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Prekäre Eheschließungen

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Alte, ‚blödsinnige‘ Körper

Verwandte und Gemeinden prekarisierten Ehevorhaben vor Gericht nicht nur aufgrund des jungen Alters der Brautleute, sondern auch durch gezielte Einwände gegen das (zu) hohe Alter dieser. Opponierende erhoben Eheeinsprüche gegen Ehevorhaben, die „wegen Alters oder Leibsschwachheiten sich und ihre Kinder zu ehrnehren nicht vermöchten“,1 weshalb „aus diese[n] Ehe[n] nichts als Armuth und Elend vorzusehen ist.“2 Dadurch wurde das Alter mit jenen zunehmend ökonomisch bedingten Heiratsverboten in Verbindung gebracht, wie sie in der Forschung schon oft erwähnt worden sind. Sie sollten sogenannte ‚Bettelehen‘ verhindern.3 Das Argument des Körperzustands und des Alters fand seine gesetzliche Grundlage in Artikel 3 der revidierten Chorgerichtssatzung von 1743: Solche, die „wegen leibs-schwachheiten“ außer Stand gesehen wurden, ihre Nachkommen zu versorgen, konnten ungeachtet ihrer Volljährigkeit an der Ehe gehindert werden.4 Vor allem alte Heiratsanwärter wurden der „Imbecillitaet [ihres] Gemühts und [ihrer] elenden Leibsconstitution“ bezichtigt und „als [ihre] Geschäfte zu geriren[,] vollkommen unfähig“ dargestellt.5 Ihnen wurden vor dem Oberchorgericht Krankheiten, zum Beispiel „Ecrouelles“, also Hauttuberkulose, nachgesagt.6 Wiederholt wurden „Verstand und Kräfte[] der Sinne“ vom kommunalen und verwandtschaftlichen Widerstand in Zweifel gezogen.7 In den Augen der Opposition waren die Ehewilligen dieser Ehevorhaben „alte[] sinnlose[] Weibsbild[er]“ oder verstandesschwache Männer.8 In Analogie zur mangelnden Rationalität des jugendlichen Leichtsinns, zeugte im Alter oder bei volljährigen Eheaspiranten der „Blödsinn“ von der „Unfähigkeit, einer Haushaltung hinlänglich vorstehen zu können“.9 So schwang in den entsprechenden Gerichtsverhandlungen auch stets die im Zusammenhang mit der jugendlichen Leichtfertigkeit angesprochene Sorge um die ökonomische Versorgung der Familie mit. Allerdings verband sie sich in Bezug auf den Alterungsprozess nicht mit der Sexualität, sondern mit dem körperlichen und geistigen Zustand.10 Seitens der Opponierenden wurde bezweifelt, dass die Ehewilligen in ihrem Alter noch fähig waren, ökonomisch das zu leisten, was zur Versorgung einer Familie und Aufrechterhaltung eines Haushalts notwendig gewesen wäre. Ganz in dieser Logik urteilte die kritische Gerichtsminderheit und die einsprechende Gemeinde Biglen gegen das Ehevorhaben von Christen Kneubühler mit seiner Verlobten Catharina Bigler. Weil die Gemeinde teilweise für die Erziehung der Kinder des Manns aus erster Ehe aufkommen musste, könne sie es nun

„nicht anders vorsehen […], als daß ihnen [den Gemeindemitgliedern Biglens] durch diesen Heurath und allenfahls erzeugende mehrere Kinder auch mehrere Beschwärd ausfallen werde, in demme gantz natürlich, daß da er bey jungen Jahren und mehreren Kräfften seine Kinder nicht erhalten können, er bey zunemmendem Alter und Schwachheiten es noch minder werde thun können“.11

„[D]ie Last die seith langer Zeit die Gemeind […] getrukt“, befürchteten die lokalen Potentaten, würde durch das Alter und der damit verbundenen geistigen und körperlichen Degeneration der Eheleute nur noch potenziert.12 Diesen Eheleuten, so die Gemeinden, „[wird] wegen [ihres] Alters und Infirmiteten je länger je schwärer fallen […] sich selbst Rath und Unterhalt zu verschaffen“.13 Daher „müßte die Noth in diesen künftigen Zeiten für beide umso viel größer, mithin auch die Last für die Gemeind […] unausweichlich, und um so viel betrechtlicher werden, falls von dieser […] Haushaltung je noch Kinder entspringen sollten.“14

Aber auch der Körper- oder Geisteszustand jüngerer Menschen konnte zum Gegenstand der Opposition und vor dem Oberchorgericht zum Heiratshindernis erklärt werden sowie den Ausgang der Ehevorhaben verunsichern. Zum einen wurde im Zusammenhang mit dem Geisteszustand von den Ehegegnern grundsätzlich in Frage gestellt, ob die „contrahierenden Partheyen Ihren Sinnen und Verstandes mächtig“ waren.15 Das war ihnen zufolge eine notwendige Bedingung für ein rechtmäßiges Eheversprechen. Wen die Opponierenden „als nicht seiner Sinnen und Verstandes mächtig“ ansahen, wurde „für wahnwitzig [ge]halten“,16 für „blödsinnig“ erklärt17 oder „als ein einfälltiger Tropf angegeben“, dem „die Fähigkeit der Heuraht“ fehlte.18 Die ehehindernden Parteien sprachen von „ziemlich einfältige[n]“ Frauen, die „übernohmen“, also in die Ehe eingeführt worden waren. In dieser Argumentationslogik konnte dies geschehen, weil es ein Leichtes war, „blödsinnige Mägdlein zu einer Eheversprechung zu überreden.“19 Volljährigen Männern wurde von den Einsprechern „Tumheit“ und „Blödsinnigkeit“ vorgeworfen, um ihnen „die volkommene Vähigkeit“ abzusprechen, „die zu einem vernünftigen und klugen Haus-Vater erfordert wird“.20

Zum anderen wurde auch der „betrübte[] Leibes-Zustand“ von Eheaspiranten beklagt, die weder minderjährig waren noch für zu alt gehalten wurden. Wie bei alten Menschen, wurde dann in Zweifel gezogen, dass die körperliche Verfassung dieser Menschen zur Aufrechterhaltung einer Familie und einer Haushaltung ausreichte.21 „Was für Gutes ist bey dieser Ehe für die Societet und für die Eheleute selbst zu hoffen, wenn ein permanenter leidiger Anlas zu Missvergnügen [sic], die in allen Absichten beschwerliche Krankheit […] unter ihnen haftet“, fragten die Opponierenden im Gericht rhetorisch.22 Die Heiratsgegner versuchten vor Gericht geltend zu machen, dass „die Last, die den Gemeinden durch dergleichen Heyrathen auffallen müsse, wo […] Natur-Fehler […] mit Gewissheit voraussehen lassen, dass benebst dem Mann, Weib und allfällige Kinder der Gemeine [sic] eine beschwerliche Last zuerkennt werden würde.“23 So führte das Gebrechen eines blinden Heiratswilligen zum Einspruch seiner Gemeinde. Aufgrund seiner Sehbehinderung sollte er „mithin nicht im Stand [sein] sich selbsten, vielweniger also ein Weib und allfällige Kinder zu ernähren und durchzubringen“.24 In einem anderen Fall wurde die Epilepsie der Frau von einer Verwandten gegen deren Heirat angeführt.25

Hinter den erörterten Oppositionen steckte dieselbe ökonomische Logik, die in Unzuchtverfahren im ausgehenden 18. Jahrhundert dazu führte, zunehmend mit der Belastung der Gemeinderessourcen und Fürsorgeeinrichtungen zu argumentieren.26 Eheschließungen bedeuteten in dieser Perspektive primär Besitztransfer und Partizipation an kommunalen Gütern, Rechten und Privilegien. Die Ehe stand somit am Ursprung kollektiver ökonomischer Ordnungsvorstellungen.27 Dieser Aspekt kommt besonders deutlich bei Witwen- oder Witwerheiraten zum Vorschein. Heirateten Witwen oder Witwer erneut, konnten Verwandte dadurch um beträchtliche Teile ihrer Erbansprüche gebracht werden. Auch Gemeinden konnten bei der exogamen Heirat einer Witwe wichtige lokale Investitionsgüter und Ressourcen verlieren, sodass sich die Interessen von Verwandtschaft und lokaler Kommunität in diesem Punkt häufig überschnitten.28 Unter den 61 prekären Eheaspirationen lassen sich so auch elf Fälle finden, in denen Witwen und Witwer involviert waren. Zum einen kritisierte der ehehindernde Widerstand dabei die Motive der jüngeren Ehepartei. Diese wurde verdächtigt, ausschließlich materielle Interessen zu verfolgen und die Ehe, nota bene die erste Ordnung Gottes, als materialistisches Spekulationsobjekt zu profanieren. Diese Absichten präsentierten die Ehegegner in der Aushandlung der Eheschließung als gefühllos, unmoralisch und dieser göttlichen Institution unwürdig. Oft wurden sie in die Nähe des Betrügerischen gebracht. Zum anderen wurde an den Eheaspirationen alter Menschen, insbesondere von Frauen, „nach dem allgemeinen Lauff der Natur der Zwek der Ehe wegen dem Alter der Verlobten“ in Frage gestellt, weil er „nicht erreicht werden könne“.29 Die Natur der Ehe entsprach laut reformiertem Verständnis der auf Fortpflanzung ausgerichteten Sexualität in der ersten Ordnung Gottes. In diesem Punkt überschnitten sich die bevölkerungspolitischen Ausführungen von Benjamin Carrard zu den Witwenheiraten und die kommunale Moralpolitik eindeutig. Im Fall der 86-jährigen Witwe Barbara Wänger, gebürtige Stoll, die im hohen Alter noch einmal zu heiraten wünschte, kam der Einspruch vom Enkel Hans Stöckli. Er war der einzige Erbe seiner Großmutter. Dieser Fall zeigt exemplarisch diese Facette, die bei der Heirat von alten, verwitweten Leuten zum Tragen kommen konnte. Er bat das Gericht untertänig, den für ihn „höchst nachttheilige[n] Ehetag“ abzuwenden.30 Der Widerstand gegen die Eheschließung seiner Großmutter erhielt zwar nur von der Minderheit der Eherichter Unterstützung, dennoch brachte er den Grund, der dieses eheliche Vorhaben in Frage zu stellen vermochte, beispielhaft zum Ausdruck:

„So ist schon die Heyrat eines 86. jährigen Weibsbilds an sich selbsten etwas Anstößiges und Lächerliches, das mit dem Zweck dieses gesellschaftlichen Bandes keiner wegen, und in keinerley Sinn übereinstimmt. Handgreiflich hat der Balsiger [der ehewillige und einiges jüngere Mann] keine andere Absicht hierbey, als einen namhaften Theil fremden Guts dem NothErben zu entreißen, und solchen an sich zu ziehen. Ein Absehen, welches der Richter in Republica bené ordinate nimmermehr begönstigen solle.“31

Und auch im Fall eines 60-jährigen Mannes argumentierten die Verwandten, „daß die Absicht“ der viel jüngeren Braut „ledigl[ich] dahin gehet, die Mittel des am Alter sie weit übertreffenden“ Bräutigams „zu erhaschen“, weil dieser Mann vor kurzem selbst geerbt habe.32 Die hier vorgestellten Fälle entsprachen somit dem Stereotyp „ungleicher Paare“, wie er von der Geschichtswissenschaft zum Beispiel im gleichnamigen Sammelband in Bezug auf unterschiedliche Differenzkriterien beschrieben worden ist.33

In der Gegenüberstellung der häufig vorgebrachten Argumente gegen die Eheschließungen von Minderjährigen und jenen gegen die Eheschließungen alter Menschen kommen elementare Züge zeitgenössischer Normvorstellungen zum Ausdruck: Das Wesen der Eheschließung pendelte zwischen normierten Gefühlserwartungen, materiellen Voraussetzungen, Besitztransfer und sexueller Ordnung. Jede dieser Komponenten konnte in der konkreten Ausprägung einer Eheaspiration vom ehehindernden Widerstand aufgegriffen und als Hinderungsgrund für die Eheschließung ausgelegt werden.34 Waren die Eheleute minderjährig und jung, wurden ihre übermäßige emotionale Leidenschaftlichkeit, zügellose sowie unmoralische sexuelle Lust und fehlende ökonomische Rationalität thematisiert. Waren die Eheleute alt, wurden umgekehrt fehlende emotionale und sexuelle Grundlagen ins Zentrum der Ehekritik gerückt. Die Erfüllung des ‚natürlichen‘ Zwecks der Ehe, die Fortpflanzung, wurde angezweifelt. Die Ehemotive wurden im Rahmen einer moralischen Ökonomie als zügelloser Materialismus präsentiert.35

 

Welche Motive – neben den Zuschreibungen falscher Absichten aus dem Umfeld – hinter den prekären Ehevorhaben alter, gebrechlicher, des Blödsinns und der Krankheit bezichtigter Menschen stehen konnten, zeigt der Fall des Burgdorfer Burgers Johann Rudolf Äschlimann. Die Eheaspiration dieses Strumpfwebers gibt außerdem Aufschluss über zentrale Aspekte der Institution Ehe in der Frühen Neuzeit: Der bereits zweifach verheiratete Mann, der im lokalen Burgerspital einquartiert war, brachte sowohl eheliche als auch uneheliche Kinder mit. Er wünschte nach zwei verflossenen Ehen 1797 zum dritten Mal – jetzt die Witwe Anna Matter – zu heiraten, „um des Willen […], um in seinem zunemmenden Alter und Unvermöglichkeit eine Abwart und Hilfe zu finden“.36 Im Gegensatz zu den Opponierenden, die ihn bezichtigten, „nicht im Stande gewesen [zu sein], seine väterlichen Pflichten gegen seine Kinder zu erfüllen“, stellte der ehewillige Witwer die Ehe gerade als notwendige Unterstützung und unabdingbare Hilfestellung bei der Versorgung seiner Familie dar.37 Die Ehe konnte besonders für alte und gebrechliche Menschen eine Pflege- und Versorgungsinstitution und wichtige Hilfestellung in der Bewältigung des Alltags darstellen. Davon zeugt auch das Beispiel des verwitweten Vaters Christian Summi aus Saanen, der von seiner Gemeinde – angeblich erst nach dem Tod seiner ersten Frau – aufgrund der fehlenden Unterstützung besteuert werden musste. Die finanzielle Unterstützung brauchte er, um seine Kinder verpflegen zu können.38 Dieser Umstand offenbarte unmissverständlich, als wie unentbehrlich die Frau in frühneuzeitlichen Arbeitsprozessen für das Gelingen des Haushalts erachtet wurde, und wie wichtig es ganz allgemein war, einen Partner oder eine Partnerin zu haben, um das ökonomische, aber eben auch seelische und gesundheitliche Überleben der Familie zu sichern.39

Gleichzeitig lässt sich daran illustrieren, wie die Ehe die elementare Möglichkeit repräsentierte, sich für alle Aspekte des Lebens körperliche Hilfe, finanzielle Unterstützung und emotionalen Beistand zu verschaffen. Damit weisen die untersuchten prekären Eheaspirationen über das ökonomisch akzentuierte Konzept des „Arbeitspaars“ hinaus.40 Es ging bei weitem nicht nur um Unterstützung bei der Erwerbsarbeit, sondern auch um Pflege und Hilfe in der Bewältigung des Alltags. In dieser Optik konnte das Heiratsunterfangen einen Versuch darstellen, sich Unterstützung zu verschaffen, um von anderen Hilfeleistungen unabhängig zu werden und sich aus der Abhängigkeit der Gemeinde zu emanzipieren.41

Damit treten prekäre Ehevorhaben von alten, gebrechlichen und mental sowie gesundheitlich beeinträchtigten Menschen in die Nähe des Selbsthilfe-Konzepts von Martin Dinges, das ebenfalls „die Widerstandspotentiale der Disziplinierten“ zum Ausdruck bringt, die sich nicht dem disziplinarischen Impetus der obrigkeitlichen Armenfürsorge unterwerfen mochten und daher „Gegenstrategien“ entwickelten, um Handlungsautonomie zu erlangen.42 Sehr plastisch wird dieser Aspekt am Ehevorhaben von Peter Fridli, einem Angehörigen der Gemeinde Kirchberg bei Burgdorf. Dieser Fall kam zwar nicht im Rekursmanual zu stehen, das heißt, gegen das Urteil des Oberehegerichts wurde nicht rekurriert. Darum fand er lediglich im ordentlichen Chorgerichtsmanual von Bern Erwähnung. Der Prozess verdient hier aber aufgrund des darin zum Ausdruck Gebrachten trotzdem Erwähnung:

„Er [habe] vor etwas Zeits drey Tag lang sehr übel kranck gelegen, und während dieser Zeit weder von seithen der Gemeind noch sonsten er keinen Zahl noch Raht gehabt […], sonderen schier gar habe verreblen müßen, aber dieses dann ihne veranlasset habe, daß er sich verehelichen wollen, damit er in seinem Alter auch einiche Hülf haben könne.“43

Obwohl das Oberchorgericht den Einspruch der Gemeinde gegen diese Ehe bestätigte, erhob Fridli keinen Einspruch dagegen. Vielleicht lag das daran, dass die hohen bernischen Richter die Gemeinde tadelten und anhielten, „zu veranstalten, dass zu diesem Fridli im Fahl der Noht Sorg getragen, und mit dem Nöhtigen ihme beygesprungen werde.“44

Die Ehe war auf verschiedenen Ebenen eine Vorsorge- und Versorgungsinstitution. Besonders alte Menschen benötigten das Zusammenleben, um körperliche Gebrechen im Alltag zu kompensieren, seelische Herausforderungen zu bewältigen und um neue finanzielle und materielle Mittel zu erschließen, die das Überleben ermöglichten.45 Das eheliche Zusammenleben schuf Erleichterung in der täglichen Arbeit. Die eheliche Partnerschaft bildete zudem eine wichtige, ja, in gewissen Fällen unentbehrliche Ressource bei der Versorgung der Familie und der Erziehung des Nachwuchses.46 Ganz in diesem Sinne versprach der Berner Kleinburger und Müllermeister Jakob Steiger vor dem Oberchorgericht, wenn ihm die Ehe mit seiner zweiten Frau Lisette Willading gewärtigt würde, seine zwei Kinder aus erster Ehe, die aktuell von der Korporation auswärts versorgt wurden, wieder zu sich zu nehmen und eigenhändig zu versorgen. Steiger war bestrebt

„durch eine zweyte Ehe seine gesunkenen Glüksumstände zu verbesseren, oder sich wenigstens in eine solche Lage zu sezen, wo Er mit Hülf einer sorgsammen und haushälterischen Gattin, seinen erlernten – einträglichen Beruf als Meister vor die Hand nemmen, und so nach und nach für den Unterhalt seiner bereits vorhandenen Kinder selbst sorgen könnte“.47

In der Differenzierung der ‚Glücksumstände‘ wird auch evident, dass die Ehe zwar wenigstens die wirtschaftlichen Sorgen lindern sollte, man mit ihr aber ebenso deutlich die Hoffnung verband, durch seelische Unterstützung den eigenen emotionalen Zustand zu verbessern. Emotionen und materielle Interessen standen sich also in den Augen der Ehebegehrenden in keiner Weise im Weg, sondern bedingten sich geradezu gegenseitig.48

Taktisch gab es für die im Quellenmaterial als alt, gebrechlich und geistig handikapiert bezeichneten Ehewilligen verschiedene Mittel, um das Gericht von der Legitimität ihrer Eheschließungen zu überzeugen. Mindestens eine wurde bereits weiter oben vorgestellt: Die Eheaspiranten stellten dem Gericht und der Opposition in Aussicht, dass sich durch die Realisation der Ehe ihre Lebensumstände und dadurch auch die Situation für die Gemeinden verbessern würden. Sie präsentierten die in Aussicht stehende Verbindung als Win-win-Situation, indem sie den Eigensinn mit dem Gemeinsinn zur Deckung zu bringen versuchten. Was die Opponierenden zum Hindernis erklärten, stellten die körperlich-geistig versehrten Eheaspiranten als Notwendigkeit dar: Sie brauchten die Ehe, um überleben zu können. Auf dieser existenziellen Grundlage forderten sie vom Gericht die Eheerlaubnis. Außerdem stellte auch in Bezug auf die Ehevorhaben dieser Menschen die Hartnäckigkeit der Ehewilligen vielfach das zentrale Mittel des Eigensinns dar. So stößt man in den Quellen auf Zeugnisse von Männern und Frauen, deren Ehen von der Opposition aufgrund ihres körperlichen Zustands in Frage gestellt wurden, die deswegen „zu verschiedenen Mahlen auf die Ehebeziehung angedrungen und sie gesucht“ hatten.49 Gleichzeitig kritisierten die betagten Eheansprecher ihrerseits die „Erbs begierigen Verwanten“.50 Damit drehten sie das Argument der materiellen Spekulation und Gier aus der Opposition gegen altersungleiche Ehevorhaben um und richteten es ihrerseits gegen den Widerstand. Die „durftige[n] Erben“ wären lediglich „frustriert“, dass ihnen Teile des Erbes entgingen.51

Die Hartnäckigkeit des Eigensinns der in die Jahre gekommenen Eheaspiranten konnte sogar über deren Tod hinausgehen, wie ein Beispiel im Quellenkorpus illustriert: Aus „Forcht vor seinen Verwandten“ hatte Henry Warnery von Moorsee die „errichtete Eheversprechung so lange Zeit geheim gehalten und durch den Kirchgang nicht vollzogen“, um „sein zeitliches Interesse“ zu wahren.52 Doch der findige Mann hatte Vorkehrungen getroffen, damit dieses Eheversprechen posthum legitimiert und der Frau ihr rechtmäßiger Status zuerkannt wurde: Er hatte vor seinem Tod „verschidene Testamente errichte[n]“ lassen, die nun bezeugten, dass er das mit Louise Curnex von Vullierens gezeugte Kind als sein eheliches anerkannte und die Frau „zu ehelichen auffrichtig und durchauß unveränderlich […] mithin […] das jenige, so er ihra versprochen, auch heiliglich zu seiner Zeit in Effect zu setzen“ bereit war. Mit dieser Finte überlistete der Mann seine Geschwister sogar über seinen Tod hinaus.53

Die Hartnäckigkeit wurde von ehewilligen AkteurInnen, denen vom Widerstand Blödsinn attestiert wurde, ähnlich eingesetzt wie von Minderjährigen. Mit der Wiederholung des Ehewillens versuchten sie gegenüber dem Gericht zu bezeugen, dass sie vernunftfähig waren und bewusst handelten – „[a]lles solche Umstände“, die vom Gericht dahingehend gelesen werden konnten, dass die Verlobten „weder einichen Zweifel […] noch auch einige Zeichen einer wirklichen Tumheit mit sich führen.“54 Bereits der Mut zum physischen Auftreten vor Gericht vermochte eine Gelegenheit für die Aspiranten prekärer Eheschließungen zu eröffnen, wenn sie damit das Gericht von ihrem intakten geistigen Zustand überzeugen konnten. Im Fall der Witwe Anna Hess, die von der Verwandtschaft des Bräutigams und der Gerichtsminderheit als „altes sinnloses Weibsbild“ bezeichnet wurde, befand das Gericht nämlich, dass

„die […] Verhör der Antworterin Hess zu Tage gelegt, daß dieselbe wohl bey weitem nicht sinnlos, sondern allen den Verstand besitzet, welcher von einer etlich und 60. jährigen Bäurin in ihren Umständen erwartet werden kann; sie sich auch vor uns freyen Gemüths erkläret, daß sie von dem Huser keineswegs eingeführt worden, sondern demselben erst nach eingezogener Nachricht seiner Umständen die Ehe zugesagt habe, auch ihme diese ihre Zusag unzerbrüchlich halten wolle.“55

Und auch die zuvor erwähnte 86-jährige Barbara Wänger, die von ihrem Enkel wegen ihres Eheanspruchs vor dem Oberchorgericht angegriffen wurde, hatte

„bei ihrer […] Verantwortung so viel Verstand und Kräften der Sinnen gezeigt, daß sie keineswegs zu der Zahl solcher Schwachsinnigen gehöre, welche sich selbsten, Vermag der Gesetzen nicht regieren noch besorgen können“.56