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Prekäre Eheschließungen

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3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen im ausgehenden Ancien Régime

Nach den Ausführungen zu den ehegesetzlichen Normen und den bevölkerungspolitischen Debatten sowie den Taktiken von Ehewilligen und Opponierenden geht es an dieser Stelle um die Gerichtsurteile, also um die normierende Praxis der Assessoren und des Präsidenten des Oberchorgerichts in Bern im ausgehenden Ancien Régime. Die folgenden Erläuterungen sollen den ersten Teil im Sinne einer Synthese zwischen Norm und Praxis abschließen und zeigen, dass auch die gerichtliche Normierung der prekären Eheschließungen eine Urteilspraxis darstellte, die sich zwischen Gesetzen, öffentlicher Debatte und Eigensinn der AkteurInnen bewegte. Es steht die Frage im Zentrum, wie sich die Richter im Einflussbereich zwischen dem ständisch-patriarchal strukturierten und nach wie vor reformiert formulierten Ehegesetz und den halböffentlichen bevölkerungspolitischen Debatten positionierten. Zudem soll geklärt werden, wie sie sich im Spannungsfeld zwischen eigensinnigen Ehebegehren der AkteurInnen und den gewohnheitsrechtlichen Vorstellungen der opponierenden Umwelt verhielten. Zwischen dem Gesetz und dessen richterlicher Exekution befand sich in der gerichtlichen Praxis ein weiter Interpretationsspielraum. Berns Eherichter waren bevölkerungspolitische Meinungsträger und keine neutralen Vollstrecker der blinden Justitia, die die Ehe-ordnung telle quelle umsetzten.1 Sie reagierten auf die Performanz und subversiven Taktiken der Kläger und Angeklagten, agierten ihrerseits als politische AkteurInnen und hatten bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze ebenso ihre soziokulturell geprägten Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung und wie diese herzustellen sei.2 Sie waren selbst „in ein komplexes Geflecht sozialer Ordnungsprozesse und Billigkeitsvorstellungen eingefügt“.3

Dadurch kommt es hier zugleich zu einer allgemeinen Beurteilung des Erfolgs von eigensinnigen Ehebegehren und Einsprüchen opponierender Parteien. Folgten die Richter tendenziell dem Eigensinn ehewilliger Individuen oder unterstützten sie die patriarchalen Interessen von Gemeinden und Familien? Die Antwort auf diese Frage lässt implizit und explizit Aussagen über die Urteilslogik der richterlichen Instanz zu. Außerdem vermag sie Aufschluss darüber zu geben, in welches gouvernementale Verhältnis die Richter zum ehewilligen Subjekt traten. Dadurch wird sichtbar, ob die Sittenrichter das traditionelle Hausväterregime stützten oder die Regierung des Subjekts intensivierten. Aufgrund der Samples wird sowohl qualitativ als auch quantitativ zu klären sein, ob die Richter in ihren Urteilen bevölkerungspolitischen Trends von Populationismus oder Übervölkerungsangst folgten und prekäre Ehen begünstigten oder die exklusiven reformierten Ehegesetze, die eine moralisch reine Gesellschaft anvisierten, sittenstreng zur Anwendung brachten und dadurch patriarchale Strukturen stützten.

3.1 Mehrstimmigkeit und der Ermessenspielraum der Gnade

In vielen historischen Darstellungen, die sich mit Gerichtsakten befassen, geht ein zentraler Aspekt des innergerichtlichen Aushandlungsprozesses verloren: Vielfach präsentieren sich die aufgezeichneten Gerichtsurteile auf Grund der Quellenlage als die geeinte Stimme der Obrigkeit, wenn sie überhaupt aufgezeichnet wurden.1 Diese Form des zusammenfassenden Protokolls widerspiegelt aber tendenziell, was Julie Hardwick in Bezug auf die sich ausdifferenzierende Staatlichkeit im 18. Jahrhundert „the state’s vision of itself“ genannt hat.2 Ein solches staatliches Selbstverständnis begann sich auch in der reformabsolutistischen Berner Obrigkeit des 18. Jahrhunderts auszudifferenzieren und abzuzeichnen. Es präsentierte sich zunehmend kategorisch und expansiv und führte tendenziell zur Einebnung von Partikularitäten und expliziter Multinormativität. Die Urkunden in den Rekursmanualen verweisen in ihrer ausdifferenzierenden Form, die verschiedene Meinungen unter den Richtern sichtbar werden lässt, allerdings auf einen ganz wichtigen Umstand: Eherichterliche Entscheidungen, die bei der Lektüre der erstinstanzlichen Ehegerichtsprotokolle konsensual erscheinen, werden in den Berner Rekursmanualen sowohl in ihrer Ambivalenz und Uneindeutigkeit als auch in ihrer Konfliktträchtigkeit zwischen ständischer Privilegienordnung, kommunaler Ökonomie, patriarchaler Ehrgesellschaft, Eigensinn und bevölkerungspolitischer Staatsräson aufgeschlüsselt und in ihrer Differenziertheit rehabilitiert. Die Darstellungsweise der Urkunden, die Mehrheits- und Minderheitenmeinungen deklarierte, markierte mit aller Deutlichkeit, dass es sich beim Oberchorgericht um ein judikatives Regierungsgremium handelte – es gab noch keine effektive Gewaltenteilung. In Bezug auf den Sinn und Zweck der Ehe im 18. Jahrhundert versammelte es verschiedene politische Vorstellungen und vermittelte zwischen diesen.

Die präsentierte Kontextualisierung der Urkunden verdeutlicht, dass Ehen nicht nur zwischen ehewilligen AkteurInnen, opponierenden Intermediären und dem Gericht ausgehandelt wurden, sondern dass auch die Assessoren des Oberchorgerichts miteinander um moralische Werte, eherechtliche Positionen und die anzuwendende Bevölkerungspolitik rangen. In einem fortwährenden und intensiven Prozess mussten sie ihren eigenen kollektiven Standpunkt zweimal wöchentlich aushandeln. Der Gerichtsschreiber musste diesen Aushandlungsprozess mehr oder weniger summarisch dokumentieren und damit legitimieren. Die Richter waren sich, wie bereits weiter oben erwähnt, in 64% der untersuchten Fälle (39) zwischen 1742 und 1798 in ihren Urteilsansichten nicht einig.

Der Umstand, dass die meisten Fälle vom Berner Oberchorgericht mehrstimmig beurteilt wurden, deutet bereits darauf hin, dass es innerhalb des richterlichen Kollegiums Vertreter unterschiedlicher bevölkerungspolitischer, respektive moralischer Weltsichten und sozialer Ordnungsvorstellungen gab. Man war sich über die zu verfolgende Ehepolitik und deren bevölkerungspolitische Stoßrichtung im ausgehenden Ancien Régime nicht nur in den öffentlichen Debatten und zwischen Eigensinn und patriarchal-kommunalen Interessen selten einig, sondern auch im Gericht. Die Spannungen zwischen patriarchalem Ehegesetz, das dem Schutz knapper Ressourcen diente, und der in der Öffentlichkeit geführten bevölkerungspolitischen Debatte wurden auch im Ehegericht in Bezug auf die prekären Eheschließungen abgebildet, wie noch zu zeigen sein wird. Sollte man die Ehe ganz grundsätzlich als bevölkerungspolitische Maßnahme fördern und zu diesem Zweck demokratisieren, wie es die Waadtländer Geistlichen in ihren Abhandlungen vorschlugen, oder war sie aus ständischen und moralischen Gründen zu verhindern, damit ständische Privilegien und lokale Ressourcen nicht gefährdet, sondern angehäuft oder zumindest sparsam verwaltet werden konnten?

Insofern erfuhren die vorgeladenen Untertanen das Oberchorgericht in den Verhandlungen im Ausgang des Ancien Régimes als ein relativ heterogenes und kontextbezogenes staatliches Instrument mit ergebnisoffenem Verfahren.3 Es mochte im Gericht in Abhängigkeit von der Zeit zwar dominierende ehepolitische Positionen geben. Neben der herrschenden Ehepolitik blieben aber offensichtlich auch Randpositionen artikulier- und verhandelbar. Summarische Protokolle, die lediglich zusammengefasste Urteile wiedergaben, verschleierten diesen Umstand. Sie verstärkten den herrschenden Diskurs durch das fehlende „verbotene Wort“, das nicht in der Urkunde auftauchen konnte.4 Das subversive Murmeln musste dabei durch „Prozeduren der Ausschließung“ im Hintergrund oder gänzlich stumm bleiben.5 Diese Verfahren sind somit Ausdruck und Teil mächtiger Herrschaftsstrategien. Die Rekursmanuale des Berner Oberchorgerichts sind bezüglich des Murmelns daher eine aufschlussreiche Quelle, weil sie Positionen und Argumente in Erscheinung treten ließen, die womöglich jene feinen Risse anzeigten, die spätere größere Brüche und Transformationen verursachten.6 Sie offenbaren damit die Heterogenität der Praxis einer Herrschaft, die gemeinhin monoton und monolithisch dargestellt und wahrgenommen wurde. Insofern ist es interessant, dass die Rekursmanuale just um die Jahrhundertmitte eingeführt wurden, gleichzeitig mit dem Aufkommen des bevölkerungspolitischen Diskurses. Innerhalb des Gerichts konkurrierten am Ende des Ancien Régimes zum Teil sehr unterschiedliche, gewissermaßen ‚vormoderne‘ und ‚moderne‘ Rationalitäten mit- und nebeneinander um die Mehrheit der richterlichen Stimmen. In jenen 61 Fällen in der Zeit zwischen 1742 und 1798 lässt sich ein ganzes Spektrum von Urteilslogiken erkennen, das weiter unten erörtert wird.

Neben dieser konfliktträchtigen Mehrstimmigkeit zeigt sich auch deutlich, dass die Ehe am Ende der Frühen Neuzeit nicht nur in der katholischen Kirche eine Institution war, die von der kirchlichen Erteilung göttlicher Gnade abhängig war. Auch im reformierten Bern war sie nach wie vor vom arbiträren „Gnadenakt“ der ständisch-aristokratischen Eherichter und Regierung abhängig.7 Diese Handlung der ‚gnädigen Herren‘ im Oberchorgericht im Namen Gottes folgte nicht der peinlichen und prinzipientreuen Befolgung juristischer Grundsätze mit universellem Anspruch, sondern gehorchte maßgeblich dem Ermessen der aristokratischen Eherichter und der Logik der Aushandlungsprozesse.8 Somit war sie Teil einer Herrschaftsstrategie.9 Der Gnadenakt ließ jenes Moment richterlicher Milde zu, das in Bezug auf die Strafgerichtsbarkeit von der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung verschiedentlich als ‚Sanktionsverzicht‘ bezeichnet worden ist. Es ermöglichte Richtern im Rahmen des gerichtlichen Aushandlungsprozesses im Umgang mit dem Gesetz eine flexible Urteilspraxis.10 Die Richter saßen in ihrem Selbstverständnis auch zu diesem Zeitpunkt noch von Gottes Gnaden in ihren Ämtern. Genau diese Gnade verwalteten sie im Oberchorgericht von Bern als „‚Statthalterin Gottes auf Erden‘“ in Bezug auf das Privileg der Ehe.11 Allerdings verwalteten sie diese unter zum Teil neuen bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten, die nicht mehr zwangsläufig sittlich-moralischen oder ständisch-patriarchalen Logiken folgen mussten, sondern neue, ehepolitische Argumente ins Feld führten, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Folglich kann an dieser Stelle vorerst eine gewisse Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen konstatiert werden, wenn gerade das alte Gnadenverständnis in Bezug auf die prekären Eheschließungen prinzipiell eine milde Urteilspraxis im Sinne einer reformorientierten Ehepolitik zuließ.12 Interessant erscheint dabei, dass genau dieses den aristokratiekritischen Aufklärern reaktionär erscheinende Verständnis ständischer Gnade es den ‚hochlöblichen‘ Eherichtern möglich machte, ein anderes ständisch-patriarchales Privileg zurückzudrängen. Obwohl das Vorrecht des Ehezugs der Verwandten erst gerade noch in den Gesetzesrevisionen von 1743 auf die Gemeinden und Korporationen ausgeweitet wurde, konnte das Zugrecht von den Richtern verwehrt und die prekäre Eheschließung bewilligt werden. Kollektive intermediäre Interessen konnten auf diese Weise entgegen dem Ehegesetz zu Gunsten von individuellen Eheinteressen benachteiligt werden. Auch wenn in der Rechtspraxis des Ancien Régimes gewisse Urteile unwahrscheinlich blieben, ermöglichte die Gnade als letztes Entscheidungsprinzip den obrigkeitlichen Richtern hypothetisch also jedes noch so reformorientierte Urteil. Die aus Gottes Gnaden amtierenden Richter konnten sich somit potenziell in ihren Urteilen in paternalistischer Weise über die strenge Anwendung des kodifizierten Eherechts hinwegsetzen.13 Das konnte gegen patriarchale Ansprüche und für eine wachsende Bevölkerung erfolgen. Die Richter konnten durch ihre Gnade ehelichen Eigensinn gewähren und dadurch in ein unmittelbares Verhältnis zu diesen Heiratswilligen treten, was ein universeller Rechtsanspruch, wie ihn die Aufklärer vertraten, tendenziell ausschloss.14 Durch diese direkte Beziehung zu den Paaren konnten sie als Teil eines sich entwickelnden Staats intermediäre Mächte – Gemeinden und ihre Vögte, Familien und ihre Verwandtschaftsmitglieder – isolieren und die eigene Machtfülle vergrößern. Genauso gut konnten sie sich aber auch auf die Seite der Opponierenden schlagen und ihrerseits auf deren patriarchale Normen verweisen, um den Eigensinn der Ehewilligen einzuschränken, wo er ihnen zu weit ging.15 Der Umstand des großen richterlichen Ermessens ließ also eine juristische Beweglichkeit zu, „anderen, […] nicht minder dringlichen Erwartungen und leitenden Gesichtspunkten“ – zum Beispiel populationistischer Bevölkerungspolitik – „gerecht zu werden“.16 Damit verweisen auch die richterlichen Urteile im ausgehenden Ancien Régime auf die Multinormativität der frühneuzeitlichen Gerichtspraxis in Bern.

 

3.2 Quantitative Tendenzen

Die unterschiedlichen Gerichtsbesetzungen machen es in Bezug auf die verschiedenen Taktiken und Ressourcen des Eigensinns, wie sie vorhin besprochen wurden, sehr schwierig, verallgemeinernde Aussagen zu ihrem spezifischen Erfolg vor Gericht zu machen. Ähnlich gelagerte Fälle prekärer Eheschließungen, die aufgrund der überlieferten Informationen durch den Gerichtsschreiber keine grundlegenden Differenzen in ihrer Konfiguration aufwiesen, konnten vom Gericht zum Teil sogar verhältnismäßig zeitnah unterschiedlich bewertet werden. Der „Wert“ der im Gericht vorgebrachten Taktiken und Ressourcen hing stets „von der jeweils situativen Logik“ ab.1 Dieser Umstand wurde dadurch verstärkt, dass, wie bereits erwähnt, dem Eigensinn in der Außenwahrnehmung selbst eine gewisse Ambiguität inhärent war, die von Fall zu Fall zu unterschiedlichen Bewertungen desselben führen konnte. In vielen Fällen war außerdem nicht trennscharf ersichtlich, welche spezifischen Taktiken und Ressourcen zum Erfolg, beziehungsweise zum Misserfolg geführt hatten, weil sie sich im Ringen um die Eheschließungen zum Teil überlagerten und ergänzten. Da also die eigensinnigen Eheaspiranten verschiedene Ressourcen kreativ miteinander kombinierten, lag eine komplexe Gemengelage vor, die generalisierte Aussagen zum Erfolg isolierter Taktiken problematisch macht.

Insofern ist die Arbeit in Bezug auf die Urteile der Obereherichter auf quantitative Tendenzen angewiesen. In der Gegenüberstellung der Zahlen heiratsbewilligender und heiratsverhindernder Urteile zeigt sich, dass 36, also 59 %, von den total 61 prekären Eheschließungen durch das Oberchorgericht begünstigt wurden. Nur 25 Mal entschieden sich die Eherichter gegen eine eheliche Verbindung und erlaubten den Opponierenden das Zugrecht oder den Eheeinspruch. In rund zwei Dritteln der untersuchten Fälle erhielt das eigensinnige Ehebegehren also den Vorzug vor den intermediären Interessen von gemeindlichen oder familialen Opponierenden. Dabei gibt es in der Verteilung über die Samples keine signifikanten Unterschiede. Es wurden in jedem untersuchten Sample mehr oder mindestens so viele Eheerlaubnisse erteilt, wie Eheverbote ausgesprochen wurden. Die untersuchten Samples aus den Rekursurkunden präsentieren das Oberchorgericht am Ausgang des Ancien Régimes gegenüber den intermediären Gemeinden, Familien und Verwandten zahlenmäßig tendenziell somit als eheförderndes bevölkerungspolitisches Organ und nicht als eine Institution, die Eheschließungen kategorisch verunmöglichte. Offensichtlich wurde der eheliche Eigensinn der ehewilligen AkteurInnen in der Mehrheit der Fälle honoriert, indem das patriarchale, kommunale oder korporative Zugrecht verhindert und zurückgedrängt wurde. Eigensinnige, die Justiz nutzende Akteur-Innen können daher im Untersuchungszeitraum durchaus als wichtige Agenten des werdenden Verwaltungsstaates erachtet werden. Vertreter des sich ausdifferenzierenden Staates avant la lettre hatten ein Interesse daran, direkt auf das Individuum zuzugreifen und intermediäre Parteien zurückzudrängen, um das eigene Gewaltmonopol auszubauen. Die eigensinnigen Ehewilligen luden ihn somit quasi zur Intensivierung seiner Tätigkeiten und Beziehungen ein. Gleichzeitig ermutigte das Gericht durch seine tendenziell milde Urteilspraxis seinerseits die ehewilligen AkteurInnen, sich in die Praxis des Staats einzugliedern.2

Dabei spielte es für das Oberchorgericht keine Rolle, ob es sich bei den begehrten Eheschließungen um räumlich – nicht verwandtschaftlich – endogame oder exogame Beziehungen handelte. Von den 58 Ehebegehren, die in Bezug auf die Herkunft als endogame oder exogame Verbindungen klassifiziert werden können, wurden sieben Eheschließungen verhindert, die innerhalb der gleichen Gemeinde erfolgt wären. Ebenso viele lokal endogame Ehebegehren wurden vom Gericht aber auch abgelehnt. Von den Eheschließungen, die über Gemeindegrenzen erfolgen sollten, gegen die oft die Gemeinden der Männer Einwände vorbrachten, wurden sogar 26 bewilligt und nur 18 abgelehnt. Während das Verhältnis von legitimierten zu abgelehnten endogamen Eheschließungen also ein paritätisches war, wurden fast eineinhalb so viele exogame Heiraten bewilligt wie abgelehnt.

Diagramm 3:

Gerichtsurteile in Bezug auf das Verhältnis zwischen räumlich endogamen und exogamen Heiratsbegehren von 1742 bis 1798 (Quellen: StABE B III 824; 826; 827; 829; 830)

Vermutlich besaßen die Faktoren der kommunalen Endogamie und Exogamie für die Obereherichter nicht zuletzt deswegen eine untergeordnete Bedeutung, weil sie die finanziellen Ressourcen der Berner Aristokratie nicht direkt berührten, es sei denn, dass es sich um exogame Verbindungen unter Beteiligung von BernburgerInnen handelte. Einen aufgrund der Fallzahl zugegebenermaßen vagen Anhaltspunkt für diese Annahme, die durchaus weiterführende Nachforschungen verdienen würde, erhält man, wenn man die Urteile in den Fällen betrachtet, in denen BernburgerInnen involviert waren. Zwei vom Umfeld prekarisierte endogame Heiraten von einer Bernburgerin mit einem Bernburger wurden vom Gericht erlaubt,3 während drei Einheiraten von auswärtigen Frauen in das Burgerrecht des jeweiligen Berner Mannes verhindert wurden.4 Wo der Besitz der Aristokratie also bewahrt blieb, beziehungsweise nicht von außen zusätzlich belastet werden konnte, erlaubte das Oberchorgericht den Ehevollzug. Wo Einheiraten auswärtiger Frauen drohten, die Ressourcen der burgerlichen Gesellschaften anzugreifen, wurden diese verhindert. Wo die Besitztümer der Aristokraten von den Eheschließungen nicht betroffen waren, weil sie die Gemeinden betrafen, wurden die prekarisierten Eheschließungen vom Oberchorgericht tendenziell eher bewilligt als verhindert.

Dieser rein zahlenmäßige Befund lässt sich auch mit jenen 51 Fällen abstützen, beziehungsweise noch deutlicher illustrieren, in denen Informationen zur Bezahlung der Gerichts- und Verfahrenskosten durch die auftretenden Parteien vorliegen.5 In Anbetracht der prekären Eheschließungen schien im Oberchorgericht ein regelrechtes kostenpolitisches Subventionsprogramm ehewilliger Parteien zu bestehen, das ebenfalls einiges über die Ehepolitik des Gerichts aussagte. Nur genau in einem Fall musste die ehewillige Partei die Kosten des Verfahrens selbst tragen, obwohl ihr die gewünschte Ehe zugebilligt wurde. Viermal mussten Ehewillige die angefallenen Kosten bezahlen, weil sie den Prozess verloren hatten. Das heißt, in etwas weniger als 10% (5) der 51 Fälle mussten die Ehewilligen die unmittelbaren finanziellen Konsequenzen ihres Eigensinns selbst tragen. Die entsprechenden fünf Urteile stammen außerdem aus den beiden zeitlich früheren Samples. Danach wurden die in den hier vorliegenden Samples analysierten Ehewilligen in Zugrechtsklagen von den Richtern nie mehr zur Bezahlung der Kosten angehalten. In jenen 16 Fällen, in denen „die dieses Auftritts halb ergangenen Unkösten […] zwischen den Parteyen wettgeschlagen“, also die Verfahrenskosten sowohl Ehebegehrenden als auch Opponierenden durch das Gericht erlassen wurden, geschah das außerdem in neun Fällen „in favorem matremonii“, also explizit, um die Eheschließung zu begünstigen. Das Gericht und sein Sekretariat (Chorweibel und Chorschreiber) verzichteten auf die Einnahmen der entstandenen Verfahrenskosten, um die mit dem Urteil verbundene Eheschließung zu fördern.6 Daraus geht hervor, dass in den 30 restlichen Fällen immer die Züger die entstandenen Kosten bezahlten, ungeachtet dessen, ob ihnen das Zugrecht verwehrt oder zugestanden wurde. Waren diejenigen, die das Zugrecht forderten, die „untenliegende“ Partei, mussten sie die Verfahrens- und Gerichtskosten, außer in einem Fall, immer übernehmen. Dieses Urteil zur Kostenfolge wurde in 20 Fällen gesprochen. Aber auch wenn eine Ehe im Sinne der Züger erfolgreich abgelehnt wurde, mussten diese, wenn die Kosten vom Gericht nicht erlassen wurden, die „des Streitgeschäfts halb ergangene[n] Unkösten auf Moderation hin“7, d. h. die „bezahlung […] [der] Cammergebühren, so viel nämlich solche […] [das] Secretarium und Officialen ansehen“, begleichen.8 Dieses obergerichtliche Gewohnheitsrecht kam im Verlauf des Untersuchungszeitraums immer ausgeprägter zum Ausdruck. Es fand explizite Erwähnung im folgenden Quellenzitat aus einem Urteil, in dem der Stadt Thun zwar „das Zugrecht zugesprochen, selbige aber als Zügere nach dem aus weisen Absichten eingeführten Gebrauch um die dieses Matrimonial-Geschäfts halb ergangene Unkösten auf Moderation verfällt seyn [solle]“.9 Diese Praxis kann dahingehend interpretiert werden, dass das Gericht Korporationen, Familien und Verwandten finanzielle Hemmnisse entgegensetzte, um sie tendenziell davon abzuhalten, Eheschließungen zu prekarisieren. Dem Ehehindernis des Zugrechts wurde seinerseits vom Gericht eine finanzielle Hürde aufgestellt. Damit wollte man die Ehegegner – in der Regel die finanzstärkere Partei im Verfahren – zumindest nicht begünstigen, die „arme Gegnerin [oder den armen Gegner] durch Weitläufigkeiten und große Unkosten zu ermüden und [von der Ehe] abzuhalten“.10 Insofern folgten die Obereherichter in den letzten rund 50 Jahren des Ancien Régimes im Umgang mit den Gerichtskosten tendenziell einer ehefördernden bevölkerungspolitischen Einstellung.