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Prekäre Eheschließungen

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2.3.3 Sexualität

Wie stark die Opponierenden im Falle von Minderjährigkeit den Eigensinn der Ehewilligen mit dem Vorwurf der leichtfertigen und unkontrollierten Sexualität angegriffen oder im Alter dem Verdacht aussetzten, einen Zweck der Ehe, die Fortpflanzung, zu verfehlen, wurde in den vorangehenden Ausführungen angesprochen. Doch die einsprechenden Parteien problematisierten die Sexualität nicht nur im Zusammenhang mit dem Lebensalter, indem sie diese als unüberlegt und auf sexuelle Lust statt Fortpflanzung fokussiert wahrnahmen und damit zweckentfremdet darstellten. Vor allem die opponierenden Gemeinden und Korporationen verknüpften sie ganz allgemein mit der moralischen Verfassung der Ehewilligen und der Bevölkerung von Bern. Dabei stigmatisierten die Opponierenden die Sexualität der Armen und Besitzlosen als „zügellos“ und stilisierten sie somit zur unkontrollierbaren wirtschaftlichen Bedrohung für das Gemeinwohl.1 31 von den für das Ancien Régime analysierten 61 Fällen hatten eine in den Rekursurkunden explizierte außereheliche oder aber im Fall von geschiedenen oder verwitweten Personen auch eheliche sexuelle Vorgeschichte. Sei es vorehelicher Beischlaf ohne weitere Konsequenzen, Brautschwangerschaft oder die uneheliche oder eheliche Geburt von Nachkommen vor der begehrten Ehe oder im Ehebruch – in mehr als der Hälfte der Fälle wurde die voreheliche sexuelle Beziehung des Paares oder einer Seite vor dem Gericht thematisiert und mitverhandelt.

Besonders für die Gemeinden und Korporationen gingen von der Sexualität ihrer unbemittelten Angehörigen „die allergefährlichsten Consequenzen“ aus,2 weil sie im Fall der Verarmung des Paares für die Versorgung der Familie aufkommen mussten. „[D]as ohnehin mit Bastarten angefüllte Land […] [könnte] mit einer Menge […] unglückseligen Früchten belästig[t] werden“ – so die Befürchtung der einsprechenden Parteien, wenn den Besitzlosen das Recht zu heiraten gegeben würde.3 Diese Entwicklung musste mit Hilfe der Gerichte aufgehalten beziehungsweise eingedämmt werden. Die Sexualität der ehebegehrenden AkteurInnen mit den ökonomischen Sorgen der Gemeinschaften verschränkend, wurden die hier untersuchten Paare angeklagt, „in ledigem Stand mit einander Hurey getriben“ zu haben.4 Dadurch vermengten Gemeinden und Korporationen in ihrer Argumentation ökonomische Bedenken unablässig und unzertrennlich mit sexuellen Ordnungs- und Reinheitsvorstellungen. Tendenziell wurde dadurch Unsittlichkeit und Unreinheit nicht nur im Gesetz, sondern auch im Aushandlungsprozess vor Gericht zu einem Phänomen der unteren sozialen Schichten erklärt. Dieses Phänomen ist im Bezugsrahmen einer allgemeinen „‚Moralisierung‘ der armen Klasse“ im Zuge der bereits konstatierten Ökonomisierung zu deuten, die vor dem Ehegericht sehr stark über die Sexualität abgehandelt wurde.5 Dadurch wurde die Armut von den bernischen Opponierenden am Ausgang des 18. Jahrhunderts mit zunehmender Deutlichkeit zum Zeichen sittlicher Verdorbenheit geformt.6 In dieser Tendenz näherten sich ‚Ehrvermögen‘ und materieller Besitz an und gingen in zunehmendem Maß Hand in Hand.7 Die einsprechenden Gemeinden, Korporationen und Familien insbesondere der verlobten Männer prekarisierten die Eheaspirationen wiederholt, indem sie die involvierten Frauen als „unzüchtige Dirnen“ stigmatisierten und sie mit sexuellen „Ausschweifungen“ in Verbindung brachten.8 Damit griffen sie die sexuelle Integrität dieser Frauen und folglich die zeitgenössische weibliche Ehre an und stellten sie als der Ehe unwürdig dar.9 Opponierende brachten die Eheversprechen vor Gericht immer wieder mit eindeutig sexuell konnotierten Verlockungen der Frauen in Zusammenhang. In dieser Argumentationslogik war die sexuelle Verführung das Instrument unbemittelter Frauen, um ihre selbstbezogenen materiellen Interessen ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl zu befriedigen. Aber auch Männer wurden von den Einsprechern vor dem Oberchorgericht „der Geilheit und Unkeuschheit halber sehr schlechten Leumbdens zu seyn beschriben“.10 Sie standen ebenso im Verdacht, „dass nicht sie ihne, wohl aber er sie verführt haben müeße“.11 Während Frauen die Männer in der Logik der Opponierenden mit Sex zum Eheversprechen lockten, verführten die Männer „durch feyerliche Versprechungen die Weibsbilder zu Gestatung der letzten Gunst“.12 Insofern war die Verführung im Kontext prekärer Eheschließugen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Unterschied zum 19. Jahrhundert noch kein eindeutig weiblich konnotiertes Laster, sondern konnte, je nach Konfiguration des Falls, jeweils beiden Geschlechtern angelastet werden. Für den schlechten sittlichen Zustand der Gesellschaft wurden in den Rekursurkunden des bernischen Oberchorgerichts vor 1800 tendenziell Männer und Frauen verantwortlich gemacht – auch wenn die sexuelle Anziehung stets von der Frau ausging und der Mann mit dem Privileg der Ehe locken konnte.13

Den Gemeinden, Verwandten und Gesellschaften ging es vor den Richtern vordergründig häufig um die sittlich-sexuelle Disziplinierung ihrer Angehörigen, die Reinheit der Ehe und deswegen um das Verbot der begehrten Eheverbindungen für die unzüchtigen AkteurInnen. In Fällen mit Beteiligung von jungen Menschen, die das Alter der Ehefähigkeit noch nicht erreicht hatten, wurden die Einsprüche als vormundschaftliches „zu Hülf kommen“14 und als „Schuzwehre gegen die Übernemungen und Verführungen“15 vorgestellt. Dies geschah auch, wenn die Ehewilligen auf ihrem Eigensinn beharrten und dieser entmündigenden Darstellung widersprachen, ihren Ehewunsch gezielt wiederholten und hartnäckig einforderten. Insofern beharrten die opponierenden Parteien auf der patriarchalen Autorität, der es um die Aufrechterhaltung der Familienökonomie durch die Kontrolle der sozioökonomischen Transaktionen ging. Diese sahen sie von der verfehlten Moral ihrer Angehörigen bedroht. Hierin entsprechen die untersuchten Fälle dem Befund zu Genf im 18. Jahrhundert von Liliane Mottu-Weber. Sie hat zu den Delikten der Unzucht und des vorehelichen Beischlafs angemerkt, dass die Verteidigung der guten Sitten und der gesellschaftlichen Reinheit in der Folge der nachreformatorischen Entwicklungen ihre ganze Aktualität behalten, jedoch den bloßen Horizont des jenseitigen Heils längst verlassen hatten. Über die Moral wurde nicht mehr primär der Zugang zum Heil, sondern vor allem hausväterliche Autorität, Ehre und die Bewahrung des Familien- und Gemeindeguts verhandelt.16

Allerdings war die Sexualität im Spannungsfeld zwischen rigidem Ehegesetz und populationistischer Aufbruchsstimmung im ausgehenden 18. Jahrhundert eine arbiträre Ressource. Sie konnte begehrte Eheschließungen nicht nur im Sinne des patriarchalen Gesetzes prekarisieren, sondern auch von den Eheaspiranten im Geist des Populationismus als taktisches Mittel zur Realisierung einer Eheverbindung eingesetzt werden. Der Beischlaf konnte den Ehebegehren und deren Ernsthaftigkeit geradezu physischen Nachdruck verleihen. Durch den Einsatz des illegitimen Geschlechtsverkehrs konnten die verschiedenen Gemeinschaften von den ehewilligen AkteurInnen vor vollendete voreheliche Tatsachen gestellt werden. Diese Tatsachen galt es in der Folge ohnehin ökonomisch zu bewältigen – ob innerhalb einer Ehe oder durch die kommunale Fürsorge. Mit der Zeugung verbanden sich also Fragen, wie und von wem der bereits geborene oder zu erwartende Nachwuchs versorgt und erzogen werden sollte. Der Unterhalt dieser Kinder musste Alleinversorgenden zwangsläufig schwerer fallen beziehungsweise unmöglich sein. Das war allen an der Verhandlung beteiligten Parteien bewusst, wodurch „ein gewisser Druck“ auf das Gericht entstand.17 Denn das Risiko, wirtschaftlich zu scheitern, steigerte sich für einen Haushalt drastisch, der von einer alleinversorgenden Person geführt wurde.18 Dieser Umstand stellte die Richter vor das Dilemma, ob man durch die Bewilligung prekärer Ehen die Chancen für das Bestehen eines Haushalts beziehungsweise für die Versorgung der Kinder erhöhen und Ehen in bevölkerungspolitischer Logik fördern oder im Sinne des patriarchalen Sittengesetzes Nachahmer in disziplinarischer Weise abschrecken sollte. An dieser Schnittstelle matrimonialer Integration und Exklusion konkurrierten in den Gerichten sozio-ökonomische und sexualmoralische Ordnungsansprüche und Erwägungen in subtiler Weise.19 Daran wird wiederum die Multinormativität des Aushandlungsprozesses im vormodernen Berner Oberehegericht sichtbar.20

Ein Beispiel, bei dem der Versuch unternommen wurde, die Sexualität als taktisches Druckmittel einzusetzen, um zur gewünschten Eheschließung zu kommen, wurde bereits bei der begrifflichen Erfassung des Eigensinns erwähnt.21 Es handelt sich um den Fall von Françoise Catt, die auf das Eheversprechen von Charles Isaac Oboussier hin schwanger wurde, obwohl sich das Paar laut den Opponierenden im Gericht „zu ehelichen […] niemal einiche Hofnung machen sollen“ hätte.22 Catt und Oboussier gehörten zu einer Gruppe von Nonkonformisten, die mittels vorehelicher Sexualität und Brautschwangerschaften absichtlich gegen das herrschende patriarchale Ehegesetz verstießen, gerade weil sie dieses überwinden wollten.23 Der Sittenverstoß konnte als alltagspolitisches Instrument herhalten, um ein eigensinniges Ehebegehren zu realisieren, weil es mit der Brautschwangerschaft nicht mehr nur um die Ehe, sondern auch „umb die Legitimation deß […] erzeugten“ Kindes ging.24 Sandro Guzzi-Heeb hat mit seinen historischen Analysen zur Sexualität in einer Talschaft des Kantons Wallis, im Val de Bagnes, auf das subversive politische Potential der vorehelichen Sexualität hingewiesen. Dabei thematisiert er die Macht der sexuellen Lust von AkteurInnen auf lokaler Ebene. Diese versuchte man zwar seitens der Familien und Gemeinden durch Aufsicht und Kontrolle zu kanalisieren, weil sie stets eine Bedrohung für ihre strategischen Interessen darstellte. Doch die AkteurInnen bahnten sich immer wieder Wege der nonkonformistischen Aneignung der Sexualität. Dem Sexualverhalten kam somit, historisch betrachtet, ein entscheidendes transformatorisches Potential zu. Dadurch wurden die Familien, Gemeinden und Körperschaften in ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen unablässig herausgefordert.25 In dieselbe Richtung argumentieren auch Aline Johner und Chiara Mascitti, die anhand von zwei Gemeinden – eine im Kanton Wallis, eine in der Waadt – den Zusammenhang zwischen politischer Einstellung und sexuellem Verhalten im 18. und 19. Jahrhundert untersucht haben.26 Die Illegitimität, deren beabsichtigtes Resultat die Brautschwangerschaft sein konnte, rückt in dieser geschichtswissenschaftlichen Perspektive in die Nähe jener „kulturellen Randformen der Sexualität“, deren „Lüste[…] offenbar die ihnen auferlegte Regulierung überschreiten“ konnten, um damit eigensinnige Interessen durchzusetzen.27 Damit widersetzten sich die entsprechenden AkteurInnen dem traditionalen Sexual-Kodex der nach wie vor agrarisch und patriarchal geprägten Gemeinschafts- und Familienstrukturen. Diese AkteurInnen stellten somit den personifizierten Ausdruck jener zunehmenden Autoritätseinbuße der Hausväter und Familien in Bezug auf das Sexualverhalten ihrer Angehörigen dar, die in der Entwicklung vom 17. zum 18. Jahrhundert anhand der wachsenden Illegitimenrate festgestellt werden konnte.28 Sie markierten somit jene „sexuelle Revolution“, die mit einem allgemeinen Wandel in der vorehelichen Moral im 18. Jahrhundert einherging.29

 

Dass Eheaspiranten illegitim gezeugte Kinder und die öffentliche Bekanntheit von Sexualbeziehungen als politisches Druckmittel einsetzten, um die prekäre Eheaspiration unter Beihilfe der Obereherichter in eine legitime Eheschließung zu überführen, machen einige Quellen sogar sprachlich explizit. So bezeugte Daniel Rötlisperger von Langnau, den sein Vater von der Ehe abzuhalten versuchte, 1762 zuerst vor dem Pfarrer und dann wiederholt vor dem Gericht:

„Er habe das Mensch zum öfteren beschlafen, ihre die Ehe aufrecht und redlich versprochen; er erkenne sich Vatter zu seyn deß Kinds, das da solle gebohren werden, und er wolle einmal dieses Mensch absolut haben, wann gleich der Vatter es nicht leiden wurde […].“30

Dabei räumten die Obereherichter der Sexualität der ehebegehrenden AkteurInnen durchaus Handlungsmacht ein. Das war insbesondere der Fall, wenn der sexuelle Kontakt zwischen den Ehewilligen wiederholt und gewissermaßen allgemein bekannt stattfand. Das exemplifiziert das Ehebegehren zwischen Madle Burri und Peter Bringold.31 Zwar endete die Verhandlung mit einem für das Paar negativen Gerichtsurteil. Dennoch verdeutlichte die in ihrer Mehrstimmigkeit ausdifferenzierte Rekursurkunde die Haltung einiger Richter gegenüber vorehelichen Schwangerschaften. Obwohl das Gericht auf der Grundlage der Ehegerichtsordnung Christen Burri das Zugrecht gegen seine minderjährige Tochter zugestand, hatten sie vorher „alles Mögliche“ versucht, um „den Vatter zu persuadieren, seine Einwilligung zu dieser Ehe zu ertheilen“.32 Und obwohl der Vater in diesem Fall erfolgreich „auff seinen oppositionen darwieder verharret“ hatte, wurde er am Ende für die Verfahrenskosten belangt, weil ihm die „[Frequentation] bekannt gewesen“ war.33

Welche Position das aristokratisch besetzte Berner Oberchorgericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwischen Individuum und gemeinschaftlichen Interessen tendenziell einnahm, wird im nächsten Kapitel zu den herrschenden Gerichtslogiken ausführlich behandelt. Am hier angeführten Exempel wird allerdings bereits offensichtlich, dass familiäre, korporative und lokale Interessen, die wohl noch stark „bäuerlich-kommunalen Normen“ gehorchten und patriarchalen Vorstellungen folgten,34 von den bevölkerungspolitischen Intentionen und somit von den machtpolitischen Ausrichtungen der Eherichter stark abweichen konnten. Denn das Gericht unterstützte und stärkte diesbezüglich zum Teil Positionen der prekarisierten Individuen im Widerspruch zum patriarchalen Gesetz. Von den 31 Fällen der gesamthaft 61, in denen die gelebte Sexualität der ehewilligen AkteurInnen von der Opposition negativ thematisiert und zumindest als Teil des Ehehindernisses dargestellt wurde, endeten 17 mit einem Urteil, das die Eheschließung zuließ. In weniger als der Hälfte der Fälle (14) entsprachen die Richter den oppositionellen Parteien. Insofern konnte sich das Oberchorgericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter diesem Gesichtspunkt durchaus als Verstärker eines Verfalls bäuerlich-kommunaler Werte zeigen und mit seinen Urteilen den familiären und kommunalen Interessen der ländlichen Kollektivgesellschaft zuwiderlaufen.35 Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen von Eva Sutter für den Kanton Zürich in den ersten rund 60 Jahren des 19. Jahrhunderts, die dort ebenfalls einen „unterschiedliche[n] Bewertungsstandard von Ehegericht und Gemeindevorsteherschaft“ beobachtet hat.36 Parallel dazu hat sie aufzeigen können, dass es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bezug auf die Eheschließung einen permanenten Konflikt zwischen einer prinzipiellen und konservativen Abwehrhaltung der Gemeinden und der eher toleranten und freiheitlichen Haltung übergeordneter kantonaler Behörden gab.37 In diesem Spannungsfeld ist auch ein einstimmiger Beschluss des Oberchorgerichts für den Ehevollzug – in einem Fall vorehelicher Schwangerschaft der beiden Geschiedenen Anna Rüesch und Hans Wäber 1772 – zu interpretieren. Dabei sprachen sich alle Oberchorrichter eindeutig gegen die Interessen der Gemeinde aus. Sie tadelten nicht das gesetzeswidrige Sexualverhalten ihrer Untertanen, sondern kritisierten die „Willkühr“ der einsprechenden Gemeinde, die aus deren kommunaler Ressourcenbewirtschaftung resultierte. Diese Willkür würde es „minder bemittelten Unterthanen“ zunehmend schwierig machen, überhaupt noch zu einer Ehe zu kommen. Das hatte in den Augen der Richter „äußerst schädliche Folgen“. Denn diese „Macht“ der Gemeinden „[würde sich] zu gröstem Nachtheil der Copulation empfinden lassen“.38 Insbesondere der kommunale Machtanspruch schien die bernische Obrigkeit in diesem Fall zu stören, die ihrerseits zunehmend selbstbewusst Macht zu monopolisieren versuchte. Die Einhaltung der göttlichen Reinheitsgebote und der Schutz kommunaler Ressourcen schien unter den Richtern des höchsten Berner Ehegerichts nicht mehr erste Priorität zu besitzen, wenn kritisiert wurde, dass sich deren Engführung negativ auf die Fortpflanzung auswirken würde. So hielt es die Mehrheit im Gericht sogar im Eheschließungsfall von Elsbeth Mutti und Rudolf Schmid für „kein[en] Grund gegen die Vollziehung dieser Ehe […], dass die […] [V]erlobte […] eine ausschweifende Dirne gewesen“ war, obwohl die Gemeinde genau dieses moralische Argument gegen die Verkündigung vorgebracht hatte.39

In Anbetracht dieser Feststellungen fällt auf, dass in der Vergangenheit viele praxeologische historische Studien die Sexualität auf kommunaler Ebene thematisiert, dagegen aber die Haltung der übergeordneten Zentralgewalt vernachlässigt haben. Auf ihrer Untersuchungsebene sind sie verständlicherweise zum Ergebnis gekommen, dass die Ehepolitik im 18. Jahrhundert scheiterte. Denn sie haben beinahe ausschließlich die patriarchalen Machtansprüche und ökonomischen Interessen auf kommunaler Ebene in Betracht gezogen. Dabei ließen sie jedoch die bevölkerungspolitischen Machtinteressen, die im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht nur für die Berner Obrigkeit ins Zentrum ihrer Überlegungen rückten, außer Acht. Einen deutlichen qualitativen Beleg für diesen Befund erhält man anhand des folgenden Ausspruchs des Oberchorgerichts. Die Richter ärgerten sich darüber, dass im Fall von Elsbeth Gerber von Lengnau und Hans Stettler der Vater des Bräutigams – wohlgemerkt Chorweibel von Eggiwil – nach konsensual erfolgter Eheversprechung bloß wegen der vorehelichen Schwangerschaft der Braut, also scheinbar aus Gründen der Ehre und der Moral, das Zugrecht ergriff:

„Mithin dieses […], wo der väterliche Zug, rebus sic stantibus [wegen sich ändernden Umständen, hier die Schwangerschaft der Braut], Platz finden sollte, von bösem Exempel und höchst bedenklichen Folgen, sonderlich unter Landleuten, seyn müßte […].“40

Um die divergierenden Agenden von korporativen, kommunalen und familiären Opponierenden und übergeordnetem Ehegericht auszunutzen, suggerierten die aus kommunaler Sicht eigenwilligen und sexuell aktiven Eheaspiranten vor Gericht wiederholt die allgemeine Bekanntheit und die öffentliche sowie elterliche Kenntnis ihrer „langwierige[n]“ und wiederholten sexuellen „Frequentation“.41 So wollten sie die vom Widerstand als „hinterrücks errichtete Eheversprechung“ dargestellte Verlobung taktisch in die Öffentlichkeit spedieren und dadurch als rechtmäßig errichtet rechtfertigen.42 Dadurch hätten Gemeinden, Verwandte und Korporationen „merken und vermuthen müßen, es seye mehr als vertraulicher Umgang zwischen“ den Brautleuten.43 Die wahrscheinliche Mitwisserschaft, so die eigenwilligen AkteurInnen, sollte die widerständige Partei verdächtig machen, „stillschweigend [ihre] Einwilligung“ gegeben zu haben.44 Susanna Bruni von Amsoldingen gab vor Gericht zum Beispiel an, dass sie der Vater des Bräutigams

„noch über drey Monat lang, gleichsam als sein Kind in seiner Wohnung und an seinem Tisch gehabt, und weder Mißfallen an dem vertraulichen Umgang und ihm nicht unbekant seyn könnenden Leiblicher Gemeinschaft zwischen [ihr] der Klägerin und seinem Sohn gezeiget, noch einiche Verfügungen solchen zu unterbrechen vorgekehrt“

hätte.45 Und auch Männer behaupteten, die jeweils begehrte Frau wiederholt und sowohl zu Tages- als auch Nachtzeiten besucht zu haben. Aus diesen Gründen wäre es nicht verwunderlich, „daß sie die Klägerin ihme als ihrem beglaubt zu könftigen Ehemann die Rechte eines solchen gestattet, und sich von ihme schwangern laßen“ hatte.46 Vor Gericht wurde erläutert, dass „Muthmaßungen vorhanden seyen, daß das Verlöbniß […] mit der Mutter Einwilligung geschloßen, und verkündet worden seye“.47 Vätern wurde vorgeworfen, dass ihnen die „eheliche Verbindung […] nicht unbewußt gewesen“ wäre.48

In Bezug auf die Ehewilligen lassen sich deren Taktiken vor Gericht auch als hartnäckige Sexualität fassen, die zur Erlangung eigensinniger Ehebegehren eingesetzt und vor Gericht redselig inszeniert wurde: Den „mit einander vollzogenen öffteren Beyschlaaff“ führten die Ehewilligen in den Quellen ebenso wiederholt an, wie sie diesen gewissermaßen persistent praktiziert haben wollten.49 Am Umstand, dass die Ehewilligen die öffentliche Bekanntheit ihrer sexuellen Beziehungen als Ressource in die Gerichtsverhandlungen führten, wird die tragende Rolle deutlich, die die Öffentlichkeit auch noch im Ancien Régime des ausgehenden 18. Jahrhunderts für die Konstitution einer legitimen Hochzeit – zumindest subalterner AkteurInnen – spielte.50 Wo „gegenseitige Verpflichtungen in Absicht auf eine künftige Ehe, und zwar nicht in Geheim, sondern mit jedermans Wißen obgewaltet“ hatten, brachten die ehewilligen AkteurInnen die ehekonstituierende Öffentlichkeit als Argument an, um die auf lokaler oder verwandtschaftlicher Ebene vorgebrachten Ehehindernisse auf übergeordneter Ebene zu delegitimieren und überwinden.51 Dabei schätzten sie „die Folgen einer unehelichen Geburts-Schmach“,52 mit der sie wegen des Geständnisses ihrer illegitimen Sexualität vor dem Oberchorgericht ebenfalls rechnen mussten, geringer als die Chancen ein, die sich damit für ihre Eheaspirationen eröffnen mochten.53 Das hätten sie kaum getan, wenn sie nicht um die Erfolgsaussichten vor dem Oberchorgericht gewusst und aufgrund illegitimer Sexualität drakonische Strafen zu befürchten gehabt hätten.54 Dieser Umstand weist ebenfalls auf den von Schmidt auf lokaler Ebene quantitativ nachgewiesenen Werteverfall hin. Er findet qualitative Bestätigung in den zeitgenössischen Verhandlungspositionen der Gemeindevertreter, wenn diese vor den Richtern beteuerten, dass die sexuellen Verhältnisse auf dem Land „dahin gekommen, dass die meisten junge[n] ledige[n] Landleute die Züchtigung der gesetzlich bestimmten Abbüßung wenig mehr achten, ja viele darunter öffters darmit ihr Gespött treiben.“55