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Prekäre Eheschließungen

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2.3.4 Ökonomie

Bisher wurden die lebensalterlichen, körperlich-geistigen und sexuellen Konfigurationen der ehelichen Prekarität, die stets in Kombination mit moralischen und ökonomischen Bedenken aus dem sozialen Nah-raum erzeugt wurden, vorgestellt. In Zweifel gezogen wurden die materiellen Zukunftsaussichten aufgrund des körperlichen Zustands und des befürchteten zügellos gezeugten Nachwuchses – insbesondere der Unterschichten. Daneben stellte die wirtschaftliche Ausgangslage verschiedener Ehewilligen per se einen neuralgischen Punkt dar. In rund einem Viertel der Fälle (16) wurde von Gemeinden und Korporationen das Zugrecht auf der Grundlage des Ehegesetzes von 1743 in der revidierten Chorgerichtssatzung verlangt.1 Die Besteuerung von Gemeinde- oder Korporationsgliedern war dadurch, nach der Minderjährigkeit, das unter dem Ancien Régime am häufigsten gegen die hier untersuchten Eheaspirationen eingewendete Ehehindernis.2 Und auch in Fällen, in denen zwar das Zugrecht nicht explizit auf der Grundlage dieses Artikels eingefordert wurde, stellten die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehewilligen oftmals einen Diskussionspunkt innerhalb der gerichtlichen Verhandlungen dar. Der besagte Gesetzesartikel räumte den Gemeinden und Gesellschaften dasselbe Vetorecht gegen die Ehevorhaben ihrer besteuerten Angehörigen ein wie den Verwandten gegenüber ihren minderjährigen Familienmitgliedern. Wer vor dem 25. Altersjahr Unterstützungsleistungen von einer Gemeinde oder Zunftgesellschaft erhalten hatte, konnte seit 1743, dem dritten Artikel der revidierten Satzung zufolge, bis zur Volljährigkeit von Gemeinde oder Korporation an der Heirat gehindert werden. Wer darüber hinaus Almosen empfing, durfte in Bern ebenfalls von der Ehe ausgeschlossen werden, bis der entsprechende Steuerbetrag im Umfang der Unterstützungsleistungen zurückbezahlt worden war.3 Dieses Gesetz verdeutlicht zwei Aspekte der Eheschließung unter dem Berner Ancien Régime: Erstens stellte es im 18. Jahrhundert in keiner Weise ein natürliches Recht dar, eine Ehe eingehen zu dürfen, sondern es war gewissermaßen eine Gabe der von Gottesgnaden herrschenden Patrizier von Bern. Ähnlich wie man in der katholischen Kirche bei Ehen in zu nahen Verwandtschaftsgraden von der Gnade einer Dispens abhängig war, war man als ehewilliges Paar beim Einspruch gegen die Ehe in Bern im gerichtlichen Aushandlungsprozess tendenziell von der gnädigen Verwaltung der Eheschließung durch die aristokratischen Richter abhängig.4 In der zeitgenössischen Vorstellung entschied das göttlich bestimmte Schicksal – das sich in der zeitgenössischen Auffassung vor allem im wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Erfolg einer Regierung offenbarte – darüber, mit welcher Wohltätigkeit und Milde Berns Obereherichter als Stellvertreter die göttliche Gnade ausüben konnten.5 Zweitens musste diese Gnade auch im reformierten Bern des 18. Jahrhunderts – ganz im Sinne von Max Webers Analyse der auf der Prädestinationslehre fußenden puritanischen Arbeitsethik – permanent durch ökonomische Leistungen versichert werden.6 Demzufolge war die Gnade der Ehe, über welche das Ehegericht nominell nach wie vor im Auftrag Gottes wachte, nicht allen Bernerinnen und Bernern gegönnt. Man musste sich ihrer nicht nur moralisch würdig erweisen. Sie musste auch ökonomisch verdient sein, zumindest wenn sie einem nicht durch geburtsständisches Schicksal qua geerbtem Vermögen und Besitz, und damit quasi direkt und unvermittelt von Gottesgnaden, gegeben war. Ansonsten durfte die Heimatgemeinde oder die Korporation die Ehe verhindern. Das skizzierte ökonomisierte Gnadenverständnis überlagerte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts folglich mit einem sich immer deutlicher abzeichnenden Armutsverständnis, das in zunehmend moralisierender Weise zwischen selbstverschuldeter (‚unwürdiger‘) und unverschuldeter (‚würdiger‘) Armut differenzierte.7 Dadurch konnte Armut als negatives Zeichen des Gnadenstandes und des schlechten moralischen Zustands interpretiert werden. Evident wird so der im Gesetz implizite moralische Zusammenhang zwischen Ökonomie, Gnade und Ehe. Auf diese Art amalgamierten religiöse Heilsökonomie und kommunale respektive korporative Ressourcenwirtschaft vor Gericht in einer moralischen Ökonomie des Heiratens. Moral und Ökonomie fielen tendenziell zusammen, wenn die Gemeinden und Korporationen vor Gericht zu begründen hatten, wer der Eheschließung unwürdig war. Die enge Liaison von Moral und Ökonomie zeigte sich aber auch darin, dass das Gericht untersagte, aus der Ehe „eine Speculation und [ein] Commercium zumachen […], welches einen öffentl[ichen] Aergerniß nach sich ziehe und verursache“, wodurch der Heiligkeit des ehelichen Standes als erste Ordnung Gottes Nachdruck verliehen wurde.8

Die Verquickung zwischen Ökonomie und Gnadeninstitut in Bezug auf die Ehe illustriert deren hybrides Wesen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Bern. Dieses war in den hier untersuchten Fällen prekärer Eheschließungen stets Gegenstand der Verhandlungen zwischen ehewilligen AkteurInnen, opponierenden Parteien und herrschaftlicher Obrigkeit. Die Opponierenden waren dabei darauf bedacht, ihnen unliebsame Ehen vor dem Oberchorgericht für unverdient zu erklären und aufzuzeigen, dass durch die bevorstehende Eheschließung ihre Gemeinde oder Korporation noch stärker belastet würde, als sie das ohnehin schon war.9 Diese steigende Belastung versuchten sie „durch Interposition deß Zugrechtes von sich abzuwenden“.10 Insbesondere die Heimatgemeinden der Männer argumentierten vor Gericht, dass ihre Angehörigen schon vor der Ehe „fast allein von dem Allmosen [ihrer] Gemeind[en] und andrer mildthätiger Personen leb[ten]“.11 Sie legten dar, dass sie den Verlobten „ununterbrochen assistiere[n]“ mussten.12 Sie zeigten auf, dass sie den betreffenden Gemeindeangehörigen seit einer bestimmten Zeit direkt mit „Beysteuer“ oder zumindest dessen Kinder aus vorherigen unehelichen und/oder ehelichen Beziehungen unterstützten.13 Vielfach wurde die Bevormundung des Mannes in einem Zug mit der ökonomischen Unselbständigkeit vor Gericht erwähnt. Dadurch wurde dessen wirtschaftliche Abhängigkeit begründet mit der mangelnden „Vechigkeit […], ohne seines h[och]l[öblichen] Vogts“ Entscheidungen zu treffen.14 Mit diesem Argumentarium wurden das ökonomische Gelingen und die Beständigkeit des vom Ehepaar neu zu gründenden Haushalts aufgrund von mangelnden hausväterlichen und haushälterischen Qualitäten grundlegend in Frage gestellt: Ein Mann, der „sein Leben zu gewinnen außert Standts gesetzt“15 war oder sich nur „kümmerlich alleine durchbringen“16 konnte, bereits vorehelich auf Unterstützung angewiesen war oder, „wann er nicht wäre bevogtet gewesen, seine wenige mittel längsten darauf gegangen wären, und er würcklich inn der äußersten Armuht sich befinden wurde“17, konnte aus Sicht der von Armenlasten bedrohten Gemeinden und Gesellschaften „nicht im Stand [sein], ein Weib noch weniger allfällige Kinder zu erhalten“.18 Ergo hatte er sich in der Logik der Opponierenden die Gnade der Ehe eben nicht verdient.

In vielen Fällen, in denen die Armut der Ehewilligen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht wurde, moralisierten die Opponierenden diese außerdem. Daran lässt sich zeigen, dass sie nicht nur Vertreter von lokalen und familiären moralischen Ökonomien waren, sondern sie selbst in ihren Eheeinsprachen gegenüber ihren Angehörigen die Moral zunehmend ökonomisierten. Mittellose Frauen wurden der „Unzucht und Trunkenheit“19 bezichtigt. Ihnen wurde „ausgelassene Aufführung“20 nachgesagt. Den Opponierenden zufolge handelte es sich um „übel berüchtigte Weibspersohnen [von zweydeutigem Ruff]“.21 Mit diesen diskreditierenden Darstellungen wurden die negativen Erwartungen, die von diesen Partnerschaften ausgingen, topisch untermauert.22 Aber nicht nur die materielle Armut der Frauen dieser angestrebten Eheverbindungen wurden wiederholt mit schlechtem Leumund und Trinkerei in Verbindung gebracht. Auch der mittellose Mann wurde von den Gemeinden und Korporationen in den Verhandlungen als „schlechter Kerl und Erz-Säufer“23 vorgestellt oder als „ein so liederliches Lebewesen“24 präsentiert.25 Armut, „schlechte Denkungsart“26 und moralische Defizite gingen in der Argumentationslogik der Opponierenden vor Gericht unabhängig vom Geschlecht in vielen Fällen Hand in Hand. Die einsprechenden Parteien deuteten die Kombination von Armut und Sittenlosigkeit als „leidige Vorbedeutung des etwenigen Guten, so aus einer solchen Ehe zu verhoffen wäre“.27 Dagegen wurde das ‚Gute‘ in ebenso unentwirrbarer Verbindung von Ökonomie und Moral erachtet: Die gute Moral drückte sich in ökonomischem Erfolg aus, während die Armut zum Ausdruck schlechter Sitten wurde. Aus einer Haltung der moralischen Ökonomie heraus wurde in Anbetracht der zu verhindernden Eheschließungen vor dem Berner Oberchorgericht die Moral ökonomisiert.

Dass vor allem die Abgeordneten der Heimatorte und Gesellschaften der Männer Einsprachen gegen ökonomisch prekäre Ehevorhaben erhoben, hatte einen einfachen Grund: Im Fall der Einheirat einer Frau mussten jeweils sie aufgrund des herrschenden Gesetzes mit ihrem Gut auch für diese und allfällige Kinder aufkommen, wenn die Mittel des Ehepaars zur standesgemäßen Haushaltsführung und Versorgung der Familie nicht ausreichten. Deswegen stellten die Ehrbarkeiten vor allem die Armut des Mannes vor Gericht besonders dramatisch dar, zum Beispiel „so groß[,] daß seinem eigenen Geständtnuß nach er nicht einmahl im Stand gewesen, seiner verstorbenen Frauwen einen Todten-Baum machen und selbige ehrlich begraben zu laßen, sonderen die gemeind den dißörthigen costen haben müßen“.28 In diesem Beispiel von Christen Kneubühler von Biglen kam 1746 der Zusammenhang zwischen Ehe als Gnadeninstitution, die man sich zu verdienen hatte, und ökonomischen Verdiensten sowie materiellem Besitz sehr plastisch zum Ausdruck. In der zeitgenössischen kommunalen Auffassung erschien es unvorstellbar, dass jemand, der seiner verstorbenen ersten Frau selbst kein ordentliches Begräbnis verschaffen konnte – sich also gewissermaßen materiell an ihrem Heil versündigt hatte –, die göttliche Gnade verdient haben sollte, ein zweites Mal heiraten zu dürfen. Im Fall von Jérémie Margot von St. Croix und Jean Marie Martin von Lausanne, die 1775 bereits miteinander im Konkubinat gelebt hatten, war von „äußester Armuth und daher rührender gänzlicher Unvermöglichkeit“ die Rede. Deshalb wurde das Paar vom Gericht sogar „der persöhnlichen Erscheinung dispensirt“, weil die Kosten für die Reise zu hoch gewesen wären.29 Neben „der großen Armuth“ betonten die Korporationen auch das Ausmaß der „fast gänzlichen Verdienstlosigkeit“, weshalb sich die „Umstände […] nicht im geringsten vebesser[n]“ konnten.30

 

Auch das anhaltende oder wiederholte ökonomische Scheitern der ehelich prekarisierten Menschen wurde von den Vertretern der Gemeinden und Gesellschaften im Aushandlungsprozess thematisiert. So hob zum Beispiel die Gesellschaft der Schuhmacher in Bern hervor, dass ihr Angehöriger Samuel Gruner, der Anna Maria Magdalena Schäublin von Waldenburg im Kanton Basel zu heiraten wünschte, von ihnen „auferzogen, verpflegt und zum Schneiderhandwerk verdingt worden“ war.31 Doch dessen gewerbliche Tätigkeit „[wollte] nicht gut vonstatten gehen“, also erhielt er eine Pfründe in ihrem Spital.32 Die schlechte Ausübung dieser Stelle führte jedoch dazu, dass er von ihr zusätzlich als „Unterpörtner“ angestellt werden musste. Als auch diese Position seine wirtschaftliche Lage nicht zu verbessern vermochte, trug man ihm laut Aussage der Gesellschaft das Amt als „Bättelvogt“ an.33 Dieses erlaubte es ihm, ein erstes Mal zu heiraten. Doch das Paar befand sich „in ununterbrochenem Zwist und Uneinigkeit“ und schied sich nach kurzer Zeit. Eine neuerliche Ehe wollte die burgerliche Zunft ihrem Mitglied nicht mehr gestatten.34 Die wiederholten ökonomischen Schwierigkeiten, die sich in den Augen der Gesellschaft gleichzeitig im Scheitern der ersten Ehe manifestierten, machten die eheliche Unwürdigkeit in ihren Augen offensichtlich.

Die Ehewilligen elaborierten unterschiedliche Taktiken, um den Vorwurf, beziehungsweise den Verdacht, der selbstverschuldeten und damit der ‚unwürdigen‘ Armut abzuwenden und die begehrte eheliche Verbindung als wirtschaftlich gerechtfertigt darzustellen. Dazu mussten die prekarisierten Eheanwärter den Vorwurf der Mittellosigkeit als unberechtigt, unbegründet oder schlicht falsch entkräften. Das konnte dadurch geschehen, dass sie vor Gericht ihre Besitzverhältnisse nachwiesen und damit den Beweis erbrachten, dass sie nicht unbemittelt waren,35 „noch vergeltstaget, oder von denen schulden getreiben, sonderen im gegentheil ehrliche mittel im land [besaßen]“ und die entsprechende „Gemeind also ihre Oppositiones allzuweit treibet“.36 Sie forderten aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation Handlungsautonomie ein, bestätigten aber damit ihrerseits geradezu die ständisch-patriarchale Logik der Ehe als Gnadengabe und Privileg für ausreichende Verdienste.

In zahlreichen Fällen wurde darum gestritten, in welcher Form und für wen die von den Gemeinden und Gesellschaften erhaltenen Almosen bezogen wurden. Denn das Gesetz differenzierte zumindest im Ancien Régime zwischen sogenannter ‚direkter‘ und ‚indirekter‘ Besteuerung: Wer Almosen direkt bezog, erhielt diese für seinen eigenen Unterhalt und war damit über die Volljährigkeit hinaus nicht mehr berechtigt, ohne die Zustimmung der Gemeinde oder Gesellschaft zu heiraten. Wer indirekt Unterstützungsleistungen empfing, bekam diese für seine ehelichen oder unehelichen Kinder. Väter erhielten von der Gemeinschaft Gelder für die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder, weil sie für diese nicht selbst aufkommen konnten. Sie waren bis 1798 juristisch betrachtet durchaus berechtigt zu heiraten. Folglich war es für den Erfolg der ehewilligen Männer entscheidend, ob sie in der Einschätzung der Obereherichter von ihrer Gemeinde Almosen für sich oder ihre Kinder bezogen oder in der Vergangenheit bezogen hatten. Die Gemeindevertreter waren bemüht, die schlechte ökonomische Situation ganz allgemein als ausweglos zu schildern und den Unterschied zwischen direkten und indirekten Besteuerungen zu nivellieren. Sie argumentierten, der Mann „möge solche auch verwenden wo er wolle“37, direkt und indirekt empfangene Almosen seien „eben eins“38. Dagegen wollten die Ehewilligen aufzeigen, dass es sich beim empfangenen Geld in ihrem Fall höchstens um indirekte Almosen oder sogar einen ihnen zustehenden Verdienst für Leistungen gegenüber der Gemeinde handelte. Vor Gericht wurde zwischen Johann Rudolf Aeschlimann und dem Magistrat von Burgdorf zum Beispiel darüber verhandelt, ob die „freye und unentgeltliche Wohnung“ im burgerlichen Spital als Almosen an den Ehewilligen betrachtet werden musste oder als Recht von jedem Angehörigen der Burgergemeinde angesehen werden durfte, das die Ehefähigkeit nicht tangieren konnte.39 Klaus Leist von Oberbipp, der Barbara Klaus von Walliswil ehelichen wollte, diskutierte mit seiner Gemeinde vor Gericht darüber, ob die Zahlungen der Gemeinde, die sie an einen ihrer Angehörigen für dessen Tätigkeit entrichteten, als Almosen anzusehen waren oder ob sie „eine Besoldung dieses Diensts“ darstellten.40 In anderen Fällen zeigten die Männer einfach auf, dass die bezogenen Gelder ihre Bestimmung im Unterhalt, in der Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder fanden und keineswegs zu ihrem eigenen Lebensunterhalt dienten41 oder sie sich aktuell „weder in dem einten noch anderen Casu“ befanden.42

Gleichzeitig versuchten einige von ihnen, den Oberchorrichtern glaubhaft zu machen, dass sich ihre Ehen nicht nur für sie, sondern auch aus allgemeiner ökonomischer Sicht und ressourcenpolitischen Überlegungen lohnen würden. Durch die Ehefrau, interpretiert als „Gehülfin“ in der Hauswirtschaft, würde sich, so das Argument dieser Subalternen, die ökonomische Lage des Haushalts automatisch verbessern und die Belastung für die Armenkassen abnehmen.43 In diesem Zusammenhang findet sich auch die Argumentation des Witwers Christian Summi von Saanen, der 1790 erneut zu heiraten wünschte. Er erklärte den Richtern, dass er „erst seith dem Tod [seiner] ersteren Frauen […] blos eine Zulag zu der Verpflegung seiner Kinder, also kein directes ihme gereichtes Allmosen“ empfing.44 Damit verfolgte er eine doppelte Taktik: Einerseits argumentierte er, dass die Unterstützung, die er bezogen hatte, gar nicht für ihn, sondern für seine Kinder war. Andererseits plädierte er implizit dafür, dass er gerade zur Verbesserung seiner wirtschaftlichen Situation auf eine Ehefrau und deren Unterstützung angewiesen war. Dadurch wäre er dann wieder in der Lage, seine Kinder selbst und ohne Zuschüsse der Gemeinde zu versorgen. Mit dieser Argumentation stellte er folglich seiner Gemeinde im ehegerichtlichen Aushandlungsprozess in Aussicht, dass sich durch die Eheschließung mit der heimatlosen Ursula George auch ihre wirtschaftliche Situation verbessern würde.45 Dieselbe Taktik wandte auch der verwitwete Müllermeister Jakob Steiger aus Bern an, der bereits weiter oben Erwähnung fand und im Fall der Ehebewilligung ebenfalls in Aussicht stellte, seine Kinder wieder selbst zu versorgen. Er verpflichtete sich während seines Verhörs deshalb, „nach vollzogener Heyrath, und dadurch erlangten Etablissement, seine Kinder erster Ehe zu sich [zu] nemmen, und der Ehrenden Gesellschaft mit Ihrer ferneren Unterhaltung keineswegs beschwerlich [zu] fallen“.46

Immer wieder fungierte die Eheschließung in der taktischen Argumentation der ehewilligen AkteurInnen explizit als notwendige Versorgungsinstitution und implizit als Brücke zwischen aktueller wirtschaftlicher Lage und zukünftigem Glück. Das dokumentiert auch der Fall des verwitweten Schneiders Samuel Dällenbach von Rüderswil, der 1771 vor Gericht auf der angefochtenen Heirat mit seiner Verlobten Anna Fäß von Balm beharrte, weil er mit derselben „sein Glük zu machen hofte, zumahlen dieselbe mit der Wäscherei des Leinwandtes sich abgebe, und darmit einen guten Verdienst habe; als dessen er während der Zeit, da sie die Verlobten miteinander bey der Papiermühle und im Altenberg gewohnt und gemeinsamlich hausgehalten, bestens inne worden“.47 In diesen Fällen wurde das Gefühl des Glücks explizit und unmissverständlich mit dem wirtschaftlichen Gelingen des Haushalts in Verbindung gebracht und unauflöslich miteinander verwoben, worauf im anschließenden Unterkapitel noch einzugehen sein wird. Positiv besetzte Emotionen waren unentwirrbar mit dem wirtschaftlichen Zustand verbunden.

Die Bedeutung der Ehe für die Hauswirtschaft und als ökonomische Ressource der Ehewilligen lässt sich an einem abschließenden Fallbeispiel besonders gut illustrieren. Dieses soll gleichzeitig den nächsten Abschnitt, der sich den Emotionen als Ursprung der Prekarisierung und Ressource ehewilliger AkteurInnen widmen wird, vorbereiten: 1744 traten Hans Mäßerli von Rüeggisberg und Margreth Stämpfli von Bremgarten in der Absicht zu heiraten vor das Oberchorgericht. Die beiden standen bereits ein Jahr früher vor denselben Richtern, allerdings unter gänzlich verschiedenen Vorzeichen. Damals forderte sowohl Stämpfli als auch ihre Konkurrentin Maria Kränger von Rüeggisberg die Ehe gegenüber Mäßerli ein. Sie waren beide schwanger von ihm. In diesem Prozess erhielt Kränger den gerichtlichen Vorzug im Ringen um den begehrten Mann. Er musste jedoch auch die Vaterschaft für das unehelich gezeugte Kind mit Stämpfli anerkennen. Kränger war allerdings im ersten Ehejahr unerwartet verstorben. Das veranlasste Mäßerli, eine Supplikation an das Oberchorgericht zu richten. Darin behauptete er nun, dass er Stämpfli die Ehe, wie seiner verstorbenen Ehefrau, versprochen hatte, obwohl er vor einem Jahr vor Gericht genau diesen Verdacht erfolgreich bestritten hatte. Nun führte er an, dass er die Eheversprechung damals lediglich geleugnet hatte, weil er mit der Kränger „eine ällter- und beßere Eheversprechung“ gehabt hatte als mit der Stämpfli.48 Offensichtlich hatte er für sich den ‚Wert‘ beider Frauen abgewogen und entschied sich im ersten Schritt für die scheinbar bessere Partie. Die Quelle offenbart nicht, was zur jeweiligen Einschätzung der beiden Frauen geführt hatte. Doch der Tod der für ihn bevorzugten Wahl stellte ihn vor das Problem, nun gar keine Gefährtin, aber zwei Kinder zu haben, für deren Versorgung und Erziehung er verantwortlich war. Daneben musste er für seinen eigenen Lebensunterhalt aufkommen. Also wandte er sich ganz im Sinne der Justiznutzung nun selbst eigensinnig an das Gericht. Dadurch wollte er sich selbst Hilfe verschaffen und versuchte, die Ehe mit der zuvor zurückgewiesenen Frau durchzusetzen.49 Auf der Seite der Frau schien es in diesem konkreten Fall wenig Platz für Sentimentalitäten gegeben zu haben. Stattdessen überwogen auch bei ihr materieller Pragmatismus und ökonomisches Kalkül: Sie trat nun im Einvernehmen mit dem Mann erneut vor das Gericht, um „dißmahlen aber einander zu ehelichen“.50 Der Schluss liegt nahe, dass aus existenzieller Sicht Frauen in dieser Zeit offenbar es bevorzugen konnten, die zweite Wahl zu sein, anstatt gar keinen Partner und keine Ehe als Versorgungsinstitution zu haben. Diese Annahme lässt sich mit der bereits zitierten Studie aus der schwedischen Forschungsgruppe des Projekts Gender and Work untermauern: Es war in der Frühen Neuzeit schwierig, unattraktiv oder je nach Lebenssituation schlicht unerschwinglich und existenzbedrohend, AlleinversorgerIn zu sein. Das wiederum hebt den immensen Stellenwert der Ehe im Leben der frühneuzeitlichen AkteurInnen hervor.51 Daran offenbart sich aber auch, dass bestimmte, wohl vor allem arme, AkteurInnen die Erfüllung der sittlichen Ordnung und die komplette emotionale Übereinstimmung mit dem Partner oder der Partnerin hintanstellen konnten angesichts jener materiellen Aspekte, die das ökonomische Überleben in der Frühen Neuzeit maßgeblich mitbestimmten.52 In anderen Worten konnten sie es emotional eher verkraften, zweite Wahl zu sein, als sie es sich existenziell leisten konnten, von den wirtschaftlich-materiellen Vorzügen und rechtlichen Vorteilen der Ehe ausgeschlossen zu bleiben. Denn der Ledigenstand konnte eine nicht zu unterschätzende und permanente Bedrohung der Existenz sein.53 Gerade im 18. Jahrhundert waren insbesondere ledige Frauen – Witwen und Mägde – von Armut und Obdachlosigkeit bedroht und zählten zu den Bettelgruppen, die auf der Suche nach Arbeit und Unterkunft durchs Land zogen. Und so wirft der „Grenzfall“, wie etwa jener von Mäßerli und Stämpfli, ein klares „Licht auf die Leistung und Bedeutung der Familie“, respektive der Ehe:54 Familie und Ehe formierten eine substanzielle und essenzielle Stütze bei der Bewältigung des Alltags, die viele unbedingt wollten, weil sie quasi unentbehrlich war. Aufgrund der existenziellen Bedeutung mochten von der Prekarität bedrohte AkteurInnen durchaus bereit sein, beziehungsweise waren gezwungen, individuelle emotionale Präferenzen hintanzustellen oder zu ignorieren, um sich vor Gericht dennoch für ihr persönliches Glück, das grundlegend materiell bedingt war, einzusetzen.