Za darmo

Prekäre Eheschließungen

Tekst
0
Recenzje
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

1.2 Volkszählung

Die Republik sollte nicht länger auf das willkürliche Geratewohl hin, sondern basierend auf rechnerischer Genauigkeit und Effizienz regiert werden.1 Dazu waren im fortschrittsgläubigen und zukunftsorientierten Geist der führenden helvetischen Köpfe exakte Bevölkerungszahlen notwendig. Früh richteten sich Privatpersonen – unter anderen Johann Caspar Hirzel, bezeichnenderweise Zürcher Stadtarzt,2 also ein Gebildeter, der sich von Berufs wegen mit der Gesundheit der Bevölkerung befasste –, das Parlament, kantonale Verwaltungskammern und das Direktorium mit Forderungen nach akkuraten Bevölkerungszahlen an den ersten helvetischen Innenminister Albrecht Rengger. Dieser vermerkte die Aufforderung in einem Schreiben an das Direktorium mit den folgenden Worten:

„Ensuite d’un message du Grand Conseil vous m’avez chargé de rassembler des tableaux exacts de la population tant des Cantons que des districts et des communes, avec les tabelles de régions, les cartes et les dessins topographiques qui se trouvent dans les divers Cantons.“3

Man wünschte sich die Zahlen aller Verwaltungsebenen offensichtlich als rationale rechnerische Grundlage für die verschiedenen repräsentativen Wahlgeschäfte, militärischen Zwecke, fiskalischen Belange, territorialen Aufteilungen und wirtschaftlichen Reformen.4 Aber auch aus biopolitischen Gründen, also um „von Jahr zu Jahr über den Gesundheits- oder Krankheitszustand […] Aufschluss“ zu erhalten, waren demographische Kennzahlen nun notwendig.5 Die Bevölkerungszahlen wurden zudem benötigt, um die Loyalität der Bürger gegenüber dem Staat, also gewissermaßen den Patriotismus, messbar zu machen. Am 12. Juli 1798 wurde von den Räten beschlossen, dass jeder Bürger mit einem Eid seine Loyalität gegenüber der Republik bezeugen sollte. Nur wenn man verlässliche Bevölkerungszahlen hatte, konnte die Regierung allerdings herausfinden, wie viele Bürger den Eid auf die Helvetik tatsächlich schworen und wie viele ihn verweigerten.6

Der helvetische Innenminister Albrecht Rengger ordnete 1798 die Volkszählung an, die zum ersten Mal die gesamte damalige schweizerische, respektive eben helvetische Bevölkerung erfasste. Sie demonstrierte, nach welchen Prinzipien die neue Verwaltung nun Politik betrieb: Auf der Grundlage existierender statistischer Methoden erhob das Direktorium mit der Hilfe der Agenten und der Geistlichen vor Ort mittels einer Enquête für damalige Verhältnisse detaillierte Bevölkerungsdaten, auf deren Basis eine planvolle, rational an Fakten orientierte Verwaltung aufgebaut werden sollte.7 Das statistische Wissen wollte die Regierung nutzen, um die volkswirtschaftliche Leistung zu steigern. Sie beabsichtigte über den dadurch generierten Wohlstand die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern.8 Man knüpfte in der helvetischen Verwaltung bevölkerungspolitisch da an, woran die statistisch operierenden Waadtländer Pfarrer bereits in den 1760er Jahren gearbeitet hatten und was von Foucault als zentraler Übergang in der Verwaltung der Bevölkerung markiert und als Beginn der Biopolitik benannt wurde. Sowohl unter der alten als auch unter der neuen Herrschaft war die aufklärerische Vernunft zumindest ideell zum höchsten Prinzip sämtlicher Reformen gemacht worden. Denn auch im Ancien Régime war es bereits zur „Anwendung methodischer und wissenschaftlich-statistischer Verfahren in der Planung und Realisierung staatlicher Politik“ gekommen.9 Was zuvor von der Oekonomischen Gesellschaft angeregt und von Berns Regierung als Zählung durchgeführt, in der machtpolitischen Konsequenz allerdings wegen der möglichen Auswirkungen ohne praktische Bezugnahme wieder ins Geheime zurückgedrängt worden war – es sei hier an den Fall Muret erinnert –, wurde nun flächendeckend für ein vielfach größeres Gebiet durchgeführt. Für zahlreiche Regionen existierten zuvor überhaupt keine verlässlichen Zahlen.10 Die Berner Volkszählung von 1764 und andere statistische Erhebungen in weiteren eidgenössischen Kantonen zu unterschiedlichen Zeitpunkten waren das direkte Ergebnis der gezielten Einflussnahme verschiedener Sozietäten auf die Regierungen gewesen. Sie waren insofern gewissermaßen von außen angeregt. Während der Helvetik ging ihre fortschrittsoptimistische und wachstumsorientierte Gesinnung über die reformorientierte Verwaltungselite in die Mitte der helvetischen Regierung ein, die auch in diesem Punkt aufklärerische Theorien in die Praxis umzusetzen versuchte.11 Und so erscheint die Helvetische Republik im Bereich der Bevölkerungspolitik „als Vollenderin und Umsetzerin von Ideen und Anregungen aus den Reformdiskursen des späten Ancien Régime“.12 Die Reformbewegung stand dabei nun nicht mehr außerhalb der Regierung oder bildete lediglich einen Teil an deren Rand, der gegen interne Widerstände einer aus Gottes Gnaden regierenden Herrschaft ankämpfen musste.13 Sie wurde in der Helvetik mittelfristig zum ideell bestimmenden Zentrum einer im Selbstverständnis reformorientierten Regierung. Das statistische Wissen diente nicht mehr dem Zweck der Erhaltung von geburtsständischen Privilegien und war folglich von der Gunst göttlich legitimierter, gnädiger Herren unabhängig.

1.3 Zwischenzeitliche Aufhebung der Ehegerichte

Mit der Einführung der Verfassung wurden auch sämtliche lokalen Chorgerichte abgeschafft und mit ihnen das Berner Oberchorgericht aufgelöst. Während unter dem Ancien Régime drei Gerichtsinstanzen, also die Chorgerichte in den Gemeinden, das Oberchorgericht und als oberste Appellationsinstanz die Räte, existiert hatten, anerkannte die neue Verfassung nur zwei Zivilinstanzen: die Distriktgerichte und das Kantonsgericht.1 Außerdem wurden damit die Eheangelegenheiten einer ausschließlich weltlichen Gerichtsbarkeit übertragen.2 Diese Entwicklung folgte eindeutig der Logik des sechsten Paragraphen der neuen Verfassung, der formell die Religionsfreiheit garantierte und den konfessionslosen Staat begründete. Zur förmlichen Erklärung der Ehe als bürgerlichem Vertrag, wie in Artikel 7 der französischen Konstitution, kam es nie. In der Helvetischen Republik wurden die Ehen weiterhin von Pfarrern eingesegnet und registriert. Dennoch lässt sich an den Erlassen im Gebiet des Eherechts eine Entwicklung ablesen, die unverkennbar zu einer Säkularisierung des Ehebegriffs tendierte.3

Die praktischen Probleme, die sich daraus für die vormals mächtigen ‚Dorfaristokraten‘ der Gemeinden ergaben, fassten der Distriktstatthalter und die Distriktrichter von Steffisburg in einer Bittschrift um die Wiedereinsetzung der Chorgerichte zusammen. Darin baten sie schon 1798 darum, Ehesachen wieder auf der lokalen Ebene der Munizipalität behandeln zu dürfen:

„Die ConsistorialSachen, so vormahls den UnterChorgerichten, seit der Revolution aber den Munizipalitäten obgelegen, werden nur untersucht, und das Befindende dem Distrikt Gericht oder dem Cantongericht in Bern einberichtet, keines wegs wird von selbigem über Ehe und paternitäts Sachen geurtheilt. Diese Informationen tragen nichts ein, und sollten aus folgenden Gründen den Munizipalitäten noch ferners obliegen. Sind die Distrikten groß, und die wenigsten Gemeinden mit einem Gerichtsbeamteten versehen, also daß eine schwangere Person ihre Leibesfrucht verbergen gebären oder gar verderben könnte, wenn niemand in ihrer Gemeind sich befände, deren Pflicht es erforderte über dergleichen Sachen zu wachen. Hingegen sind die Munizipalbeamteten verhältnissmäßig in den Gemeinden vertheilt auf solches genaue Acht zu halten. 2. Wenn das Gericht sich mit allen Ehestreitigkeiten und Paternitätshändlen seines weitläufigen Bezirks abgeben müßte, so würde anstatt in jeder Woche ein Tag wohl 2 Tage zu dessen Versammlung erfordert, und die Besoldung der Gerichtsbeamteten müßte das Einkommen der Casse über steigen. 3. Wenn die Votgssachen, und die Informationen der Consistorial Händeln den Munizipalitäten abgenommen und den Gerichten auferlegt würde, so hätten erstere nichts zu thun und ihre Eixstenz wäre unnöthig.“4

Die lokale Ebene hatte die zuvor besprochene „Aufpasserei“ und „Verdächtigung“ in sittlichen Belangen im sozialen Nahraum in der frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaft erst möglich gemacht.5 Es waren auch diese Faktoren gewesen, die die Sittengerichte in der Bevölkerung oftmals unbeliebt gemacht hatten.6 Diese auf Denunziation angelegte Ebene wurde durch die erste helvetische Verfassung also kurzerhand abgeschafft.7 An die Stelle der Gerichte, die unter dem Ancien Régime sowohl von Pfarrern als auch Juristen und Notabeln besetzt gewesen und die als Bewahrer der Institution Ehe als erste Ordnung Gottes und Gnade aufgetreten waren, war mittelfristig pro Distrikt eine zivile richterliche Instanz getreten. Darin durften entsprechend dem 26. Artikel der neuen Verfassung die in der Helvetik bezeichnenderweise Religionsdiener genannten Kirchenvertreter kein Amt mehr bekleiden.8 Damit verschwand zwischenzeitlich jene auf institutioneller Ebene fassbare, im Alltagsleben allgegenwärtige Kontrolle durch den sozialen Nahraum, die den gesamten lebensweltlichen Bereich umfassend durchdrang, den man heute gemeinhin der Privatsphäre zurechnet.9 Dadurch wurde in der kurzen Zeit der Helvetischen Republik für breitere Schichten ein ungekanntes Maß an Intimität möglich: Illegitime Schwangerschaften wurden oft nicht mehr zur Anzeige gebracht, weil eine damit betraute Instanz fehlte oder die Zuständigkeiten zwischen Instanzen nicht geklärt waren. So zeigte der Präsident des Distriktgerichts Burgdorf zum Beispiel am 4. Dezember 1799 den Gesetzgebern an, dass sich Vertreter der Munizipalitäten weigerten, schwangere Ledige anzuzeigen, beziehungsweise sie ohne Bezahlung zur Klärung der Vaterschaftsfrage zu verhören. Gleichzeitig hätte der Justizminister dem Distriktgericht durch den Statthalter die Weisung zukommen lassen, die Verhöre selbst durchzuführen. Dies könne man allerdings aufgrund der Größe des Distrikts aus praktischen und zeitlichen Gründen niemals gewährleisten. Die sogenannten ‚genistlichen Verhöre‘ beziehungsweise der ‚Genisteid‘ – also die Klärung der Vaterschaftsfrage unter den Geburtsschmerzen, nötigenfalls bei Verweigerung jeglicher Hilfe durch die Hebamme, die kurze Zeit zuvor eigentlich ohnehin abgeschafft worden war10– sollte in der Auffassung des Burgdorfer Gerichtspräsidenten aus Gründen der Praktikabilität wieder von ‚ehrbaren‘ Männern in der unmittelbaren Nachbarschaft übernommen werden.11 Und auch der Erziehungs- und Kirchenrat des Kantons Bern bat schon im Dezember 1799 die Gesetzgeber um die Wiedereinführung der lokalen Sittengerichte, um im Kantonsgebiet Ordnung und sittliche Zustände garantieren zu können.12 Die Sittengerichte blieben während der gesamten helvetischen Phase eine intensiv diskutierte Institution. Sogar bei den männlichen Befürwortern der Revolution behielten sie oftmals eine gewisse Attraktivität, zum Beispiel bei reformorientierten Kriminalpolitikern der Zeit.13 Gerade die alten Dorfaristokraten, ob sie für oder gegen die Revolution waren, verloren nämlich durch die ersatzlose Abschaffung der Gerichte auf gemeindlicher Ebene ihre Funktion als Richter und damit einen erheblichen Teil ihrer Macht und Kontrolle über ihre Dorfgemeinschaft. Petitionen von Distrikten, Gemeinden und Geistlichen, die die Restituierung der lokalen Chorgerichte immer nachdrücklicher forderten, häuften sich und schlugen sich auf der zentralstaatlichen Ebene der Republik nieder. Ganz im Sinne der Petitionäre forderte der Vollzugsausschuss im März 1800 vom Parlament mittels Gutachten zur Tätigkeit von Sittengerichten deren Wiedereinführung. Der Vorschlag wurde von den gesetzgebenden Räten am 16. Mai 1800 zwar abgelehnt, erhielt aber dennoch manche Stimme.14

 

Für die „Helden des Alltags“, die illegitime sexuelle Beziehungen unterhielten oder gegen den Willen ihrer Gemeinden, Familien und Gesellschaften heiraten wollten, und deren Taktiken deswegen „andauernd mit den Ereignissen spielen“ mussten, handelte es sich in den Worten von Michel de Certeau um „günstige Gelegenheiten“, die sich während der Anfangsphase der Helvetik für ihre prekären Eheschließungsbegehren ergaben15 – auch wenn die Idee der Restitution der Sittengerichte ab 1800 in den führenden Kreisen allmählich an Popularität gewann.16 Das verhältnismäßig „engmaschig[e]“ konsistoriale System der frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaft, das der „Beherrschung der Orte durch das Sehen“ gehorchte, wich kurzfristig einem matrimonialen System, das kommunale und familiäre Interessen im Vergleich zu den vorherigen Zuständen verhältnismäßig stärker zurückdrängte.17 Eine Bestätigung dafür, dass die Verwendung von de Certeaus Metatheorie an dieser Stelle berechtigt ist, und die helvetischen Verhältnisse anfänglich einen günstigen Kontext für Eheschließungen darstellten, erhalten wir aus der Sekundärliteratur. Anne-Lise Head König vermerkt zum Beispiel, dass die neue Verfassung zwischenzeitlich zu einer universellen Gesetzgebung im Bereich der Eheschließung geführt hätte. Diese eröffnete den AkteurInnen große Handlungsspielräume, indem sie mittelfristig zahlreiche gesetzliche und praktische Ehehindernisse aufhob oder in der Praxis einfach überging.18 Auch der zu Beginn des Kapitels erwähnte demographische Befund von Christian Pfister über die anfängliche Steigerung von Taufen und Eheschließungen weist klar in diese Richtung. Die Annahme gewinnt darüber hinaus in den Petitionsschriften während der ersten drei Jahre der Helvetik Evidenz, wenn beispielsweise ein in Bern wohnhafter Wiener in seiner Bitte um Heirats- und Aufenthaltsbewilligung an die helvetische Legislative anführt, dass ihm dazu „die schweizerische Revolution günstig schien“.19

1.4 Petitionsrecht

Die Wahrnehmung des helvetischen Umbruchs von Seiten der AkteurInnen als günstiges Umfeld für ihre prekären Ehebegehren hing nicht zuletzt mit dem politischen Mittel der Petition und den durch sie gesammelten Erfahrungen zusammen. Die Ausrufung der ersten helvetischen Verfassung führte in der Konsequenz des Artikels 96 auf dem Gebiet der zentralistisch organisierten Republik und ganz besonders im Kanton Bern zu einer regen Petitionstätigkeit, also zur gesteigerten Nutzung eines sehr spezifischen juristischen Mittels. Die Petitionstätigkeit, so zeigen die Quellen, erfasste alle sozialen Schichten. Denn die von der französischen Direktorialverfassung inspirierte helvetische Konstitution sah erstmals ein zwar implizites, aber dennoch offizielles, das heißt schriftlich verbrieftes Petitionsrecht für die Bürger der Helvetischen Republik vor. Im besagten Artikel wurden die Regierungsstatthalter dazu angehalten, Bittschriften an die Zentralregierung weiterzuleiten.1

Beschwerden (Gravamina) waren allerdings auch schon im Ancien Régime ein vielfältig verwendetes Instrument gewesen, um den Autoritäten politische Missstände anzuzeigen, Klagen, Nöte und Befürchtungen zu artikulieren und sich ad hoc für Hilfe oder Unterstützung anzuempfehlen. In Bittgesuchen (Petitionen/Suppliken) wurden Bedürfnisse, Erwartungen und Willensbekundungen vorgetragen und Erlaubnisse sowie Ausnahmebewilligungen für spezifische Handlungen verlangt. Gleichzeitig dienten sie dazu, neue Rechte auszuhandeln, alte Privilegien bestätigen zu lassen oder Anerkennung einer Vereinbarung zu erlangen. Der Übergang zwischen Gravamina und Bittgesuchen verlief seit jeher fließend und kann daher nicht trennscharf gezogen werden. Oft gingen Beschwerde und Bitte ineinander über, meistens war das eine Beweggrund für das andere. Sie waren zwischen Hoffnung, Forderung, Widerstand und Aufbegehren angesiedelt und konnten im politisch-legislativen Alltag erfolgen oder aber bei Revolten und Erhebungen Bedeutung erlangen. Petitionen wurden von Einzelpersonen sowie von Korporationen und Gemeinschaften eingereicht und waren an die politischen Autoritäten gerichtet. Nicht zuletzt stellten sie ein zentrales politisches Kommunikationsmittel zwischen Beherrschten und Herrschenden, Regierten und Regierenden dar, dessen Bedeutung stets vom herrschaftspolitischen Kontext abhing.2

Die alten eidgenössischen Regierungen hatten diese Form der zum Teil impliziten und quasi individuellen Kritik und der sublimen Willensbekundungen – zwischen den stark schematisierten Notariatsformeln in juristisch-bürokratischer Sprache offenbarten sich immer auch deutlich kreative Willensbekundungen der AkteurInnen3 – im ausgehenden 18. Jahrhundert aber immer weniger gern gesehen. Auch wenn die Beschwerden auf dem amtlichen Weg eingereicht, die ungleiche Machtbeziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten eingehalten, die Distanz zu den Mächtigen anerkannt und im demutsvollen Duktus der Bitte verfasst worden waren, hatten sie eine potentielle Infragestellung herrschender Machtstrukturen dargestellt.4 Vielfach waren sie deswegen im patrizischen Herrschaftsanspruch und theologisch legitimierten absoluten Herrschaftsverständnis der Berner Regierung im 18. Jahrhundert zurückgewiesen oder gar sanktioniert worden, weil sie als Bedrohung und Auflehnung gegen die Herrschaft empfunden worden waren.5

Ein gutes Beispiel für den zunehmend gnadenlosen Umgang mit Herrschaftskritik in Bern stellen die drakonischen Strafen in Zusammenhang mit der sogenannten ’Henzi-Verschwörung‘ dar. Diese Verschwörung, die nach ihrem bekanntesten Protagonisten, dem Unterbibliothekar Samuel Henzi, benannt wurde, stellte den Gipfel einer Entwicklung rund um die Berner Regimentsbesetzungen dar. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wagte es noch die Handel treibende Burgerschaft von Bern, sich mit ihrer Kritik und ihren Reformvorschlägen auf dem amtlichen Weg an den Rat zu wenden. Die Magistrate reagierten aber zunehmend empfindlich, zum Teil sogar mit Verhaftungen und Verbannungen. In der Folge wurden Beschwerden nur noch anonym und in Form von Schmähschriften formuliert und heimlich verbreitet. Dieser sich zuspitzende Konflikt zwischen Regierenden und zurückgesetzten Burgern eskalierte im Sommer 1749 in der besagten Verschwörung. In einem Ende Juni geheim verfassten Memorial kritisierten vom Regiment ausgeschlossene Burger und wirtschaftlich benachteiligte Gruppen erneut die exklusive Patrizierherrschaft. Diese bekannte Kritik verknüpften sie allerdings mit neuen Forderungen. Sie griffen die Geistlichen als Komplizen des Patriziats an und forderten eine Besserstellung der Landschaft gegenüber der Stadt, in der Hoffnung, damit die Bauern für ihre Anliegen zu gewinnen. Damit sollte auch die Organisation der Regierung reformiert werden. In der Schrift wurde die Ersetzung des Kooptationsverfahrens durch eine Volkswahl des Rats gefordert. Die Gemeindeautonomie sollte über die Souveränität des Rats gestellt werden. Ratsmitglieder sollten zudem einer Amtszeitbeschränkung unterstellt werden. Die Verschwörer verlangten die jährliche Offenlegung der Staatsrechnung und Zugänglichkeit zu den Archiven. Doch dieser heimliche Zusammenschluss von insgesamt 134 Personen wurde verraten. Am 4. Juli wurden sie verhaftet. Innert kurzer Zeit fanden die Verhöre unter der Anwendung von Folter statt. Es kam zu öffentlichen Hinrichtungen der verantwortlich gemachten ‚Verschwörer‘, andere wurden mit Hausarrest belegt oder durch Verbannungen aus dem Gebiet des Kantons oder gar der Eidgenossenschaft verwiesen.6 Dadurch wurden in Bern die Gegner des Patriziats verunsichert und bis zum Ausbruch der Helvetischen Revolution im Wesentlichen zum Schweigen gebracht.7 Diesen restriktiven Umgang mit petitionsähnlichen Eingaben interpretierte selbst der konservative Berner Historiker Richard Feller als in gewisser Weise inkorrektes Verhalten des Berner Patriziats. In seiner Auffassung verwehrte es damit seinen Untertanen ein traditionelles Recht, das eigentlich allen freistehen sollte.8 Die Berner Regierung entsprach mit ihrer Machtfülle und dem damit verbundenen Vorgehen im 18. Jahrhundert allerdings eher dem Stereotyp als der Ausnahme.9

Die Eidgenössischen Nachrichten, eine Berner Wochenzeitung, die nach der Umwälzung der politischen Verhältnisse im April 1798 (nach konservativer Vergangenheit) als Stimme der neuen helvetischen Führung galt und bald darauf den Namen änderte,10 bewarb dagegen geradezu das nun konstitutionell garantierte Petitionsrecht. Die regierungsnahe Redaktion druckte nur zwei Tage nach dem Verfassungserlass folgende Aufforderung in ihrem Presseorgan ab:

„In Zeiten der Revolution muss man mit raschem Schritt mit fortgehen, gar nicht stille stehen, gar nicht zurückbleiben; helfen retten soll man das Vaterland durch Selbstmitwirken, durch Rath und That. […] Also frisch ans Werk! Wer wirken kann, der wirke; jeder brave Schweizer ist jetzt aufgefordert, mitzuwirken.“11

Die Bürger der Republik wurden durch das Regierungsmedium anfänglich dazu eingeladen und animiert, am neugegründeten Staat mittels Petitionen gestalterisch mitzuwirken. Das Vollziehungsdirektorium wünschte sogar, „sich mit den Bürgern in immer mehrere Verbindung zu setzen und ihnen die Mittel zu erleichtern, ihme ihre Petitionen überreichen zu können“.12 Und so lässt sich die Supplik deutlich von der Petition unterscheiden: Während erstere einer herkömmlichen politischen Kommunikation zwischen Beherrschten und Herrschenden gefolgt war, waren die Petitionen in ihren Forderungen nach individuellen Freiheitsrechten in vielen Fällen von der Französischen Revolution inspiriert.13 In Kombination mit der konstitutionell garantierten Gewissens- und Meinungsfreiheit eröffneten die Petitionen während der Helvetik eindeutig neue Möglichkeiten der politischen Artikulation. Der revolutionäre Umgang mit den Petitionen entsprach zumindest am Anfang der Republik ideell einem gänzlich neuen Staatsverständnis und setzte eine vollkommen neue Beziehung zwischen Staat und Bürger, Regierenden und Regierten voraus.14 Gleichzeitig zwang die aussichtsreiche helvetische Gelegenheit die AkteurInnen prekärer Eheschließungen, über die Petitionen in eine enge und intime Beziehung mit den Vertretern des Zentralstaats, den „Bürger[n] Gesetzgebern“, zu treten.15 Sie mussten sich quasi deren staatlicher „Vaterhülf“ anempfehlen, wollten sie sich gegen lokalen Widerstand verheiraten.16 Diese These gilt es weiter unten noch präziser zu erläutern.

Die Bürger der Helvetischen Republik leisteten der Aufforderung der neuen Regierung offensichtlich Folge und richteten zahlreiche schriftliche Petitionen an die Munizipalitäten, die gesetzgebenden Räte und das Vollziehungsdirektorium. Der größte Teil (40 %) der an die gemeindliche Behörde der Stadt Bern, die unterste helvetische Verwaltungsinstanz, adressierten Bittschriften betraf die Thematik der Einquartierung französischer Soldaten und Offiziere. Sie mussten in Ermangelung einer Militärkaserne bei der Berner Bevölkerung untergebracht werden. Die meisten dieser PetitionärInnen forderten mit unterschiedlichen Argumenten eine geringere Zahl von Unterbringungen oder gar einen gänzlichen Verzicht auf solche Einquartierungen.17 Eine Durchsicht der Regesten zum Bestand „Akten Helvetik“ im Stadtarchiv Bern (SAB) ergibt allerdings, dass sich die Ehewilligen mit ihren Heiratsbegehren nicht an die munizipale Instanz wandten beziehungsweise ihre Begehren von dieser Instanz nicht behandelt und entsprechend der Verfassung lediglich an die Zentralbehörden weitergeleitet wurden.

 

Die Bittgesuche aus der Zeit der Helvetik, die sich an die helvetischen Zentralbehörden richteten, befinden sich im Bundesarchiv in der Abteilung ‚Zentralarchiv der Helvetischen Republik‘. Sie wurden sowohl von ganzen Landgemeinden, sogenannten ‚gemeinnützigen Gesellschaften‘, Hintersassen und Landsassen, „Minderbemittelten und Armen und Bedürftigen“18 unterzeichnet. Hier wird schnell ersichtlich, worin der große heuristische Wert dieser Quellengattung, trotz zum Teil starker Kodifizierung und Formalisierung, besteht: Als Bittsteller traten Handwerker, Pfarrer, ehemalige Burger, Hintersassen, Landsassen, Fremde, Frauen, Arme, Wohlhabende, Städter und Landbewohner auf. Sie überschritten Standes-, Schicht-, Geschlechter-, Berufs-, Konfessions- und Alters- sowie regionale Grenzen. Während Tagebücher, Autobiographien und andere sogenannte ’Ego-Dokumente‘ in der Masse fast immer an ein sehr spezifisches soziales Stratifikat gekoppelt waren, wurden Bittgesuche von AkteurInnen aus praktisch allen Schichten produziert.19 Dabei betrafen sie unterschiedlichste Gegenstände: Häufig ging es um die Einforderung alter, verbriefter Nutzungsrechte, die die alte Berner Regierung im Laufe der Zeit missachtet haben soll. Gemeinden baten darum, aufgrund geographischer oder historischer Kriterien anderen Gerichtsbezirken unterstellt zu werden oder zum Hauptort eines solchen gemacht zu werden. Hintersassen beantragten in corpore den Ortsbürgern gleichgestellt zu werden, da sie wirtschaftlich denselben Beitrag zum Gemeinwesen und Unterhalt des Gemeindeguts leisten würden.20 Landbewohner forderten die konsequente Durchsetzung der Aufhebung der Feudallasten. Uneheliche Nachkommen selbst, deren Eltern oder Vögte beantragten die Legitimation und die damit verbundene Gleichstellung mit den ehelich Geborenen.21

Die unterschiedlichen Empfängerinstanzen in der Regierung zeigen dabei an, dass die Petitionen nicht systematisch und während der gesamten helvetischen Phase an eine Stelle gerichtet wurden. Aus diesem Grund teilt die vorliegende Arbeit die Schwierigkeiten, die sich im Zusammenhang mit der Erforschung von Petitionen ergeben, mit zahlreichen anderen historischen Studien auf diesem Gebiet. Dies gilt trotz der Feststellung, dass der Aufwand, die Sorgfalt und die Systematik bei der Archivierung der Petitionen in der Helvetischen Republik rapide zunahmen.22 Die Bittgesuche sind heute aufgrund von Archivreorganisationen – es ist vom „wechselvollen Schicksal des Bestandes“ des helvetischen Zentralarchivs die Rede –, verwaltungstechnischen Unklarheiten und Veränderungen sowie mangelnder Vertrautheit der AkteurInnen im Umgang mit dem politischen Mittel und den bürokratischen Zuständen über verschiedene Archivabteilungen und Signaturen verteilt.23 Der größte Teil der Petitionen aus der gesamten Republik an die Zentralbehörden ist in 54 Aktenbänden abgelegt. Diese sind nach Kantonen geordnet. Für Bern existieren acht solcher Bände, die explizit nur Petitionen beinhalten. In Bezug auf diesen Bestand heißt das, dass mehr als ein Siebtel der Bände Bittschriften aus dem Kantonsgebiet von Bern betreffen. Wenn man davon ausgeht, dass die Helvetische Republik während ihres gesamten Bestehens aus durchschnittlich 19 Kantonen zusammengesetzt war,24 dann handelt es sich hier zweifellos um einen beachtlichen Teil der gesamten Korrespondenz an die helvetische Legislative, der aus Bern stammte. Diese intensive Petitionstätigkeit aus dem verkleinerten Berner Kantonsgebiet lässt sich nicht ausschließlich mit der Größe und der Bevölkerung des Kantons erklären. Eine mögliche Erklärung könnte in der Art und Weise der Regierung unter der alten, machtbewussten patrizischen Herrschaft in Bern zu finden sein, die Agitationen und politischer Partizipation ‚von unten‘ im Vergleich zu anderen eidgenössischen Ständen noch weniger Raum geboten, beziehungsweise zum Teil gleich im Keim erstickt hatte.