun, die sich dem konstitutionellen Anspruch nach der Gleichheit und Freiheit aller Bürger – die Frauen wurden nach wie vor nicht als rechtsgleiche Subjekte wahrgenommen – und der Sorge um das Volk verschrieb und dabei unmittelbar auf das Individuum zuzugreifen wünschte. Die praktische bevölkerungspolitische Umsetzung sollte rationalen Prinzipien gehorchen und auf der statistischen Grundlage der helvetischen Volkszählung basieren. So zielte die helvetische Ehegesetzgebung, die punktuell reagierte, zumindest anfänglich eindeutig auf die Reduktion und Abschaffung von Hindernissen ab, die der gesellschaftlichen Reproduktion entgegenstanden.25 Der eigensinnige Aneignungs- und Übersetzungsvorgang des alten Berner Gesetzes durch den spezifischen „Mittler“ Jakob Schneider aus Mett markierte innerhalb dieses politischen Rahmens die Initialzündung für einen Prozess, infolgedessen zumindest für die Dauer der Helvetik noch andere patriarchale und religiöse Ehehindernisse aufgrund der Praxis der AkteurInnen im Zusammenspiel mit einer aufklärerischen Staatsideologie wegerodierten,26 jedoch nie in Vergessenheit gerieten, wie die Diskussion um die Wiedereinführung der lokalen Ehegerichte zeigte. Die AkteurInnen prekärer Eheschließungen brachten auf diese Weise mittelfristig eine alte ständische Macht ins Wanken, beziehungsweise trugen mit ihrem konkreten ehelichen Handeln zu deren Überwindung bei. Im weiteren Verlauf der reformorientierten Anfangsphase der helvetischen Ära wurden nicht nur die verbotenen Verwandtschaftsgrade bis zum zweiten Grad aufgehoben. Auch das Verbot für gemischtkonfessionelle Ehen, das nicht nur von der Berner Obrigkeit zuvor gegenüber ihren Angehörigen und Untertanen in absoluter Konsequenz sowie unter Androhung und der effektiven Verhängung drakonischer Strafen umgesetzt worden war, verlor in Anbetracht des tatkräftigen Eigensinns und der Rechtspraxis einer vorerst fortschrittsoptimistischen Behörde am 2. August 1798 seine Wirkung.27 Davon zeugt beispielsweise die bewilligte Petition um Kanzeldispens von Jean Barbet: Der katholische Freiburger schwängerte die protestantische Elisabeth Vacheron und wünschte nun diese zu ehelichen. In seiner Bittschrift ließ der unterzeichnende Verlobte verlauten, dass die Eheschließung aufgrund der Konfessionsunterschiede in Schwierigkeiten geraten würde. Sie nahmen an, dass die Eltern ihre Verbindung vernichten wollten.28 Am 28. Oktober 1798 bat der Berner Ulrich Gerber, seine Magd Anna Gerber ehelichen zu dürfen. Er war trotz des gleichen Namens laut eigenen Angaben nicht mit ihr verwandt, hatte sie aber im Ehebruch geschwängert. „Will das alte Bernische Gesez, auf den Fahl hie die Kuppolattion [sic] verbiettet“, stand in der eigensinnigen Petition des ehewilligen Ulrich Gerber unumwunden die sehr direkte Frage formuliert: „[S]oll dieses Gesez wägfallen oder nicht?“29 Tatsächlich wurde im konkreten Fall das alte Gesetz suspendiert. Die Ehebegehren von Ehebrechern und Ehebrecherinnen unter dem Ancien Régime hatten in Bern nämlich keine Chance auf matrimonialen Erfolg. Das zeigen die Rekursmanuale sowie der konkrete Fall, obwohl „der Gerber alle fügliche[n] mittel und masregel[n] zur Hand nam“.30 Dagegen wurde nun vom Direktorium ein weiterer Präzedenzfall geschaffen, der im Widerspruch zum Berner Ehegesetz stand. In Bezug auf die unteren Bevölkerungsschichten hatte wohl das Wegfallen der alten Einzugsgelder für Bräute aus anderen Gemeinden die stärksten ehefördernden Auswirkungen. Der entsprechende Beschluss wurde am 18. August 1798 vom Senat verabschiedet, nachdem sich der Große Rat bereits zuvor dafür entschieden hatte.31 Dadurch wurde das Heiraten nicht nur rechtlich und damit sozial einfacher, sondern auch finanziell erschwinglicher.32 Insofern stellte die Helvetik wortwörtlich eine günstige, das heißt preiswerte Gelegenheit dar zu heiraten, weil ein Teil der Kosten schlicht wegfiel.33 Von dieser vorteilhaften Situation versuchten in der Folge zahlreiche PetitionärInnen zu profitieren. Viele von ihnen nutzten die neue Rechtsprechung, um unter dem Ancien Régime prekäre Beziehungsverhältnisse nun ehelich zu legitimieren.34

2.1.2 Soziale Profile der PetentInnen

Im vorausgehenden Unterkapitel konnte gezeigt werden, dass der eheliche Eigensinn unter den vorteilhaften politischen Verhältnissen besonders im reformerischen Klima zu Beginn der Republik gedeihen konnte – dies nicht zuletzt, weil er rechtliche Effekte zeitigte. Nun geht es analog zu den Ausführungen im Kapitel zum Ancien Régime darum, sich den PetentInnen anzunähern. Wer waren die petitionierenden AkteurInnen, die sich eigenhändig in die Akten der Republik einschrieben oder sich mit ihren Ehegeschichten über einen Notar in die Bestände des helvetischen Archivs drängten? Wiederum wird es in der Mehrheit der Fälle weder möglich sein, eine konzise und durchgehende Bestimmung der Schichtzugehörigkeit der PetentInnen vorzunehmen, noch ein präzises Bild des idealtypischen Petenten oder der idealtypischen Petentin zu entwerfen. Dafür fehlen allzu oft Angaben oder sie sind nicht immer gleich ausführlich. Selten werden dieselben sozialen Parameter angeführt, was die systematische Auswertung erschwert. Dennoch lassen sich einige Tendenzen im Quellenmaterial feststellen.

Damit ist bereits ein maßgebliches Charakteristikum des Quellenbestands und eine Gemeinsamkeit mit dem Ancien Régime benannt: Für die prekären Eheschließungen ist während der Helvetik eine große Bandbreite von unterschiedlichen Menschen in den Bittschriften zu erkennen. Dies ist einerseits eine Feststellung, die nicht nur auf die Ansuchen um Kanzeldispensen oder Heiratsbewilligungen zutrifft, sondern in der Forschung auch schon ganz allgemein für die helvetischen Petitionen hervorgehoben wurde.1 Andererseits untermauert die soziale Diversität der Ehebegehrenden die These im Hinblick auf die Frühe Neuzeit auch für den helvetischen Übergang zur vermeintlichen Moderne, auf die bereits im Teil zum Ancien Régime verwiesen worden ist: Die Verehelichung wurde schichtunabhängig von fast allen Menschen angestrebt.2 Die eheliche Unsicherheit, die von AkteurInnen im sozialen Nahraum jederzeit ausgelöst werden konnte, vermochte Angehörige jeder gesellschaftlichen Schicht zu erfassen. So waren von den etwas weniger als 50 % der Petenten, deren Beschäftigung wir aus den Quellen erfahren (76), die meisten in einem Handwerk tätig (22). Die zweitgrößte Berufsgruppe bildeten die Beamten in der helvetischen Verwaltung (17). Auch Militärs von unterschiedlichem Rang wünschten via Bittschrift die erleichterte Verehelichung (9). In je gleicher Zahl (jeweils 7) baten Religionsdiener, Unternehmer und Handelsleute, solche, die freie Berufe ausübten, und Gesindeleute um eine möglichst hindernisfreie Heirat.

Diagramm 5

inkl. Tabelle: Petenten nach Beschäftigungen (Quellen: BAR B0#1000/1483#223*–229*; 489*; 490*; 604*; 605*)

Die überwiegende Zahl der Petenten, die ihre ehelichen Bitten aus dem Kanton Bern an die helvetischen Zentralbehörden richteten und ihre Herkunft nannten, waren Einheimische. Allerdings lebten die meisten von ihnen nicht mehr in derjenigen Gemeinde, die in der Petition als Herkunfts- oder Heimatort genannt wurde. Die Mehrheit von ihnen stammte aus den durch Getreidewirtschaft und Ackerbau agrarisch intensiv genutzten Gebieten des Berner Mittellands.3 Aufgrund dieser Feststellung kann wie in der Analyse zum Ancien Régime davon ausgegangen werden, dass ein großer Teil, der seine berufliche Tätigkeit in der Petition nicht nannte, einer Beschäftigung im landwirtschaftlichen Bereich nachging oder pluriaktiv war. Dazu kamen einige Fremde aus dem europäischen Raum (12) und Angehörige anderer Kantone (15), die sich vor allem in der Stadt Bern niedergelassen hatten. Das beschriebene Phänomen der Disparität von Herkunfts- und Wohnort, wobei ersterer meistens auf einen agrarischen Lebenskontext verwies, darf als Indikator für eine ausgeprägte regionale Mobilität an der Schwelle vom ausgehenden 18. zum beginnenden 19. Jahrhundert interpretiert werden. Die hohe räumliche Beweglichkeit der Menschen zu dieser Zeit ist für Bern mit dem Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zur Erwerbsgesellschaft in Verbindung zu bringen: Die räumliche Mobilität war verursacht von „Verdienstmangel, Arbeitslosigkeit und […] allgemeine[r] Verknappung der Ressourcen“.4 Diese Faktoren potenzierten sich während der Zeit französischer Besatzung, politischer Umwälzungen und Kriege. Die Bedingungen formierten einen während der Helvetik gesteigerten Zwang zur beruflichen und räumlichen Flexibilität. Sie ergaben für die betroffenen Menschen ganz im Sinne des Konzepts von Prekarität „ein Leben mit dem Unvorhersehbaren“.5 Der wachsende Überschuss an Arbeitskräften erschwerte sowohl ein Auskommen in der traditionellen agrarischen Subsistenzwirtschaft als auch in der sonstigen Erwerbswirtschaft.6 Damit liegt die Vermutung nahe, dass einige der Männer, die keine berufliche Tätigkeit angaben (84), keine stabile Arbeit hatten und somit auch keine benennen konnten. Sie besaßen deshalb in aller Regel auch wenige Güter, weshalb sie materiell nicht an die Heimat gebunden waren.7 Für diese These spricht auch der Umstand, dass lediglich 21 PetentInnen die Stadt Bern als ihren Herkunftsort nannten, 51 hingegen die Hauptstadt als Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Petition auswiesen. Die Hauptstadt übte bei der Suche nach Existenzsicherung eine besonders starke Anziehungskraft auf die Landbevölkerung aus, weil sie verschiedene Berufsfelder und Arbeitsgelegenheiten auf engem Raum vereinte. Dadurch stiegen dort die Verdienstchancen und die Aussicht auf ein Auskommen erhöhte sich.8 Viele der PetentInnen waren wohl Angehörige jener subalternen Gruppe, die sich auf der ständigen Suche nach Unterkunft und Erwerbsmöglichkeiten befand und mit der Ehe nicht zuletzt beabsichtigte, ihre Lebenssituation durch die Etablierung eines Haushalts grundlegend zu verbessern. Einige versuchten auch, die prekären Arbeitsverhältnisse durch die Stabilisierung der häuslichen Verhältnisse und die örtliche Niederlassung abzusichern. Diese Hoffnung brachte ein Fremder als „mittellose[r] Manne und häusliche[r] Anfänger“, der sich in Bern dauerhaft niederzulassen gedachte, in seiner Bittschrift um die Eheerlaubnis exemplarisch zum Ausdruck.9 Als Alternative zur Eheschließung stellte er zwei Szenarien in Aussicht: „seine Familie entweder am [sic] Stich zu lassen, oder mit ihr im Unglük und Elend herum zu ziehen“.10 Dieser Fremde war aber bei weitem nicht der Einzige, der eine prekäre Existenz aufwies. Neben ihm begehrten auch andere „Schwachbemittelte“11 oder „ganz unbemittelte Männer“12 die ungehinderte Eheschließung. Einige waren verwitwet, gewisse davon deswegen alleinerziehende Väter.13 Sie bezeichneten sich als Söhne von mittellosen Bauern oder wurden als solche bezeichnet.14 Sie wurden in den Petitionen „Landmänner“ und „niedere Hüttenbewohner“ genannt.15 Einer war ein ausländischer Deserteur.16 Ein weiterer befand sich zum Zeitpunkt der Petition sogar in Haft und gab von dort aus die Petition in Auftrag.17

Bei den Frauen, die in den Petitionen genannt wurden, offenbaren sich ähnliche Tendenzen: Wo Herkunfts- und Aufenthaltsort angegeben waren, unterschieden sich die beiden Angaben meistens. Das erstaunt nicht, waren doch die Frauen von der zwischenzeitlichen Verschlechterung des Arbeitsangebots durch den allmählichen Übergang von einer agrarisch geprägten Wirtschaft hin zu einer Erwerbsgesellschaft besonders eklatant betroffen. Folglich waren sie außerordentlich verletzlich und zu einer besonders flexiblen Lebensweise genötigt. Insofern musste die Eheschließung als verheißungsvoller Ausstieg aus dieser unsteten Lebensweise für die Frauen ungleich attraktiver erscheinen.18 Denn was von der Forschung für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts festgehalten worden ist, trifft für die wirtschaftlich angespannte Zeit der Helvetik in ungleich höherem Maß zu: Den subalternen Frauen stand in dieser Phase ein wesentlich schmäleres Berufsspektrum offen als den Männern. Ihre Erwerbsmöglichkeiten waren noch knapper, weshalb sie in gesteigertem Maß zu räumlicher Mobilität gezwungen waren.19 Allerdings wurden nicht nur die Angaben zur Herkunft in den Petitionen in Bezug auf das weibliche Geschlecht weniger häufig genannt als bei ihren Verlobten. Auch in Zusammenhang mit dem Lebenserwerb erfahren wir nur in neun Fällen die Beschäftigung der jeweiligen Frau. Acht von ihnen standen in häuslichen Dienstverhältnissen. Sie wurden als Haushälterinnen, Dienstmägde und Nebenmägde bezeichnet. Eine Ehewillige wies sich außerdem als Schneiderin aus. Das waren alles Berufe und Beschäftigungen, die von finanzieller Unsicherheit und Abhängigkeiten vom Dienstherrn gekennzeichnet waren. Es erstaunt in Anbetracht der grundsätzlich prekären Stellung der hier thematisierten Frauen nicht, dass die Information, die wir über sie in den Quellen am häufigsten erhalten, entweder der Name des Vaters oder, im Fall von Witwen, jener des verstorbenen Mannes war. Wie in den analysierten Zugrechtsklagen unter dem Ancien Régime wurde der Status der Frau also auch in den Bittschriften maßgeblich über männliche Bezugspersonen definiert. So erschienen die Frauen in den Petitionen zum Teil als nachgeordnete männliche Attribute, deren unverzichtbarer wirtschaftlicher und emotionaler Beitrag zum Gelingen von Haus und Familie unsichtbar oder marginalisiert blieb.

 

In Zusammenhang mit der patriarchalen Gesellschaftsordnung und den Rechten der Frauen kann so etwas wie ein helvetischer Neuanfang nicht festgestellt werden. Als Individuen in den Bittschriften traten die Männer und nicht die Frauen auf. Neben der deutlichen Diskrepanz zwischen der Menge an Informationen zu Mann oder Frau zeichnet sich die konsistenteste quantitative Tendenz im untersuchten Quellenmaterial auch in Bezug auf das Geschlecht der petitionierenden Personen ab. In den untersuchten 160 Berner Petitionen finden sich lediglich vier Bittschriften, die explizit auf das Ansuchen einer Frau hin verfasst wurden. Nur sie waren nicht aus der direkten oder indirekten Erzählperspektive des potenziellen Ehemannes geschrieben, sondern schilderten die weiblichen Bedürfnisse nach einer Ehebeziehung und die damit verbundenen Vorteile. Bezeichnenderweise handelte es sich bei allen vier Frauen um Witwen. Die Petition, die von der stärksten weiblichen Handlungsautonomie zeugte, wurde in der ersten Person Singular geschrieben. Darin adressierte die geschiedene Haushälterin Maria Ägerter, geborene Habegger, die helvetischen Gesetzgeber. Sie richtete sich selbstbewusst gegen ihren „lüderlichen“ und zwischenzeitlich verstorbenen Ex-Mann und unterschrieb das Dokument allein und eigenhändig.20 Eine weitere Frau unterzeichnete die Petition neben dem als Ehepartner begehrten Mann eigenhändig.21 Zwei Petitionen wurden im Namen der Frauen lediglich durch einen Schreiber unterzeichnet.22

Die Witwenschaft war während des gesamten Untersuchungszeitraums ein ambivalenter Stand. Zum einen konnte er ohne einen Ehemann an der Seite eine stärkere Selbstbestimmung im Alltag bedeuten. Zum anderen war man in offiziellen Angelegenheiten immer auf einen Vogt angewiesen.23 So ist gerade diese Spannung zwischen alltäglicher Eigenständigkeit und der Gängelung durch den Vogt in finanziellen und rechtlichen Belangen eine mögliche Erklärung dafür, dass alle mehr oder weniger selbstständig petitionierenden Frauen Witwen waren. Dennoch verlangten mit Ausnahme der selbstbewussten Maria Ägerter auch die verwitweten Frauen ganz in der zeitgenössischen Geschlechtslogik und, abgesehen von der formalisierten Anrede- und Grußformel, mit wenig revolutionärem Pathos immer nach „männliche[r] Hilfe“ für ihr Hauswesen und/oder zur Aufrechterhaltung des Betriebs des verstorbenen Ehemanns.24 Insofern lässt sich an der rechtlichen Selbstbestimmung dieser Witwen gleichzeitig die Kehrseite erkennen: die materielle Verletzlichkeit und Abhängigkeit im zweifellos fortbestehenden patriarchalen System.25

Die verschwindend geringe Zahl eigenständiger weiblicher Petentinnen in matrimonialen Belangen, gepaart mit der Prekarität und dem damit verbundenen Ruf nach männlicher Unterstützung, machen es notwendig, den Befund von Suzanne Desan in Bezug auf die Französische Revolution für die Helvetik genau zu überprüfen. Die Historikerin hält nämlich fest, dass die Revolution in Frankreich für Frauen Lücken und Möglichkeiten eröffnete, die herkömmlichen patriarchalen Strukturen in Frage zu stellen.26 Und so ist im Zusammenhang mit den helvetischen Verhältnissen von der Forschung auch schon beschrieben worden, dass die Desillusion unter den Revolutionärinnen schlussendlich überwog, nicht zuletzt, weil sie von den Männern marginalisiert wurden.27 In dieses Bild passt, dass 72 Petitionen, also der größte Teil, von den männlichen Verlobten im Namen des Paars allein unterschrieben wurden. Lediglich zehn Petitionen waren von beiden Teilen paritätisch signiert, ohne dass der Frau ein männlicher Vormund beigestellt war. In 15 Fällen unterschrieb der Mann für sich, während der Unterschrift der Frau noch jene ihrer elterlichen oder gemeindlichen Vormundschaft beigefügt war. Und auch die restlichen Fälle, in denen die Unterschrift nicht gänzlich fehlte, wurde allermeist mit dem Namen eines männlichen Stellvertreters des Mannes unterzeichnet.28 Die Bevormundung des weiblichen Geschlechts in Rechtssachen war in der hier untersuchten Quellengattung also keineswegs beendet. Sie gab in den durch Frauen exklusiv oder paritätisch unterzeichneten Petitionen höchstens feine Haarrisse zu erkennen. Im Allgemeinen blieben Gleichheit und Freiheit aber brüderliche Rechte.29