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Prekäre Eheschließungen

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2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren

In der Masse der helvetischen Bittschriften – die Forschung spricht von einer „ungeheure[n] ‚Flut‘ von Eingaben, Gesuchen, Petitionen, Suppliken und Forderungen“1 – lassen sich auch 160 Zuschriften von Einzelpersonen aus dem reduzierten Kantonsgebiet von Bern finden, die das Petitionsrecht in Bezug auf die Eheschließung in Anspruch nahmen.2 Diese Petitionen, mit denen versucht wurde, prekäre Ehebegehren durchzusetzen, indem die Zentralbehörden um Unterstützung gebeten wurden, waren meistens durch Notare, Anwälte beziehungsweise Vertreter in der dritten Person Singular verfasst. Sie waren anfänglich auf ungestempeltem Papier, bald jedoch auf kostenpflichtigem Stempelpapier geschrieben, dessen Preis im Verlauf der Helvetik angehoben wurde.3 Dabei kamen das Wissen um die Möglichkeit des Petitionierens sowie der ausschlaggebende Impuls für das schriftliche Ansuchen und die zum Teil sehr individuellen und eigensinnigen Geschichten neben allen Topoi und dem Pathos in den Petitionen von den ehewilligen Frauen, Männern und Paaren. Sie mussten die Gelder für die Kosten von Papier und Schreiber aufbringen. Die Büros der Schreiber befanden sich oft in der jeweiligen kantonalen Hauptstadt,4 weshalb die Petent-Innen teilweise weite Wege auf sich nehmen mussten. Besonders für eine breite Schicht von subalternen AkteurInnen auf dem Land war daher ein hohes Maß an Überzeugung und Entschlossenheit erforderlich, um sich petitionierend an die Regierung zu wenden. Ganz in diesem Sinne verwendeten viele Bittschriften so auch Wendungen wie „[d]er ehrerbietige Bittsteller ist entschlossen sich […] zu verehelichen“.5 Der einzelne Petent „wagt[e] es“ – eine wiederholt verwendete Formulierung in den Quellen6 – das neuartige zivilrechtliche System bezüglich der begehrten Ehe auf eigenes finanzielles Risiko und in ungewohnter Weise zu seinen Gunsten zu nutzen.7 Es war besonders zu Beginn der Helvetik auch einiger Mut notwendig, um dieses Risiko und den Weg auf sich zu nehmen, weil man sich des erfolgreichen Ausgangs nicht sicher sein konnte. Die Petitionierenden mussten sich ‚die Freiheit nehmen‘ – dies eine in den Petitionen ebenfalls oft gebrauchte Wendung –,8 auch wenn die Petitionstätigkeit staatlich gefördert wurde und die Republik unter der Bekundung zur Freiheit stand. Analog kommentieren Arlette Farge und Michel Foucault in Bezug auf die bekannten französischen Lettres de cachet, denen Bittschriften an den Polizeileutnant oder die königliche Kanzlei vorausgingen, dass das Petitionieren wegen des damit verbundenen Aufwands und der inhärenten Unwegsamkeiten „ein Abenteuer im wahrsten Sinne des Wortes, vor allem wenn man den unteren Schichten angehörte“, darstellte.9

Wie bereits angedeutet, waren Petitionen auch schon unter dem Ancien Régime ein politisches Mittel gewesen, um der Obrigkeit Missstände anzuzeigen. Allerdings veränderte sich neben der Anzahl der Petitionen auch der Tonfall in ihnen nun zum Teil drastisch. Während in den Suppliken an die Patrizier Unterwürfigkeit zelebriert worden war, adressierten zahlreiche Petitionäre den neuen Staat nun offensichtlich selbstbewusst. Es lassen sich diesbezüglich zwei unterschiedliche Sprachstile charakterisieren: ein alter „devot-servile[r]“ und ein neuer „selbstbewusst-pathetische[r]“.10 Würgler hat in Anlehnung an Rudolf Braun darauf hingewiesen, dass der Übergang von der unterwürfigen zur selbstbewussten Tonalität von der Aristokratie durchaus deutlich wahrgenommen wurde. Angehörige der unter der Helvetik zurückgesetzten Aristokratie empfanden das selbstbewusste Auftreten der AkteurInnen als vorlaut und unanständig. Insofern zeugen die Bittschriften von einem zielstrebigen matrimonialen Eigensinn der AkteurInnen und fördern dadurch zum Teil sehr eigenwillige Geschichten zu Tage, selbst wenn ihre Form und der Sprachstil nicht frei von Normierungen waren. Sie weisen jenes verhältnismäßig hohe Maß freiwilliger Informationen auf, das Würgler veranlasst hat, Petitionen gegenüber Verhörprotokollen dezidiert als Ego-Dokumente zu charakterisieren.11 Die BittstellerInnen äußerten sowohl in pathetisch kodierter als auch in sehr individueller Weise ihren ehelichen Willen, erzählten teilweise einzigartige Geschichten, berichteten von ihren damit verbundenen Interessen und auch von Problemen, die für sie aus all dem in ihrer ganz spezifischen sozialen Umwelt entstehen konnten. So offenbaren diese Quellen neben dem Versuch, formalen Anforderungen zu entsprechen, und schemenhaften Formulierungen, von denen man sich Erfolg versprach, „sehr wohl Wahrheit und Unmittelbarkeit, auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass man ihnen die Umstände, die Geschehnisse dergestalt entnehmen kann, wie sie geschehen sind“.12 Sie beinhalten taktisch eingesetzte Narrative und Argumente, die darauf abzielten, prekäre Ehebegehren durch die Hilfe der Zentralbehörden zu realisieren. So liegt die Authentizität nicht unbedingt in der getreuen Beschreibung der äußeren Umstände, sondern in der Erzählweise sowie der Selbstdarstellung und -beschreibung der petitionierenden AkteurInnen, die „sich zeigen, sich [vor den zentralstaatlichen Behörden] sehen lassen“ und dabei verschiedene Ressourcen in spezifischer Weise einsetzen.13 Dazu konnte selbstverständlich auch das Wissen um die entsprechenden Formeln zählen oder die Kenntnis eines Berner Notars, der diese beherrschte und dadurch Erfolg in Aussicht stellte. In ihren Erzählungen entwickelten die AkteurInnen vor allem in den frühen Petitionen vielfach „ihre eigenen Theorien […] woraus das Soziale besteh[en]“ sollte.14 Mit diesen wollten sie die Zentralbehörden von ihren ganz persönlichen Ehebegehren überzeugen. Gleichzeitig versuchten sie mittels spezifischer Rhetorik und wiederkehrenden Stereotypen eine Logik zu adaptieren, um sich der Hilfe der Zentralbehörden anzuempfehlen und die unsicheren Umstände zu ihren Gunsten zu überwinden.15 Was Didier Fassin über moderne Anträge auf akute Sozialhilfe beim französischen Staat („aide d’urgence) – er nennt sie „supplique“ – schreibt, gilt für die vorliegende Untersuchung gleichermaßen: Das Medium bleibt nicht ohne Effekt auf die Selbstdarstellung. Deswegen müssen die Bittschriften als Texte gelesen werden, in denen sich Personen inszenieren, die sich in einer ganz bestimmten, prekären Situation um staatlichen Beistand bemühen. Ähnlich wie die von Fassin untersuchten AntragstellerInnen mussten auch die prekarisierten Eheleute in ihren Bitten an das helvetische Direktorium oder die Legislative ihre Ehebegehren nicht nur rechtfertigen, sondern auch ihren ‚hehren Willen‘ und die damit verbundenen ‚guten Absichten‘ darlegen. Nur so konnten sie begründen, wieso ihnen, trotz der Widerstände in ihrem Umfeld, ihre Eheschließung erlaubt werden sollte oder Kanzeldispensen erteilt werden mussten. Fassin charakterisiert dieses Verhältnis im Sinne einer do-ut-des-Relation („relation de don et de contre don).16 Die Bittstellenden waren an „einer bestimmten Beurteilung [ihrer] selbst“ interessiert, weil sie sich verheiraten wollten.17 Doch sie kannten die moralischen Beurteilungskriterien der zuständigen staatlichen Akteure nicht mit Sicherheit. Diesen enigmatischen Kriterien wollten sie zwar zwecks Aneignung entsprechen, aber sie waren nicht ihre eigenen.18 Folglich waren die PetentInnen gezwungen, Selbstinszenierungen zu entfalten, die auf selbst entwickelten Vorstellungen von moralischen Werten anderer („moral présumé des agents de l’État“) basierten.19 Dieser Akt besaß eine genuin kreative Komponente.

Die Brautleute schalteten die helvetischen Behörden der zentralistischen Republik also gezielt und in spezifischer Weise ein, wenn auf lokaler, familiärer oder kirchlicher Ebene Ehehindernisse zu befürchten waren, die die Verehelichung prekär werden ließen, oder sich solche im Vorfeld oder während des bereits erfolgten Vollzugs der Eheschließung manifestiert hatten. In den Petitionen kam deshalb zum Ausdruck, wie im Sinne der Definition prekärer Ehebegehren versucht wurde, sich heikle, bestrittene und widerrufliche, aber partnerschaftlich begehrte Eheschließungen durch Bitten anzueignen. Die Ehen mussten gegen opponierende Parteien aus dem sozialen Nahraum erstritten und durchgesetzt werden, denn sie standen den lokalen Gewohnheiten und sozialen „Regeln fremd gegenüber“.20 Dies war in auffälligem Maß bei Zweitheiraten der Fall: In 47 Petitionen waren Witwen und/oder Witwer involviert. In acht Fällen lag ein vorgängiger Ehebruch vor. Außerdem begehrten in 13 Fällen die Ehewilligen eine Eheschließung in vormals verbotenen Verwandtschaftsgraden.

In der historischen Forschung zur Helvetik ist die Frage gestellt worden, wie intensiv die neuen helvetischen Freiheitsrechte in der Praxis von der breiten Bevölkerung überhaupt genutzt wurden.21 Von der internationalen historischen Kriminalitätsforschung konnte aufgezeigt werden, dass in Anbetracht landesherrlicher Monopolisierungsprozesse der Justiz der Einfluss sozialer Netzwerke auf die Urteile zu Gnadengesuchen von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts abnahm.22 Dagegen dürfte in Bern unter anderem die durch den eherechtlichen Zentralisierungsvorgang evozierte Einflussminderung sozialer Netzwerke während der Helvetik zur breiten und flutartigen Petitionstätigkeit in Fällen prekärer Eheschließungen beigetragen haben.23 Durch die Bitten an die Zentralgewalt konnte der Einfluss des lokalen sozialen Netzwerks geradezu ausgeschaltet werden. Also kann im Zusammenhang mit den prekären Eheschließungen festgehalten werden, dass die Helvetik eine katalytische Funktion auf das Petitionieren ausübte.24 Die PetentInnen wandten sich in den konkreten Fällen vereinzelt an den lokalen Statthalter oder das Kantonsgericht. Diese Instanzen waren allerding nicht befugt, derartige Bittschriften zu behandeln, und leiteten sie dem 96. Verfassungsartikel entsprechend an die Zentralbehörden weiter. In den allermeisten Fällen adressierten die PetentInnen aber direkt die gesetzgebenden Räte, also den Senat und/oder den Großen Rat, das fünfköpfige Direktorium oder den Vollziehungsausschuss – der ersteres mit dem ersten Staatsstreich vom 7. Januar 1800 ablöste –, oder die Ministerien der Helvetischen Republik.25 Gleichwohl zeigt der Umstand, dass unterschiedliche Empfänger angeschrieben wurden, dass die Menschen mit den neuen politischen und bürokratischen Verhältnissen noch nicht richtig vertraut waren, beziehungsweise viele Abläufe in der jungen und kurzlebigen Republik nicht, provisorisch, wechselhaft oder unzureichend definiert waren. Die PetentInnen wussten deshalb nicht immer, an welche Behörde sie sich in diesen oder anderen Angelegenheiten offiziell richten sollten oder welche formalen Erfordernisse ihre Petitionen erfüllen mussten. Neue Bestimmungen und Verfahrensänderungen sickerten zum Teil nur langsam zu den unteren Verwaltungseinheiten durch. Dies kritisierte sehr konkret zum Beispiel der Statthalter des Distrikts Wangen im Oktober 1799 in einem Schreiben an die gesetzgebenden Räte in Bezug auf eine eheliche Petition. Er bemängelte, dass er zu spät über die obligatorische Verwendung des Stempelpapiers informiert worden sei. Aus diesem Grund hätte er ungestempelte Petitionen an das Parlament weitergeleitet.26 In einem anderen Fall meldete sich der Minister des öffentlichen Unterrichts bei einem Petenten, der vom Vollziehungsrat eine Kanzeldispens forderte, dass seine Petition nicht den formalen Ansprüchen des Gesetzes genüge, weil ihr das Visum des Regierungsstatthalters fehle.27 Dies war eine einschränkende Bedingung für die Petitionstätigkeit, die, wie die Stempelgebühr, erst mit der Zeit eingeführt wurde, um Petitionen zu limitieren und kanalisieren.28 Sie war aber nicht allen AkteurInnen bekannt. Derartige Unsicherheiten bezüglich der Behördenzuständigkeit, des Verfahrens und der formalen Erfordernisse betrafen letztlich die PetentInnen und nahmen wohl in Folge der drei weiteren Staatsstreiche zwischen 1800 und 1802 sogar noch zu.29

 

Trotz dieser Unsicherheiten setzten die zahlreichen PetentInnen zumindest anfänglich große Hoffnungen in die neuen politischen Verhältnisse unter der Helvetischen Republik und versuchten über eine Bittschrift zur begehrten Ehe zu gelangen. In 53 der gesamthaft 160 Fälle, also in rund einem Drittel der Bittschriften aus der Zeit der Helvetik, versuchten die PetitionärInnen ihre prekären Eheschließungen durch eine Ehebewilligung direkt und somit quasi auf zivile Verordnung hin, also ohne das Zutun der Kirche, zu legitimieren. Die überwiegende Zahl dieser Fälle (35) stammt aus dem Zeitraum zwischen April 1798 und Januar 1800, der von der Forschung als „Modernisierungsphase“ gekennzeichnet worden ist.30 Die vergleichsweise hohe Zahl lässt sich mit dem Stichwort „Gründungseuphorie“ recht gut erklären, mit dem Regula Ludi die anfängliche Stimmung in der Republik beschrieben hat.31 Von diesen 35 Petitionen fallen zehn in das erste Jahr der Republik. 1799 kam es dann zu einem massiven Anstieg: 24 der Petitionen um Ehebewilligung wurden im zweiten Jahr der Helvetik abgefasst und eingereicht. Dazu kam eine Petition, in der eine Witwe bei den gesetzgebenden Räten um Schutz und Hilfe bat, um ihr Ehebegehren ungehindert realisieren zu können. Dies kam der Bitte um eine vollständige Eheerlaubnis inhaltlich gleich. Ob der Anstieg mit der Verbreitung von praktischem Wissen über dieses ehefördernde politische Instrument zusammenhing, kann aus den hier untersuchten Quellen nicht bestätigt werden, erscheint allerdings plausibel. Der in bestimmten Gesellschaftssegmenten euphorisch wahrgenommenen Episode folgte nach dem ersten Staatsstreich vom 7. Januar 1800 eine Phase zunehmender Stagnation.32 Dieser Übergang, in dessen Verlauf konservative politische Elemente tendenziell rehabilitiert wurden und viele reformorientierte Verheißungen in der Praxis unerfüllt blieben und zurückgenommen wurden – ein Beispiel dafür liefert der zunehmend einschränkende Umgang mit den Petitionen –, brachte eine wachsende Destabilisierung der Republik mit sich. Dass solche Veränderungen von den AkteurInnen trotz Staatsstreich zum Teil verzögert wahrgenommen oder vorläufig ignoriert wurden, äußerte sich darin, dass von den restlichen 18 Ansuchen um Heiratsbewilligung bei den Zentralbehörden zehn unmittelbar im Jahr nach dem ersten Staatsstreich eingereicht wurden. Von den restlichen acht Bittschriften um die direkte Eheerlaubnis stammen sechs aus dem Jahr 1801 und je eine aus den Jahren 1802 und 1803. Graphisch lässt sich das in einer bis 1799 steil ansteigenden Kurve darstellen, die danach zuerst ebenso steil und dann mehr oder weniger konstant abfällt (vgl. blaue Kurve im Diagramm 4). Ein plausibler Erklärungsansatz für diesen Kurvenverlauf dürfte die anfängliche Hoffnung ehewilliger AkteurInnen in der allgemeinen anfänglichen Aufbruchstimmung sein, die durch die weiteren politischen Entwicklungen und die damit verbundenen individuellen und kollektiven Erfahrungen aber allmählich getrübt wurde. Doch nicht nur diese aus Sicht der AkteurInnen bei prekären Eheschließungen negativen Erfahrungen und abnehmenden Hoffnungen begründeten die Abnahme der Petitionen um Eheerlaubnis. Wie im anschließenden Unterkapitel zu zeigen sein wird, führten die Ansprüche dieser ehelichen Prekarier auch zu Veränderungen im Gesetz. Konkret nahmen die offiziellen Ehehindernisse im Verlauf der ersten beiden Jahre ab. Dadurch waren weniger Ehekonstellationen auf Ausnahmebewilligungen angewiesen.

Diagramm 4

inkl. Tabelle: Petitionen in punkto prekäre Ehebegehren (Quellen: BAR B0#1000/1483#222*–229*; 489*; 490*; 604*; 605*)

In 107 von den gesamthaft 160 Fällen baten die PetentInnen um die Dispensation von einer oder mehreren Kanzelverkündigungen. Da die dreimalige Kanzelverkündigung einer begehrten Eheschließung offiziell auch unter der helvetischen Regierung ein notwendiges Requisit für die Heirat blieb, kam das Ansuchen um deren Dispensation inhaltlich einer Bitte um eine Eheerlaubnis oft sehr nahe. Bevor nämlich eine Ehe durch den lokalen Pfarrer eingesegnet werden durfte, musste sie der alten Ehegerichtssatzung zufolge, die unter der Helvetischen Republik formal Gültigkeit behielt, drei Mal von der Kanzel der Kirche im Heimat- und Wohnort sowohl von Braut als auch Bräutigam verkündet worden sein. Kamen also die Brautleute aus unterschiedlichen Gemeinden und wollten an einem dritten Ort heiraten, was dem Regelfall in den Petitionen entsprach, mussten drei verschiedene Pfarrpersonen deren Ehe an je drei verschiedenen Wochenenden von der Kanzel verkünden. Insgesamt wurde so eine Ehe also bei neun sonntäglichen Gottesdiensten verlesen. Dem einsegnenden Pfarrer, der in der Helvetik nicht nur zum „Religionsdiener“, sondern auch zu einem „Diener des Staates“ erklärt wurde,33 mussten nach wie vor die Verkündigungsscheine oder eine Eheerlaubnis ausgehändigt werden, damit er zum legalen Vollzug der Ehe schreiten durfte. In Ausnahmefällen, die im Ancien Régime von geburtsständischen Privilegien oder an Ämter und Positionen gekoppelte Benefizien abhängig waren, konnten Dispensationen erteilt werden.34 Diese Vorrechte wurden 1790, also ein Jahr nach der Französischen Revolution, durch Schultheißen und Räte als exklusives Privileg der Bernburger sogar noch einmal bestätigt, während sämtliche Untertanen explizit davon ausgeschlossen wurden.35 In der Helvetischen Republik wurden dann aus allen Schichten und aus unterschiedlichen Gründen durch Bittschriften solche Dispensen verlangt, nicht zuletzt um zum Teil handfeste Konflikte auf lokaler Ebene zu umgehen, respektive zu den eigenen Gunsten aufzulösen.36 Durch den geschickt gewählten Zeitpunkt der Kanzelverkündigung konnten die Brautleute nämlich durchaus einen gewissen Einfluss darauf ausüben, wer von der begehrten Eheschließung erfahren würde. Bei einem für die einmalige Verkündigung klug gewählten, das heißt besucherarmen, Gottesdienst hatte die Verkündung wohl pro-forma-Charakter. Einsprüche, Ehehindernisse und Rügerituale gegen die begehrte Eheschließung konnten also vermutlich durch die Trauung ‚gleich nach der ersten Eheverkündigung‘, so lautet der entsprechende Passus in den Bewilligungen durch die Vollziehungsräte, weitgehend umgangen werden. Deshalb stellte die Dispensation eine beträchtliche Heiratserleichterung dar, die viel Zeit, Mühe und Ungemach ersparte. Sie verringerte in einer Anwesenheitsgesellschaft, die sich gerade erst zu wandeln begann, drastisch die Wahrscheinlichkeit von Einsprüchen und Agitationen gegen eine Eheschließung.

In Bezug auf die Petitionen um die Dispensation von der Kanzelverkündigung präsentiert sich der Kurvenverlauf im Verhältnis zu jenem zu den Ansuchen um Ehebewilligung etwas verschoben, aber vergleichbar. Während es 1798 noch kaum zu Petitionen um die Dispensation von Kanzelverkündigungen kam (2), nahmen sie 1799 allmählich zu (5). Sie stiegen 1800, im Jahr des ersten Staatstreichs (23), erstmals stark an, just in dem Moment als die Petitionen um Ehebewilligung rapide zurückzugehen begannen. Die Zahl der Petitionen um Kanzeldispens gipfelte dann mit 44 im Jahr 1801. Ein Erklärungsversuch für den exponentiellen Anstieg könnte sein, dass die Kanzeldispensen von den AkteurInnen in der Stagnationsphase nach 1800, als auf helvetischer Ebene die Wiedereinführung der lokalen Chorgerichte diskutiert und die vorbehaltslose Eheerlaubnis zunehmend zögerlich erteilt wurde, als niederschwelliges Substitut für die direkte Eheerlaubnis eingesetzt wurden. Zu diesem Punkt wird allerdings im Kapitel, das sich mit der praktischen Normierung durch die Regierung beschäftigt, auch noch zu berücksichtigen sein, in welcher Weise sich der Umgang der Zentralbehörden mit den matrimonialen Petitionen veränderte. Nach 1801 kam es dann auch in Bezug auf Anfragen um Kanzeldispensen nach dem steilen Anstieg zu einem ebenso markanten Abfall der Petitionen, der im Kurvenverlauf als Knick sichtbar wird. Danach läuft die Kurve bis 1803 auf höherem Niveau als die Kurve der Petitionen um Ehebewilligungen abfallend aus.

In Bezug auf die Entwicklung der Gesamtzahlen der Petitionen um Ehebewilligung und Kanzeldispens lässt sich eine dreijährige Zunahme (1798–1800) und eine dreijährige Abnahme (1801–1803) verzeichnen. Diese Gesamtentwicklung der Petitionstätigkeit der AkteurInnen deckt sich mit dem Befund, dass die Helvetik in zwei Phasen verlief: einer zukunftsorientierten Modernisierungsphase politischer Neuerungen und einer tendenziell reaktionären Stagnationsphase, die in zunehmendem Maß konservative Elemente rehabilitierte. Die allgemeine politische Tendenz fand auch konkreten Niederschlag im staatlichen Umgang mit den Petitionen: Die anfänglich fördernde Politik, die Bürger zum Petitionieren und zur politischen Partizipation ermunterte, wich allmählich einer Politik, die bemüht war, die Menge der Petitionen zu verringern und zu kanalisieren. Ausdruck davon waren zum Beispiel die steigenden Preise für das sogenannte ‚Stempelpapier‘. Außerdem wurde durch das obligatorische Visum des Distriktstatthalters eine Instanz zwischengeschaltet, die den Behördenweg der Petitionen verlängerte und bereits einen Filter darstellte.37 Auch schlagen sich in der Entwicklung der Kurve wohl die wachsenden Unklarheiten in den Verfahrenswegen und bürokratischen Abläufen nieder, die zu Unsicherheit und Frustration führen konnten.