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Prekäre Eheschließungen

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Die Mehrheit der Oberchorrichter war vom Verhalten der Frau, die das ständische Privileg der Ehe bewusst ablehnte, dermaßen irritiert, dass sie es für „nicht gläublich“ befanden und als eine Lüge abtaten.31 Die zeitgenössische Logik der Herstellung des Sozialen, die die Produktion und Verteilung von Gütern und Menschen organisierte, politische und ökonomische Verbindungen stiftete, die Verteilung von Arbeit nach den Kriterien von Geschlecht und Alter koordinierte und die persönlichen Rechte und Pflichten von den Menschen in Bezug auf sexuelle Beziehungen und Vererbungstechniken regulierte,32 sah ein solches Verhalten von einer Frau nicht vor. Im Rahmen der ehrbasierten patriarchalen Logik der vorherrschenden Heiratsökonomie war Hellers Heiratsunwille für die Eherichter schlicht nicht nachvollziehbar.

„Daß eine muter so grausamm an ihrem kind, und gegen sich selbst so schandlichen betragens wäre, daß selbige vorsezlicher weiß demselben seine eheliche gebuhrt, die ihme sein vatter zu geben begehrt ohne deßthalb einichen guten grund zu geben, benemmen und sich selbs in die straff eines hureyhehlers und in die reputation einer unzüchtigen dirnen sezen wurde“,

konnte in der herrschenden Logik der Gerichtsmehrheit nicht der Wahrheit entsprechen.33 Die vom Oberchorgericht hervorgebrachte Quelle zeugt damit vom Eigensinn und der Risikobereitschaft dieser Akteurin, ihrem eigenen Lebensentwurf zu folgen – ohne Rücksicht auf die ehrrührige und sexuell konnotierte Stigmatisation durch das Urteil der Berner Obereherichter.34 Dabei erhielt sie Unterstützung von ihrer Mutter. Sie untermauern mit ihrem Handeln vor Gericht, dass AkteurInnen in prekären Verhältnissen „in der Lage“ waren, „ihre eigenen Handlungstheorien [oder zumindest -logiken] vorzuschlagen“, weil sie „voll entwickelte reflexive und geschickte Metaphysiker [oder zumindest AkteurInnen waren]“.35

Anna Hellers eigenwillige Handlungstheorie wurde zwar von der Mehrheit der Oberchorrichter vehement abgelehnt. Das Gericht entschied, dass sie es dem Kind schuldig wäre, diesem durch die Heirat den ehelichen Status zukommen zu lassen. Damit lieferten die Richter die Frau im konkreten Fall dem Ehewunsch des Bräutigams aus. Sie folgten dabei der gängigen gerichtlichen Logik, die Frauen aber auch gerade gegen die patriarchale Willkür von Verwandten schützen konnte.36 Hier wirkte sie dennoch bevormundend. Aber auch Heller vermochte Unstimmigkeiten und Widersprüche unter den Richtern zu wecken. Eine Minderheit war nämlich anderer Meinung, weil „die Heller ohngeacht aller […] an Sie verwendten vermahnungen, dennoch nicht zu bewegen gewesen den Beutigkofer zu ehelichen“.37 Das Ausmaß ihres Eigensinns veranlasste eine Minderheit dazu, Heller dieselben Rechte zuzuerkennen, die im gleichen Fall einem Mann zugestanden worden wären: Das Eheversprechen hätte laut der Minderheit der Richter zuerst bewiesen werden müssen, obwohl man es in diesem Lager genauso unverständlich fand, dass die Frau die Ehe ausschlug. Ohne diesen Beweis sollte das Kind dem Vater aber trotzdem unehelich zugesprochen werden. Die Erziehung und Versorgung des Kindes sollte allerdings der Mutter obliegen, was den gemeinhin gefällten Urteilen über Väter unehelicher Kinder entsprach.38

In anders konfigurierten Fällen konnte es sein, dass die richterliche Mehrheit durchaus dem „freyen Willen der Braut“ folgte, weil diese „ihren Willen deutl[ich] und offenherzig bezeuget“ hatte.39 Das offenbart die Rekursurkunde im Fall von Magdalena Koch. Mit ihrem entschlossen artikulierten Ehewillen widersprach sie den patriarchalen erbrechtlichen Interessen ihrer Onkel, die nota bene jeweils den militärischen Grad eines Hauptmannes und eines Leutnants trugen. „So kan man unmöglich begreiffen, warum die J[un]gfr[au] Koch […] zum Cœlibat verurteilt – und ihr die Freyheit genommen seyn solte, über ihre Person zu Gunsten eines Liebhabers zu disponieren.“40 Auch in diesem Fall handelte es sich um einen ambivalenten Entscheid. Denn die Gerichtsminderheit wollte den freien Willen der Frau zu Gunsten ihrer Onkel unterdrücken.41 In der Betrachtung der Beispiele wird deutlich, dass vor Gericht eigensinniger Wille von beiden Geschlechtern ausgehen konnte. Sowohl der „Kerl“ als auch „das Mensch“ konnten von Gerichtssässen in prekären Eheschließungsangelegenheiten eigensinnig empfunden und ambivalent beurteilt werden.42

Analog zu den detailliert ausgeführten Fällen wurden eigensinnige Handlungen, die im Rahmen prekärer Eheschließungen stattfanden und mit kodifizierten patriarchalen Gesetzen, ständischem Gewohnheitsrecht und familiär-verwandtschaftlichen Vorstellungen kollidierten, von den Opponierenden und dem Gericht über die gesamte Zeit als hartnäckig und intentional vorgestellt. In der zeitgenössischen Sprache „verharrt[en]“ eigensinnige Eheaspiranten, die im Latour’schen Sinn ihre eigene Metaphysik entwickelten, „auf ihrem AlternatifSchluss“.43 Eigensinn insistierte in der Regel gegen Opposition „auf volzeuchung der einander versprochenen ehe“.44 Er offenbarte sich in der „hartnäckigen Auffüehrung“ ehewilliger AkteurInnen, die „der ChorgerichtsSatzung zuwider […] heuwrathen“ wollten.45 Die Ehewilligen ließen dabei trotz Verboten der lokalen Chorgerichte nicht voneinander ab. Es wurde „unter […] protest […] einander zuehelichen insistiert“, obwohl „aber dieser Heuwrath zu keinen Zeiten gestattet werden [konnte]“.46 In „ihrem beharrlichen Vorsatz einander zu ehelichen“ ließen sie sich auch von Strafandrohungen nicht beirren.47 Die eigensinnigen AkteurInnen handelten in der Wahrnehmung der Opponierenden schlicht „eigenmächtig“.48

Damit überschneidet sich diese Beharrlichkeit mit jener ‚Hartnäckigkeit‘, die Margreth Lanzinger in Bezug auf Heiraten zwischen verbotenen Verwandtschaftsgraden in katholischen Gebieten als maßgeblichen Faktor für den ehelichen Erfolg herausgestrichen hat. Der Historikerin zufolge hieß Hartnäckigkeit in der Praxis für die AkteurInnen, „wenn sie ihr Heiratsvorhaben nicht aufgaben, sondern weiter verfolgten, selbst wenn Aussichtslosigkeit signalisiert wurde und sich immer wieder neue Hindernisse in den Weg stellten“.49 Um einen Dispens zu erwirken, war Hartnäckigkeit „eine […] entscheidende Qualifikation“.50 Lanzinger hat herausgestrichen, „dass Beharrlichkeit zum Erfolg führen konnte“ und es deshalb, „entscheidend [war], nicht aufzugeben“.51 Diese Erkenntnis deckt sich mit dem Befund von Erika Flückiger Strebel, die die bernische Armenfürsorge des 18. Jahrhunderts untersucht hat. Dabei hat sie festgestellt, dass zahlreiche subalterne AkteurInnen hartnäckig Gebrauch von der Möglichkeit zu persönlichen Vorsprachen vor der Almosenkammer machten, um mit obrigkeitlicher Unterstützung kommunale Fürsorgeleistungen zu erwirken.52 Lanzinger hat für den von ihr untersuchten österreichischen Kontext angenommen, dass die DispensanwärterInnen wussten, dass sich Hartnäckigkeit auszahlen konnte. Anhand des Aktenmaterials hat sie feststellen können, dass Kenntnisse rund um die katholische Dispenspraxis unter den Zeitgenossen als Teil der alltäglichen Kommunikation in den Wirtshäusern zirkulierten. Daraus hat sie geschlossen, dass es zum verbreiteten Alltagswissen der AkteurInnen gehörte, dass Hartnäckigkeit ein Erfolgsfaktor sein konnte. Somit erscheint die Fähigkeit zum Insistieren „als Element einer politischen Kultur“.53 Ob im Berner Kontext die Hartnäckigkeit von „einschlägigen Informationen“ aus dem sozialen Nahraum veranlasst war,54 kann mit dem vorliegenden Quellenmaterial nicht verifiziert werden. In Anbetracht von Lanzingers Befund erscheint es allerdings wahrscheinlich. Ansonsten ist der Umstand schwer zu erklären, wieso heiratswillige AkteurInnen ihre Fälle überhaupt über den lokalen Kontext hinaus vor das Oberchorgericht und sogar vor den bernischen Rat weiterzogen. Wie weiter oben erwähnt, musste Erfolg im Zusammenhang mit dem ressourcenintensiven Verfahren zumindest möglich erscheinen.

Hartnäckiger Eigensinn allein reichte selbstverständlich nicht aus, um einen Gerichtsfall zu gewinnen, sondern konnte bei zu großer Uneinsichtigkeit in den gegenteiligen Effekt umschlagen. Das bezeugt ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1786. In dem bereits oben erwähnten Fall erhob der Nebenbuhler Jakob Heuberger von Bözen Einspruch gegen die bereits vollzogene Eheschließung zwischen Jakob Brak und Barbara Brak, geborene Trinkler. Die Braut hätte ihm angeblich zuerst die Ehe versprochen, indem sie mit ihm öffentlichen Umgang gepflegt und Ehepfänder angenommen hätte. Das Gericht forderte den Nebenbuhler auf, das Eheversprechen mittels Zeugen zu beweisen, was er in einer ersten Gerichtsverhandlung unterlassen hatte. Deshalb wurde er vom Oberchorgericht in seiner Klage abgewiesen. Erneut sprach der Mann gegen die Ehe seiner vermeintlichen Braut mit dem Nebenbuhler ein – nun, indem er das Ehepfand zurückforderte. Wieder verlangte das Gericht von ihm den Beweis seines Eheversprechens, den er abermals nicht erbringen konnte. Erneut wies ihn das Gericht deshalb ab. Der Mann aber blieb hartnäckig und erhob neuerlich Einspruch gegen das Urteil und damit gegen die Gültigkeit der Ehe. Nun hatten die Richter allerdings genug von der unbegründeten Hartnäckigkeit. Obwohl der Fall im Rekursmanual zu stehen kam, weil der Mann eine Urkunde verlangt hatte, wurde ihm der Rekurs vor den Rat vom Gericht explizit verweigert.55

Dennoch erscheinen Unentschlossenheit und Reue in anderen Fällen als Gegensatz zu halsstarrigem Eigensinn und geben dadurch Aufschluss über den Einfluss des Letzteren in allgemeiner Hinsicht. Zögerlichkeit und Bedauern verhalfen meist nicht zum gewünschten Ergebnis. Das lässt sich an den folgenden Fällen demonstrieren: Im ersten Fall begehrten Onkel, Vogt und Brüder von Ludwig Rognet von St. Livres 1787 anfänglich das Zugrecht. Vor dem Gericht sahen sie allerdings davon wieder ab. Nun weigerte sich allerdings plötzlich der Bräutigam, sein schriftlich gegebenes Eheversprechen einzulösen. Weil man den Status der Frau, die sich unter dem schriftlichen Versprechen der Ehe aus der Sicht des Gerichts berechtigterweise schwängern lassen hatte, und jenen des Kindes nicht vom „Wankelmuht“ des Vaters abhängig machen wollte, hieß man das Eheversprechen gültig.56 Ähnlich gelagert waren die Verhältnisse im zweiten Fall, in dem Anna Maria Senn von Unterkulm 1782 „ihrer Versprechung reuig“ wurde, wogegen der Vater der Frau nicht bezweifelte, „es seyen Verbindungen in absicht auf eine künftige Ehe […] obhanden“. So hielt das Gericht die Frau an, ihr Versprechen zu halten, obwohl sie es „reuens worden“ war.57 In Opposition zu Reue und Wankelmut war Eigensinn zielgerichtet und selbstbewusst. Und so fand das Oberchorgericht auch,

 

„wann in so wichtigen Sachen kein zusammenhang noch Ordnung in derselben sich zeiget, die Gedanken varieren, und bald für bald wieder dieselben [Eheverlöbnisse] gestimmt sind, mithin keine feste Entschließung vorhanden, […] dann bald auf die Vollziehung [der] heurath angedrungen, bald wieder davon abgestanden“,58

dann sollten keine Ehen zustande kommen. Wo ein Eheversprechen seit der Verlobung zwischenzeitlich zu einem „nur einseitige[n] Begehren“ geworden war, obwohl es nach wie vor nicht geleugnet wurde, entschied das Oberchorgericht in der Regel gegen den Vollzug der jeweiligen Eheschließung.59

Die Gerichtsquellen aus den Jahren 1742 bis 1798 verwendeten für die begriffliche Charakterisierung der eigensinnigen Handlungen und der Hartnäckigkeit der AkteurInnen über den gesamten Zeitraum neben den bereits angeführten Eigenschaftswörtern Attribute wie „störrisch“60 und „stürmisch“61. Gelegentlich wurde das eigensinnige Verhalten der AkteurInnen von Zeugen und Richtern als „bös“ und „frech“ geschildert.62 Diese Adjektive erinnern stark an jene Frechheit, die de Certeau zufolge die Taktiken der Helden des Alltags charakterisiert: „frech [werden dabei] Elemente miteinander in Verbindung gebracht, die etwas anderes in der Sprache eines Ortes [hier: das Ehegesetz der Berner Regierung] aufblitzen lassen und den Adressaten [hier: das Gericht] verblüffen sollen.“63 „Die Frechheit“, hielten die Obereherichter in einem konkreten Fall empört fest, konnte von AkteurInnen gar „so weit getrieben werden […], eine rechtliche Action von dem Richter zu intentieren, und selbige vor den höcheren Richter ziehen zu dörfen“.64 Hier offenbart sich, wie politisch der taktisch agierende Eigensinn die Justiz beanspruchte und dadurch den sich ausdifferenzierenden modernen Staat nicht nur zu Interventionen einlud, sondern auch zwang. Eigensinnige AkteurInnen prekärer Eheschließungen wünschten sich in den allermeisten Fällen die Ehe. Dem Schreiber des Berner Oberchorgerichts zufolge „begehr[t]en“ sie diese geradezu.65 Sie stellten der Heirat eigensinnig und hartnäckig nach, wodurch die Ehe permanent „der Gefahr ausgesezt [war], der List und der dreistigkeit zum Raub zu werden“.66 Durch die angeführten Quellenbegriffe aus den Rekursmanualen lassen sich die eigensinnigen Ehebegehren der AkteurInnen in Gegenüberstellung mit der Wortwahl von de Certeau noch eindeutiger mit dessen Verständnis der Taktik in Verbindung bringen: Bei ihm bewegt sich die Taktik stets in einer ihr mehr oder weniger fremden hegemonialen Ordnung. „[Darin] wildert [sie] und sorgt für Überraschungen. […] Die Taktik ist die List […].“67 Wie beim Eigensinn zeigt sich auch in Bezug auf die Handlungstheorie von de Certeau, dass die gebildeten Kategorien nicht dem poetischen Reiz des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin entsprungen sind, sondern eindeutige Entsprechungen im zeitgenössischen Handeln der historischen AkteurInnen finden und empirisch gesättigt sind. In dieser Lesart verwendeten AkteurInnen prekärer Eheschließungen Taktiken, um sich die eigensinnige Ehe, die ihnen aufgrund des Gesetzes nicht oder höchstens bedingt zustand, „listenreich“ anzueignen.68 Dreist versuchten sie die Ehe im Feld der matrimonialen Normen der Obrigkeit zu ‚rauben‘. So schafften es sogar minderjährige Personen, denen „der hohe Gesezgeber gewisse Schranken gesezt [hatte]“, ihren „Willen“ gegen „die Aufsicht und mehrere Erfahrenheit ihrer nächsten Verwandten“ oder ihrer Gemeinden und Gesellschaften durchzusetzen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.69

2.3.2 Alter, Körper, Geist
Minderjährig und ‚leichtsinnig‘

Die meisten Eheaspirationen, die zwischen 1742 und 1798 Eingang ins Rekursmanual des Berner Oberchorgerichts fanden, thematisierten das junge oder hohe Alter der Eheaspiranten. Sie wurden durch Einsprachen aus der Verwandtschaft und von Vögten prekarisiert. Dabei waren letztere entweder Vertreter einer Gemeinde oder der Familie oder sprachen vor Gericht im Namen beider. 44 % (27) aller Einsprachen (61) wendeten die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt des Eheversprechens von wenigstens einer der beiden Personen gegen die abschließende Einsegnung der Ehe ein. „[B]lutjunge Persohn[en]“, die zum Zeitpunkt der Verlobung „noch nicht zum Tisch dess Herren admittiert ware[n]“, schlossen „hinterrüks“ Eheversprechungen gegen den Willen der Eltern, Verwandten und Vögte ab, so die Gegner dieser Eheschließungen.1 Waren sie nicht mehr ganz so jung, dass sie noch nicht zum Abendmahl zugelassen waren, so waren sie dennoch erst seit Kurzem dazu befugt,2 „käumerlich Achtzehenjährige“, „der Kindheit noch kaum entrunnene[] Jünglinge[]“, „under den Jahren“,3 „bloß neunzehnjährig“,4 sie hatten „erst das siebenzehende Jahr Ihres Alters zurukgelegt“5 oder die Eheversprechen wurden laut den Einsprechern wenigstens „zwischen […] jungen Leuten“6 geschlossen. Diese aufgrund ihres jungen Alters prekarisierten Menschen – Frauen oder Männer und unabhängig davon, ob aus Gebirgsregionen oder aus Kantonsgebieten mit fortgeschrittener Heimarbeit – versuchten deutlich früher zu heiraten als der eidgenössische Durchschnitt.7 Ihr Eheanspruch wich damit deutlich vom sogenannten European Marriage Pattern ab, das zuerst von John Hajnal konstatiert worden ist, seither unterschiedliche Alterationen erfahren und die Forschung in vielerlei Hinsicht nachhaltig geprägt hat.8 Die hier vorgestellten jungen Menschen handelten entgegen kollektiven patriarchalen Vorstellungen und Machtansprüchen sowie geltendes Gesetz, die das von der Sozialgeschichte konstatierte Heiratsverhalten strukturierten.

Die Opponierenden vermuteten „jugendliche[] Unbesonnenheit“ hinter den minderjährigen Ehevorhaben und diskreditierten mit dieser Charakterisierung die Beständigkeit der Motive der Heiratswilligen.9 Diese Kritik wurde oft explizit in Zusammenhang mit dem „Liebesverstandniß junger Leuten“ und der jugendlichen Sexualität gebracht.10 Der Widerstand gegen die Eheaspirationen assoziierte Jugend über Geschlechtergrenzen hinweg mit Leichtsinn. Dieser zeichnete sich durch fehlgeleitete Leidenschaften und Irrationalität aus und erhielt eine ausgeprägte sexuelle Konnotation:11 Während „junge leichtsinnige Weibsbilder“ durch die Eherichter „vor […] Nachstellung geschirmet […] werden“12 sollten, mussten minderjährige Männer der ehelichen Opposition zufolge vor dem „Feuer ihrer Lüsten“ geschützt werden.13 Die in der frühneuzeitlichen Ehrgesellschaft wertvolle jungfräuliche Unschuld musste vor der zügellosen sexuellen Leidenschaft der jungen Männer bewahrt werden. Die ehehindernden Akteursgruppen verwendeten Leichtsinn als abwertende Bezeichnung für jugendlichen Eigensinn und verbanden ihn mit altersbedingter Irrationalität, Naivität und Sexualität.14 Den unerfahrenen Sinnen wurde die rationale Kontrolle über das eigene Handeln abgesprochen und sie wurden der Unbedachtheit zugeschrieben. „Unbesinte junge Leuthe“ heirateten, weil ihnen aufgrund mangelnder Erfahrung die Vorstellung für die Tragweite der ehelichen Institution fehlte, so die Logik der Opponierenden.15 Ehelicher Leichtsinn kann somit analog zur sexuellen Leichtfertigkeit verstanden werden, die Stefan Breit für Oberbayern untersucht hat. Dort bezeichnete diese den Tatbestand der illegitimen, also vorehelichen Sexualität. Breit geht davon aus, dass das Delikt so bezeichnet wurde, weil diese sexuellen Beziehungen in Anbetracht der nicht gewährleisteten ökonomischen Versorgung der zu erwartenden Kinder im zeitgenössischen Verständnis unbedacht eingegangen wurden. Somit schwang bei der sexuellen Komponente immer auch die ökonomische mit. Allerdings musste man sich aus verwandtschaftlicher Perspektive die legitime Sexualität nicht nur finanziell, sondern auch alters- beziehungsweise erfahrungsmäßig leisten können.16 Unter anderem mit dem patriarchalen Argument des moralischen Schutzes der Jugend galt es für die opponierenden Verwandten und Vögte folglich die Ehevorhaben von Minderjährigen „under den Jahren wegg[zu]züchen“.17

Der zweite Artikel des ersten Absatzes der Chorgerichtssatzung vom 3. Juli 1743 legte das Ehefähigkeitsalter auf 25 Jahre fest. Die revidierte Ehegerichtssatzung vom 25. Januar 1787 senkte das Ende der Minderjährigkeit geringfügig auf das 24. Lebensjahr, wie bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnt wurde. Diese beiden Gesetze bildeten die juristische Grundlage für die genannten patriarchalen Einsprachen im hier analysierten Zeitraum.18

Die Untersuchung offenbart allerdings, dass elf weiblichen und 16 männlichen Minderjährigen der eigene Sinn nicht danach stand, sich an das patriarchale Gesetz zu halten. Sie begegneten dabei vor allem dem Widerwillen der Väter. 14 Mal standen diese am Anfang der Zugrechtsklage. Die Minderjährigen handelten aber auch gegen die Interessen anderer Familienangehöriger – Mütter, Großeltern, Brüder, Onkel und Schwager – und ihrer Vögte. Minderjährige stellen für das Ancien Régime in dieser Untersuchung die größte Gruppe dar, die von ehelicher Prekarität betroffen war.

Doch wie manifestierte sich der minderjährige Eigensinn? Eine ‚blutjunge‘ und unmündige Verlobte namens Anna Maria Fridli weigerte sich zum Beispiel 1742 hartnäckig, angenommene Ehepfänder zurückzugeben, obwohl sie vom Amtmann in ihrer Heimatgemeinde dazu aufgefordert worden war. Die junge Frau aus Herzogenbuchsee antwortete selbstbewusst, „dass Sie [dem Mann], halten wolle, was Sie Ihme versprochen habe“, obwohl Vogt, Mutter und die übrigen Verwandten behaupteten, die minderjährige Frau sei beim Trunk zum Eheversprechen überredet worden.19 In Abwesenheit des Bräutigams „bekräftiget[e]“ die Braut allerdings – „und ohne bym Wein zu seyn“ – das Eheversprechen vor dem lokalen, erstinstanzlichen Chorgericht erneut.20 Das ging aus der Zuschrift des subsidiären Chorgerichts hervor, die dem Oberchorgericht vorlag. Mit ihrem persistenten Verhalten demonstrierte die junge Frau ihre Überzeugung und Überlegtheit. Weder Leichtsinn noch Alkohol hätten sie zu dieser Verlobung geführt, sondern ihr reflektierter und beständiger Wille, so die Botschaft ihrer kommunikativen Handlung.21 Wenigstens für die Minderheit des Gerichts und einen Vogt der doppelt bevogteten Frau war durch ihr Verhalten „genugsamm gezeiget, daß Sie hierzu von niemanden eingeführt, noch verkupplet, sonderen disere Eheversprechung freywillig von Ihra angenommen und gegeben worden“ war.22 Obwohl sie vor dem Oberchorgericht „bey weitem nicht eine gleiche Sprache wie dißmahlen [vor dem lokalen Chorgericht] geführt“ hatte, fand die Minderjährige mit ihrer Taktik des Nachdrucks im Gericht Fürsprecher.23 Einige Assessoren, wenn auch die Minderheit, unterstützen sie, obwohl sie eindeutig gegen gesetztes Recht gehandelt hatte. Während der Verhandlung knickte sie allerdings ein, „weil der [andere] Vogt und die Verwandten darwider seyen“, also der ausgeübte Konformitätsdruck zu groß wurde.24 Doch die junge Frau fand am Ende der Verhandlung zur alten Hartnäckigkeit zurück. Denn ihr zweiter Vogt strebte in ihrem Namen den Rekurs gegen das Urteil des oberchorgerichtlichen Quorums an.25 Es kann nur darüber spekuliert werden, ob das Einknicken der Frau der Mehrheit der Eherichter den ausschlaggebenden Grund lieferte, sich gegen die prekäre Eheschließung der jungen Frau auszusprechen. Dass es ausschließlich daran gelegen hat, dass das Eheversprechen unter Alkoholeinfluss im Wirtshaus gegeben worden war, kann aber bezweifelt werden.

Auch Barbara Bohren von Grindelwald, die 1760 vor Gericht als ein „junges Weibsbild“ identifiziert wurde, sollte den Angaben des Vogts, ihrem Onkel, zufolge „durch den Trunk“, bei „Wein und Danz“ während des Jahrmarkts im Gasthaus „übernommen“ worden sein.26 Das Gericht erkannte den eigensinnigen Handschlag der minderjährigen Frau mit Rudolf Amacker von Wilderswil vor zwei ehrbaren Zeugen auf die Formulierung des Mannes hin – „[n]un so wollen Wir beede zusammen einander zur Kirchen führen“ – aber trotzdem als gültiges Eheversprechen an.27 Denn die Verlobung entsprach den Richtern zufolge ihrer Form nach jenen Gepflogenheiten, „die immer unter gemeinen Land-Leuten gebräuchlich [waren]“.28

 

Es zeigt sich damit, dass Ehebegehren von Minderjährigen, obwohl klar im Widerspruch zum Gesetz, aufgrund ihres praktisch an den Tag gelegten hartnäckigen Eigensinns nicht zwangsläufig scheitern mussten. Durch die bewusste Wiederholung des anhaltenden Ehewunsches vor Zeugen oder dem Gericht, bekräftigten minderjährige Heiratswillige einerseits die anhaltende Gültigkeit ihrer Eheversprechen. Andererseits unternahmen sie den Versuch, den durch die Opponierenden hervorgebrachten Vorwurf des jugendlichen Leichtsinns zu widerlegen, indem sie sich vor Gericht als selbstbewusste Persönlichkeiten inszenierten. Anna Scheidegger, die 1764 mit einem „Jüngling“ namens Hans Müller verlobt war, gelang es beispielsweise, das Eheversprechen, zu dem zweifellos „keynerlei Verlokung und Arglist“ notwendig war, gegen den Ehezug des widerwilligen Stiefvaters des Bräutigams durchzusetzen.29 Der Minderjährige hatte die Ehewillige offenbar oft genug „eine geraume Zeit offentl[ich] bey Tag als bey Nacht mit Vorwissen allseithiger Verwandten besucht, ja sogar bey derselben eine ganze Wochen continue als bey seiner Verlobten zugebracht“.30 Insofern war der Umgang zwischen den beiden öffentlich, wiederholt und bekannt.31 Um alle Zweifel an der Gültigkeit dieses Eheversprechens aus dem Weg zu räumen, ging dann der Verlobte Müller auch noch zum lokalen Pfarrer. Vor diesem wiederholte er, dass er der Frau „die Ehe versprochen, und dieselbe heyrahten wolle“.32 Dass er sich für die Bestätigung seines unnachgiebigen Heiratswillens den Pfarrer als Zeugen ausgesucht hatte, war kein Zufall.33 Diese bewusste Handlung vollzog er, weil sein Stiefvater gegenüber demselben angeblich verlauten lassen hatte: „wenn […] sein Stiefsohn die Scheideggerin [Name der Frau] absolut heyrathen wolle, so wolle er sich nicht wiedersezen“.34 Zudem waren Pfarrer Autoritätspersonen, die zumindest bei den Richtern für moralische Integrität und Glaubwürdigkeit standen. Das Ehebegehren des minderjährigen Stiefsohns, das der Pfarrer dann vor Gericht auch bezeugte, war hartnäckig genug. Die Gerichtsmehrheit entschied sich in diesem Fall zu Gunsten der Eheschließung des minderjährigen Hans Müller und der Anna Scheidegger.35

Die Begehren der gesetzlich zum elterlichen Konsens verpflichteten Minderjährigen waren also vor dem Oberchorgericht nicht aussichtslos. Zwölf von 27 Fällen (44%), in denen das Zugrecht aufgrund der Minderjährigkeit eingefordert wurde, endeten mit einem Gerichtsentscheid, der die begehrte Eheschließung erlaubte. Welche Faktoren – neben der Hartnäckigkeit und der Inszenierung von reflektiertem ‚eigenem Sinn‘ – zum Erfolg von Eheaspirationen minderjähriger AkteurInnen beigetragen hatten, kann nicht abschließend und generell, sondern nur in Kenntnis der je spezifischen Handlungszusammenhänge beurteilt werden.36 Im besprochenen Fall war die Mitwisserschaft des Stiefvaters ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung des Ehegerichts zu Gunsten der Eheaspiranten. Dagegen wurden andere Väter von der Mehrheit der Eherichter von genau dieser Verantwortung entbunden und in ihrer patriarchalen Macht gestärkt, „[w]eylen […] eine bluthjunge Persohn so erst kürtzlich zum h[eiligen] Abendmahl underwiesen und darzu admittiert worden, […] noch nicht einen genugsahmen Begriff haben kann, was ratione einer zu bezeuchenden Ehe zu ihrem wahren Wohlsein und besten dienet“.37 Obwohl die „langweirige [sic] und denen Ellteren bekant gewesene Frequentation dieser zweyen Versprochenen“ Madle Burri und Peter Bringold unbestritten war, hätten sie „wegen ihrer Jugend […] hierauß keine sonderliche Achtung geben und nicht prosumieren können, daß der Umbgang unter so jungen Leuthen alsobald eine Eheversprechung unter ihnen operieren sollte“.38

Die Gegenüberstellung der Beispiele zeigt, inwiefern der taktische Erfolg der AkteurInnen im Einzelfall auch von wechselhaften „‚Gelegenheiten‘“ und gewissen Zufälligkeiten abhängig war. Was in einem Fall zum Erfolg führen konnte, stellte womöglich im nächsten den Hinderungsgrund für das Gericht dar. Die minderjährigen und eigensinnigen Eheaspiranten blieben in besonderem Maße der Gunst und Gnade der Richter ausgesetzt und somit vom „Ort des Anderen“ abhängig. Dieser Umstand deutet erneut darauf hin, dass Eigensinn charakteristischerweise ambivalent beurteilt wurde. Das Gericht war durch „das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert“. Die Minderjährigen mussten die „besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer“ – in diesem Fall die Oberchorrichter – geschickt nutzen, um überhaupt eine Heiratschance zu kreieren. Taktiken konnten die Erfolgschancen verbessern. Der Erfolg stellte aber immer noch eine „Überraschung“ dar, obwohl die entsprechende Hoffnung nicht aussichtslos war.39 Folglich lässt sich der Erfolg vor allem aufgrund des Verhaltens der Richter im Ancien Régime nicht monokausal mit einer einzigen Taktik minderjähriger AkteurInnen in Verbindung bringen. Die Realisation einer prekären Ehe war von wechselnden Faktoren wie der personellen Besetzung des Gerichts, den Launen der Richter und den bevölkerungspolitischen Konjunkturen abhängig – aber auch von Zeugen, Ereignissen und Informationen, die nie vollständig und abschließend aus den Rekursurkunden hervorgehen. Eher möglich ist es, einen Faktor zu bestimmen, der in Kombination mit der Minderjährigkeit, konsequent zum Misserfolg prekärer Eheaspirationen führte. Wenn trotz unbestrittenem Eheversprechen, neben die Minderjährigkeit eines Akteurs oder einer Akteurin, zwischenzeitliche Zweifel, aktiv geäußerter Widerwille oder deklarierte Reue einer vormals ehewilligen Partei getreten waren und keine Schwangerschaft vorlag, wurde das Versprechen von den Richtern in allen hier untersuchten Fällen aufgehoben.40 Damit lassen sich diese Fälle aus Bern in den Entwicklungstrend einreihen, der für Neuenburg für das 18. Jahrhundert festgestellt worden ist: AkteurInnen von einst konsensual geschlossenen, aber später verworfenen Heiratsverträgen und Verlobungen, wurden in diesem Zeitraum in der Regel von ihrem Versprechen befreit, wenn keine Schwangerschaft vorlag.41 In der Quellensprache hieß das, dass „[w]ann die Angesprochene [minderjährige] eine große Abneigung gegen Ihne bezeuget“,42 das Gericht die Verlobung auflöste, sofern die Frau nicht schon schwanger war. So wurde zum Beispiel 1763 die „übereilte Versprechung“ von Barbara Maria Dreler, die sich „in ihrer noch sehr zarten Jugend“ befand, vom Gericht einstimmig aufgelöst, weil sie, die Verlobung mit Benjamin Ringier aus Zofingen „höchstens bereuend“, „ihme […] in den deutlichsten Austruken ihre Abneigung gegen ihne überschrieben“ hatte.43 Auch hier schien der deutlich artikulierte eigene Sinn als Ressource vor Gericht. Wenn eine nicht schwangere minderjährige Frau bezeugte, „wie sehr sie dessen was zwischen ihra und [einem Mann] vorgegangen seyn möchte, reuig sey“,44 entschied das Ehegericht in den hier untersuchten Fällen für das Ancien Régime stets einstimmig gegen die einst aspirierte Ehe, um „einer künftig ung[l]üklichen Ehe“ vorzubeugen.45 Dieser Umstand zeigt ex negativo, dass prekäre Eheaspirationen von Minderjährigen besonders stark von deren hartnäckigem Eigensinn abhängig waren, wenn sie von Erfolg gekrönt sein wollten. Zweifelte das Gericht am persistenten Willen der minderjährigen Partei, diese Ehe gegen die vorliegenden Widerstände durchsetzen und aufrechterhalten zu wollen, hob es sie konsequent auf. Hartnäckigkeit war für minderjährige Ehewillige keine Erfolgsgarantie. Hingegen war das Fehlen oder Nachlassen des unbedingten Willens zur Ehe im Umkehrschluss für das Gericht stets ausschlaggebend, um die Verlobung aufzuheben.