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Prekäre Eheschließungen

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C Die Helvetik (1798–1803)
Ereignisse

Helvetik wird in der Schweizer Geschichte jenes ungefähr fünfjährige Intermezzo französischer Besatzung und zentralistischer republikanischer Regierung nach der sogenannten ‚Helvetischen Revolution‘ von 1798 genannt. Bevor zu einer historischen Beurteilung der Eheschließungsthematik unter den veränderten politischen Umständen der Helvetischen Republik geschritten wird, müssen für ein allgemeines Verständnis zunächst in groben Zügen die äußeren Bedingungen und Veränderungen beschrieben werden, die diese Phase auslösten und mit sich brachten. Die Helvetische Revolution und die aus ihr hervorgehende zentralistische Republik können nicht unabhängig von den europäischen Entwicklungen unter dem Eindruck der Französischen Revolution und Napoleons Expansionsunterfangen betrachtet werden. Diese Entwicklungen und ihre spezifischen Folgen für Bern werden hier in einem Parforceritt erörtert.

Als 1789 in Frankreich die Revolution ausbrach, überraschte sie nicht nur den französischen König. Auch ihre Folgen für die Eidgenossenschaft vermochte zu diesem Zeitpunkt niemand abzuschätzen. Zwar thematisierten und problematisierten die Herrschaftseliten und geistigen Kapazitäten in den verschiedenen eidgenössischen Ständen bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die zunehmende soziale Verengung der Herrschaft durchaus. In Bezug auf die zunehmende Machtfülle in den Händen einiger weniger Geschlechter diskutierten die Patrizier allerdings nicht die Gleichberechtigung der Landschaft mit der Stadt. Sie setzten sich viel mehr mit der Frage auseinander, wie sie die soziale Einbettung ihrer Herrschaft auf Dauer sicherstellen konnten, wenn sich die Zahl der regierenden Geschlechter und damit die soziale Akzeptanz nicht etwa ausweitete, sondern immer stärker und schneller verringerte.1 Ein wachsender Teil der Burgerschaft fühlte sich standesintern in zunehmendem Maß von der Herrschaft ausgeschlossen und wirtschaftlich benachteiligt.2 Parallel dazu fand die patrizische Machtkonzentration nach wie vor Ausdruck in den Heiratsstrategien und -praktiken des Patriziats. In Bern gerieten zum Beispiel sogenannte ‚Barettlitöchter‘ stets vor den Erneuerungswahlen in den Großen Rat in den Fokus des matrimonialen Begehrens unverheirateter Patrizier. Diese ledigen Töchter von Ratsherren wurden umworben, weil ihren Vätern das Recht zur Nomination von Kandidaten für die Wahl in den Rat zustand.3 Das Berner Ancien Régime versuchte 1790, die Akzeptanz der Herrschaft mit einer Festschreibung des zeitgenössischen status quo zu stabilisieren: Die Zahl der regimentsfähigen Geschlechter durfte nicht unter die aktuelle Zahl von 236 fallen. Im Großen Rat musste davon stets etwas weniger als ein Drittel der Geschlechter (76) vertreten sein.4 Dabei ging es ganz offensichtlich nicht um die Integration der Untertanen, sondern um die Abstützung der Macht im eigenen Stand.

Während sich das Berner Patriziat also lange Zeit prioritär mit den standesinternen Machtverhältnissen auseinandersetzte, schufen die Französische Revolution und der Sieg der jungen Französischen Republik über Preußen und Österreich im ersten Koalitionskrieg neue äußere Bedingungen. Zwar blieb die Eidgenossenschaft von den direkten Kriegshandlungen vorerst verschont, weil allen involvierten Parteien die Neutralität der Eidgenossenschaft schutz- und versorgungstechnisch Vorteile bescherte. Dennoch kam Bern – in seiner Funktion als Schutzmacht von Genf sowie der südlichen Teile des Fürstbistums Basel und durch seine exponierte Lage gegen Westen – im eidgenössischen Vergleich verhältnismäßig früh in Berührung mit der expansiven Politik der Französischen Republik. Im Verlauf des ersten Koalitionskriegs besetzten französische Soldaten den nördlichen Teil des Fürstbistums, annektierten Savoyen und machten dadurch 1792 die politische Umwälzung in Genf möglich. Erst die Friedensschlüsse mit Preußen (1795) und Österreich (1797) eröffneten der siegreichen Französischen Republik neue Handlungsräume im mittleren Alpenraum. Nun konnte sie beginnen, ihre expansiven Interessen und politischen Ideen auch in diesem Gebiet umzusetzen. Dabei war der Eidgenossenschaft vom französischen Direktorium die Rolle einer Schwesterrepublik zugedacht worden.5

Seit Beginn des Jahres 1798 wurde das Gebiet der heutigen Schweiz auf Grund der neuen Situation Frankreichs von den Folgen der Französischen Revolution unmittelbar erfasst. Nachdem 1791 die Unabhängigkeit der Waadt scheiterte, beziehungsweise von der patrizischen Regierung Berns mit militärischer Gewalt noch niedergeschlagen werden konnte,6 gelang es den revolutionären Bürgern der Waadtländer Seegemeinden angesichts der gesamteidgenössischen Entwicklungen und der Protektion Frankreichs, die Unabhängigkeit auszurufen. Die Berner Regierung ließ es vorerst zu keiner militärischen Eskalation mit der französischen Armee kommen und zog sich aus der Waadt zurück.7 Gleichzeitig versuchten die Regenten das politisch aufgeheizte Klima in der verbleibenden Bevölkerung in letzter Sekunde abzukühlen, indem sie Konzessionen eingingen: Die Kooptation von 52 neuen Regierungsmitgliedern aus Landstädten und Landschaften sollte deren politische Partizipation verstärken und dadurch zurückgesetzte Gemüter beruhigen. Gleichzeitig wollte die alte Regierung mit dieser Maßnahme die politische Legitimation der eigenen Regierungsweise breiter abstützen. Die derart erweiterte Versammlung erließ bei ihrem ersten Zusammenkommen eine konstitutionelle Ordnung, die es theoretisch allen Bürgern des Territoriums erlaubt hätte, politische Ämter in der Verwaltung oder Regierung zu besetzen. Doch zwischenzeitlich hatten sich die militärischen Verhältnisse Berns gegenüber Frankreich zunehmend verschlechtert. Die Frage, wie man auf die äußere französische Bedrohung reagieren sollte, löste wachsenden Zwist zwischen militärischer und politischer Führung aus und förderte Auflösungserscheinungen im eigenen Heer. Unter diesen Umständen kam es am 4. März 1798 zur Abdankung der alten Herrschaft, der eine provisorische Regierung folgte. Diese bestand aus Repräsentanten von Stadt und Land, konnte den Angriff der Franzosen aber auch nicht mehr abwenden. Am 5. März überreichte Berns provisorische Regierung dem französischen Direktorium die Kapitulationsakte, woraufhin französische Soldaten die Stadt Bern besetzten.8

Historiographische Beurteilung

Die Helvetische Revolution wird sowohl in liberaler als auch konservativer politischer Tradition gemeinhin als abruptes Ende des Ancien Régimes beschrieben. Dabei unterscheidet sich die Bewertung des Vor- und Nachher mehr oder weniger ausgeprägt. Für das eine Lager ist die Helvetische Republik der politische Bezugspunkt eines lang ersehnten demokratischen Konstitutionalismus. Er scheidet in dieser Auffassung gewissermaßen die politisch unaufgeklärte Frühe Neuzeit von der progressiven Moderne. Dadurch wird die Helvetik zur undurchlässigen zeitlich-ideologischen Grenze zwischen absolutistischem Unrechtsregime und idealisiertem demokratisch-liberalem Nationalstaat. Für das andere Lager stellt sie das Ende einer gottgefälligen und – nationalistisch interpretiert – selbstbestimmten, föderalistischen Ordnung dar, worauf Unruhe, Zerstörung, Armut, vor allem aber Abhängigkeit von der französischen Großmacht und Unfreiheit unter Napoleon folgten.1

Zwischen diesen beiden politischen Polen existiert inzwischen ein breites Spektrum von historischen Interpretationen, die die revolutionsähnlichen Entwicklungen im ungefähren Gebiet der heutigen Schweiz sehr viel differenzierter betrachten.2 Die Helvetische Revolution war demnach kein ahistorisches Offenbarungsereignis ohne Vorgeschichte. Sie kannte zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Gewinner und Verlierer. Sie erfuhr daher voneinander abweichende Wahrnehmungen und Interpretationen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und verschiedene Facetten der Revolution betreffend sogar in einer Person zusammenfallen konnten.3 Nichtsdestotrotz bleibt es eine Tatsache, dass vor allem die französische Besatzung, insbesondere in Bern,4 für breite Bevölkerungsschichten massive materielle Einschränkungen und Entbehrungen mit sich brachte. Jüngst wurden auch die Gewalterfahrungen und die erschütternde Wahrnehmung der militärischen Präsenz unter französischer Okkupation von der Geschichtswissenschaft stärker thematisiert.5

Gleichwohl dürfte der Lausanner Historiker Sandro Guzzi-Heeb in seiner Einordnung der historischen Realität zwischen den Polen richtig liegen, wenn er in Bezug auf die grundlegenden politischen Entwicklungen schreibt, dass nicht die „Landbevölkerung die ‚gnädigen Herren‘ des Ancien Régime“ im Alleingang gestürzt hätte, sondern dass dies mithilfe der Interventionen des französischen Direktoriums und des militärischen Drucks Napoleons geschehen sei.6 Angesichts dieser Ambiguität – so empfiehlt der Historiker seiner Zunft – sollten wir den Franzosen weder „Altäre errichten“, noch „so tun, wie wenn sie für ‚die Schweiz‘ das absolute Übel gewesen wären“.7 In dieser Linie argumentiert auch Andreas Fankhauser, wenn er zu dem Schluss kommt, dass die Franzosen die Helvetische Revolution „gezielt“ gefördert, „ausgelöst“ und „abgesichert“ hätten.8 Zusammengefasst ist die historische Beurteilung der Helvetischen Republik nach wie vor ein kontroverses Unterfangen. Die Republik war nicht zuletzt aufgrund der materiellen Interessen der Besatzer und der daraus resultierenden Reparationszahlungen permanent unterfinanziert. Außerdem reichte die kurze Zeit des Bestehens nicht aus, um das politische System grundlegend zu verändern. Viele der ideellen und revolutionären Ansätze scheiterten deshalb in der praktischen Umsetzung.9

Eheschließung und Sexualität

Im Bereich der Eheschließung und der gelebten Sexualität können Historiker*innen wohlbegründet annehmen, dass die Helvetik zumindest während ihrer Anfangsphase eine grundlegend neue Erfahrung für viele der AkteurInnen darstellte, deren eigensinnige Ehebegehren wir im vorausgegangenen Teil kennengelernt haben. Diese Annahme lässt sich sowohl auf Basis mitgeteilter Erfahrungen als auch auf Grundlage kurzfristiger demographischer Trends erhärten. Für den helvetischen Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert lässt sich jedenfalls für Bern ein demographisch präzedenzloses Phänomen quantifiziert nachweisen.1 Denn im Jahr unmittelbar nach der Ausrufung der Helvetischen Republik wurden über 1000 Taufen mehr verzeichnet als im Jahr zuvor und danach. Dieser Wert entspricht einer Steigerung von beinahe 12 %. Der bereits viel zitierte Berner Sozialhistoriker Christian Pfister spricht in Bezug auf diese Erscheinung vom „‚Baby Peak‘ der Helvetik“. Die Zahl der Taufen kann nach Ansicht namhafter Sozialhistoriker eindeutig als Indikator für eine gesteigerte Fertilität gewertet werden, weil aufgrund der herrschenden religiösen Überzeugungen zu dieser Zeit praktisch alle neugeborenen Kinder getauft wurden. Die Zahl der ungetauften Ausnahmen dürfte verschwindend gering gewesen sein. Die Höchstzahl der Geburten wurde im Jahr 1799 erreicht, also direkt im ersten Jahr nach der Installation der Republik. Kurz: Die Menschen hatten mehr Sex während der Anfangsphase der Helvetischen Republik oder waren in dieser Zeit zumindest fruchtbarer.2

 

Dieselbe Entwicklung hat Hans-Rudolf Burri für die Stadt Luzern in noch drastischerem Ausmaß ausgewiesen – die Zunahme der Taufen betrug dort 40 %. Er konnte zudem aufzeigen, dass 1799 und 1800 23 % mehr Ehen geschlossen wurden als im vorausgehenden Jahr.3 Während sich im Kanton Bern zwischen 1765 und 1796 die Zahl der Eheschließungen, außer in Teuerungsjahren, kaum verändert hatte, stieg sie auch hier zu Beginn der Helvetik sprunghaft an und korrelierte mit dem rasanten Anstieg und Abfall von Geburten in dieser Zeit. Stiegen die Preise für Lebensmittel und andere Güter, wurden geplante Eheschließungen aufgeschoben, bis günstigere Zeiten folgten. Nach 1800 nahm in Bern die Zahl der Eheschließungen pro 1000 Einwohner bis zur Jahrhundertmitte sogar beträchtlich ab.4 Die heftigen demographischen Ausschläge während der ausgesprochen kurzen Phase der Helvetik sind folglich erklärungsbedürftig. Was bewirkte, dass die Leute zu Beginn der revolutionären Phase mehr Geschlechtsverkehr hatten, respektive fruchtbarer wurden und öfters heirateten?

Pfister ist der Meinung, dass psychologische Variablen zur Erklärung dieser Phänomene herangezogen werden müssen. Für ihn lässt sich dieses Phänomen der Helvetik mit den demographischen Mustern nach Pestepidemien vergleichen. Er interpretiert es deshalb auf kultureller Ebene in Anlehnung an Heinrich Richard Schmidts These für das ausgehende 18. Jahrhundert als „vorübergehende Lockerung der Sitten“.5 Die weitere Erklärung Pfisters ist dann aber quasi materialistischer Natur: Die vielen Allmendteilungen sollen die materiellen Voraussetzungen für die Gründung eines eigenen Haushalts der unteren Schichten zum Teil massiv verbessert haben, wodurch sich deren „zurückgestaute Sinneslust“ Bahn brechen konnte.6 Der spekulative Charakter dieser psychologistischen Erklärungen des Sozialhistorikers offenbart sich, wenn Burri diesen Ausschlag der Eheschließungsrate ebenfalls psychologisch, aber als „Scheu vor Kriegsdiensten“ interpretiert.7 Und so warnt Pfister selbst vor vorschnellen generalisierenden Schlüssen und möchte seine Erklärung lediglich als Hypothese verstanden wissen.8

Sicherlich sollte die Interpretation des Phänomens des plötzlichen Geburtenanstiegs bei den handelnden Subjekten ansetzen. Allerdings geraten die vorgestellten psychologistischen Erklärungsversuche in die Nähe jener historischen Darstellungen, denen Edward Palmer Thompson vorwirft, das Handeln Subalterner vorschnell als „spasmodische“ Reflexe von instinktiv reagierenden AkteurInnen ohne Affektkontrolle zu bewerten.9 Daneben machte die zwischenzeitliche Abschaffung der Einzugsgelder für auswärtige Bräute, die weiter unten noch thematisiert wird, das Heiraten in vielen Fällen schlicht erschwinglicher – was sowohl bei Pfister als auch Burri als Erklärungsansatz für den Anstieg vergessen geht.10 Daran zeigt sich, dass die Erklärung des demographischen Ausschlags ein höheres Maß an Differenziertheit erfordert, damit der dahinterliegende Eigensinn, die moralische Ökonomie und die Deutungsmuster der AkteurInnen adäquat eingefangen werden können. Daher beleuchtet das erste Kapitel, wie die revolutionären Ereignisse den normativen Rahmen beeinflussten, der den Bereich der Eheschließung und der Sexualität im Ancien Régime reguliert hatte. Im zweiten Kapitel gilt die Aufmerksamkeit dann wieder den Motiven, Taktiken und Deutungsmustern der ehewilligen AkteurInnen unter veränderten Vorzeichen. Abschließend wird auch in diesem Teil die praktische Normierung beziehungsweise Deregulierung durch die verantwortlichen Instanzen thematisiert.

1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe
1.1 Helvetische Verfassung

Als die Franzosen kampf- und widerstandslos in der Waadt einmarschierten und später die Stadt Bern, das alte Machtzentrum des Territoriums, besetzten, bedeutete das auch gleichzeitig das Ende der alten, dreizehnörtigen Eidgenossenschaft.1 Weniger als einen Monat nach der Abdankung der Berner Regierung kam es am 12. April zur Ausrufung der ‚einen und unteilbaren‘ Helvetischen Republik. Diese war mit einer einheitlichen Konstitution ausgestattet, die in großen Teilen der heutigen Schweiz formell zum ersten Mal die Grundsätze moderner Menschenrechte, der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung garantierten sollte.2

Die helvetische Verfassung organisierte die Republik als nationalen Einheitsstaat mit einer Legislative, die nach einem spezifischen Repräsentationssystem in einem patriarchalen Wahlsystem besetzt wurde. Gleichzeitig sollte die zentrale Staatsgewalt durch die neue Verfassung erheblich gestärkt werden und einen effizienten, das heißt direkten Zugriff auf die Bürger erlauben und legitimieren. Zu diesem Zweck stattete die Verfassung den unteilbaren Einheitsstaat mit einer Exekutive aus, die eine sehr große Machtfülle besaß und der gegenüber die parlamentarischen Gestaltungsspielräume in vielerlei Hinsicht begrenzt waren.3 Die Konstitution wurde von Peter Ochs, einem reformorientierten Basler Aufklärer, entworfen. Sein Entwurf fußte auf dem Vorbild der französischen Direktorialverfassung von 1795 und erfuhr durch das französische Direktorium dennoch maßgebliche Anpassungen.4 Die Grenzen des alten Kantons Bern wurden deutlich enger gezogen. Das vorher größte Territorium in der Eidgenossenschaft wurde durch die Neugründungen der helvetischen Kantone Léman (entspricht ungefähr dem heutigen Kanton Waadt), Aargau und Oberland (das mit der Mediationsakte von 1803 wieder mit Bern vereint wurde) um fast zwei Drittel der historisch gewachsenen Fläche verkleinert. Der Kanton wurde um 58% seiner Bevölkerung, jener in Teilen des bevölkerungspolitischen Diskurses so wertvollen Ressource, reduziert, beziehungsweise ‚beraubt‘.5 Bern zählte um 1800 in seinem Kantonsgebiet zwar immer noch 181‘055 Einwohner und war damit auch nach der Gebietsverkleinerung der bevölkerungsreichste Kanton.6 Dennoch wurde der ehemals standesbewusste Kanton mit der neuen Gebietseinteilung und den damit verbundenen Gebietsabtrennungen verhältnismäßig am härtesten bestraft.7 Wie Andreas Fankhauser schreibt, wurde das alte Patriziat Berns in den Augen von Patrioten und der französischen Besatzungsmacht vielfach als der Hauptgegner der helvetischen Ideen gesehen. Dieser negativen Haltung gegenüber dem vormals mächtigen Bern wurde in der helvetischen Gebietseinteilung entschieden Ausdruck verliehen. Durch die neue Gebietsaufteilung ließ sich in der Vorstellung der Kritiker der ehemalige Stadtstaat und dessen ständische Führungsschicht effektiv schwächen.8

Bern wurde in 15 Distrikte eingeteilt.9 Darin wählten nun auf der Gemeindeebene Aktivbürger, alle einheimischen Männer ab einem Alter von 20 Jahren, die seit mindestens fünf Jahren in einer Gemeinde wohnhaft waren, die kantonalen Wahlmänner, was im internationalen Vergleich außerordentlich demokratisch anmutet. Diese wiederum bestimmten pro Kanton die vier Abgeordneten für den Senat und die acht Mitglieder für den Großen Rat, die beiden Kammern des Parlaments. Um diese Ämter bekleiden zu können musste man männlich, mindestens 30 Jahre alt und verheiratet oder verwitwet sein,10 was die proklamierte Gleichheit sogleich in patriarchaler Weise entscheidend einschränkte.11 Die Wahlmänner entsandten außerdem pro Kanton einen Richter an den Obersten Gerichtshof. Neben den beiden Legislativkammern und dem Gericht existierte das fünfköpfige, sogenannte ‚Vollziehungsdirektorium‘, das vom Parlament gewählt wurde. Das Direktorium wurde mit verheirateten oder verwitweten Männern ab dem 40. Altersjahr besetzt. Es war mit umfangreichen Kompetenzen ausgestattet, auch mit gesetzgeberischen, was einer konsequenten Gewaltentrennung widersprach. Es bestimmte anfänglich die vier, später die sechs, Minister der Zentralverwaltung, die ihm unterstellt waren. Mit den ihnen verpflichteten Regierungsstatthaltern in den Kantonen, den Distriktstatthaltern und den Agenten in den Gemeinden übten sie theoretisch die Kontrolle über das ganze Land aus. Dadurch wurden die Kantone zu Verwaltungseinheiten ohne eigene Legislative herabgesetzt. Die Kantons- und Distriktgerichte verfügten außerdem nur über verhältnismäßig beschränkte Kompetenzen, ganz besonders in Bezug auf die vormals prekären Eheschließungen, wie noch zu zeigen sein wird.12

Die ideologische Stoßrichtung der Verfassung wird schon im ersten ‚Hauptgrundsatz‘ ersichtlich: Dieser wendet sich gegen den Partikularismus von „kleinlichen Lokalitäten und einheimischen Vorurtheilen“, der „auf’s Gerathewohl leitete“, also keinen universellen, aufgeklärt-rationalen Grundsätzen folgte, sondern ständischen Interessen gehorchte. Dieser Grundsatz erscheint in Verbindung mit dem achten Grundsatz – „[e]s gibt keine erbliche Gewalt, Rang, noch Ehrentitel“ – für die untersuchte Thematik besonders interessant. Freiheit und Gleichheit waren in der Konzeption der Verfassung Naturrechte. „Die natürliche Freiheit des Menschen [war jetzt] unveräußerlich“ und folglich zwischen allen Menschen gleich. Es wurde ideell ein „System der Einheit und der Gleichheit“ entworfen – wohlgemerkt ein nach wie vor sehr androzentristisches, denn Frauen waren in der politischen Arena nicht vorgesehen. Dieses System richtete sich gegen anscheinend irrationale Vorurteile und geburtsständisch-religiös legitimierte Vorrechte und lehnte die daraus resultierende Herrschaft ab. Wie die Populationisten der bernischen Oekonomischen Gesellschaft zuvor, stellte diese Verfassung den „allgemeinen Nutzen“ und das „Glück der Nation“ in den Mittelpunkt. Die Bürger dienten fortan keiner aristokratischen Obrigkeit gnädiger Herren mehr, also einem spezifischen Stand, der von Gottes Gnaden regierte, sondern dem von Männern zentralistisch regierten Staat, verstanden als „Vaterland“. Auf dasselbe sollten sie mit zwanzig Jahren den Bürgereid leisten, um ihre Treue zu bezeugen. Im 25. Artikel kommt außerdem die militärische Bedeutung der Bevölkerung zum Ausdruck, die wir im Rahmen der bevölkerungspolitischen Debatten im Ancien Régime kennengelernt haben: „Jeder Bürger ist ein geborner [sic] des Vaterlandes“, der „im Namen des Vaterlandes [bewaffnet]“ wurde. Die Bevölkerung stellte folglich nicht nur eine ökonomische Ressource dar, sondern repräsentierte auch das Potential militärischer Stärke.13 Den Geist der helvetischen Verfassung resümierend, schreibt André Holenstein, dass die dafür verantwortlichen reformorientierten Köpfe maßgeblich „vom Reformdiskurs in den spätaufklärerischen Sozietäten“ beeinflusst waren.14