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Prekäre Eheschließungen

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2.2 Opponierende Parteien: Väter und Verwandte

Per Definition ließen die Einsprachen und Zugrechtsklagen Eheschließungen prekär werden. Folglich geht es an dieser Stelle der Arbeit um die Analyse der Eheeinsprechenden, die die betreffenden Eheschließungen zu verhindern versuchten. In den meisten Fällen machte erst die Anzeige und Anfechtung der Legitimität einer ehelichen Verbindung aus dem Umfeld der AkteurInnen den Vollzug der Eheschließung in der Anwesenheitsgesellschaft unsicher. Das Oberchorgericht schritt in den wenigsten Fällen von sich aus ein.1 In den hier analysierten Fällen war das lediglich zwei Mal der Fall, als jeweils ein frisch verwitweter Mann jene Frau heiraten wollte, mit der er zu Lebzeiten der Ehefrau Ehebruch begangen hatte. Zum einen wogen diese Delikte in gesetzesstrenger Lesart schwer, weil sie die Reinheit der Gesellschaft und ergo das kollektive Heil gefährdeten. Zum anderen trat das Oberchorgericht in den beiden besagten Fällen auf den Plan, weil der vorgängige Ehebruch gerichtsnotorisch war und es sich nun um das moralisch gewichtige Vergehen der Hurerei handelte.2

Viele Vorgänge in den Gemeinden entzogen sich allerdings der Kenntnis der Assessoren des Berner Oberchorgerichts, die nicht vor Ort, sondern auf Informationen aus dem lokalen Umfeld angewiesen waren. Das Gericht war also seinerseits auf die Justiznutzung aus der Mitte der Gesellschaft oder die Anzeige der Bernischen Landvögte und Pfarrer in den Gemeinden angewiesen, um schlichtend und strafend in die matrimonialen Konflikte eingreifen zu können. Dadurch gerät das Gericht, ganz im Sinne des maßgeblich von Martin Dinges geprägten Konzepts, als Angebot – und nicht primär als disziplinierende und sanktionierende Institution – in den Blick, das von ‚unten‘ und aus der Mitte der Gesellschaft genutzt werden konnte. Somit konnte es für die AkteurInnen von großem Wert bei der Durchsetzung eigener Interessen sein und wurde zu diesem Zweck angerufen.3 Gerichtliche Formen der Konfliktregulierung wurden von lokalen Gesellschaften während der Frühen Neuzeit aber häufig erst als letzte Option zur Schlichtung von Konflikten in Betracht gezogen.4 Die außergerichtlichen und gewohnheitsrechtlichen Integrationsversuche auf horizontaler Ebene konnten zeitweise sehr heftig ausfallen – so heftig, dass z. B. ein Heiratswilliger im Fall einer prekären Eheschließung „aus forcht vor seiner gemeind und von ihra ihme desstwegen erwekenden verdrieslichkeiten“ von seiner Heimat fernblieb, obwohl er „weder aus dem land bannisiert, noch vergeltstaget, oder von denen schulden getreiben, sonderen im gegentheil ehrliche mittel im land besizet […]“ hatte.5 Insofern waren die vor Gericht gebrachten Fälle der Eheschließung vielfach in äußerstem Maß prekär. Ihnen waren oftmals bereits außergerichtliche Streitigkeiten vorgelagert. Sie hatten zum Teil schon Formen der Konfliktregulierung auf lokaler Ebene durchschritten, die allerdings in Bezug auf die Beilegung der Streitigkeiten in den hier untersuchten Fällen erfolglos geblieben sein mussten.6 Die aufwendigen und kostspieligen Gerichtsverfahren wurden erst angestrebt, wenn informellere Formen der Integration versagt hatten.7 Dann riefen die Menschen aus der Nachbarschaft das überregionale Gericht der Magistraten im entfernten Machtzentrum an.8 Es musste also ein ausdrückliches und angezeigtes Hindernis gegenüber einer Ehe bestehen, damit die Heirat durch das Gericht verhindert oder erlaubt werden konnte.

Diagramm 1:

Opponenten (61) gegen prekäre Eheschließungen, 1742–1798 (Quellen: StABE B III 824; 826; 827; 829; 830)

Während auf der Seite der Heiratsbegehrenden keine eindeutige soziale Zuordnung der AkteurInnen im Einzelnen möglich ist, lässt die Auswertung der Quellensamples für das Ancien Régime die grobe Differenzierung der opponierenden Parteien in zwei hauptsächliche Akteursgruppen zu. Dabei ist festzustellen, dass am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Hauptträger der Einsprachen gegen eigensinnige Ehen die Verwandten waren – 36 Zugrechtsklagen und Eheeinsprachen aus dem Sample zum Ancien Régime wurden unter Beteiligung von mehr oder weniger nahen Verwandten der Brautleute erhoben. Das entspricht bei einer Gesamtzahl von 61 prekären Eheschließungen rund 59% der für diesen Zeitraum untersuchten Einsprüche. Von diesen wurde eine Klage gemeinsam von Verwandtschaft und burgerlicher Korporation erhoben, eine weitere resultierte aus einer Allianz zwischen Verwandtschaftsteilen und einer Gemeinde. In 34 Fällen, also in rund 56% aller Fälle, wurde die Klage gegen eine Ehe ausschließlich von Verwandten der Brautleute angestrebt.

Es lässt sich also festhalten, dass sich matrimonialer Eigensinn während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor Gericht primär gegen verwandtschaftlichen Widerstand behaupten musste. Die eigensinnigen Eheaspirationen standen in dieser Phase überwiegend im Widerspruch zu den patriarchalen Interessen der involvierten Familien und wurden durch deren Einsprüche prekarisiert. Dass der Widerstand aus diesem Lager zahlenmäßig überwog, überrascht in Anbetracht der historischen Verwandtschaftsforschung nicht: Heirat stand in der geburtsständisch stratifizierten Gesellschaft am Ausgangspunkt vielfältiger Austausch- und Erbprozesse und somit im Mittelpunkt verwandtschaftlicher Interessen und wertvoller Beziehungsnetzwerke. Durch geschickte Verehelichung und Schaffung von Verwandtschaftsnetzwerken konnte in der nach wie vor agrarisch dominierten Berner Gesellschaft der Familienbesitz zusammengehalten und akkumuliert werden. Durch die ehelichen Verbindungen wurden neue Beziehungen geknüpft, bestehende gepflegt und intensiviert. Sie besaßen für die Verwandtschaft als Ressource in der geburtsständisch gegliederten Gesellschaft der Frühen Neuzeit eine immense Bedeutung, nicht zuletzt, weil sie am Ausgang familialer Ehre standen.9 Verwandtschaft konnte vor allem durch die Technik der Eheverbindung hergestellt und ausgebaut werden.10 Ein vielfältig bestätigter Trend der Multiplikation der Verwandtenehen in katholischen Gebieten im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert verdeutlicht die Bedeutung der Kategorie Verwandtschaft für diese Periode. David Sabean spricht in diesem Zusammenhang von einer „‚kinship hot‘ society“.11 Ebenso zeigt die hier gemachte Beobachtung für ein reformiertes Territorium die Wichtigkeit des Einflusses der Verwandtschaft auf das Heiratsverhalten ihrer Mitglieder. In dieser Perspektive waren die einzelnen Verwandtschaftsglieder Agenten kollektiver Interessen. Sie hatten der patriarchalen Heiratspolitik dieses hausväterlich organisierten Kollektivs in einer kommunal strukturierten Gesellschaft zu gehorchen, die immer noch vor allem von der Landwirtschaft lebte. Missachteten die Angehörigen diese übergeordneten Interessen, erschienen sie in den Augen der Verwandten eigensinnig und deviant wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird. Sie drohten die geburtsständischen materiellen sowie immateriellen Existenzgrundlagen auszudünnen oder gar zu vernichten. Die Verwandten leisteten in der Folge Widerstand gegen die angestrebte Eheschließung, auch weil diese immer eine Verletzung der patriarchalen Ehre bedeutete. Die von der Allianz von Familie und lokaler Gemeinschaft oder Gesellschaft erhobenen Einsprachen illustrieren dabei das gemeinsame patriarchale Interesse von Familien und kommunalen Gemeinschaften sowie ursprünglich zünftischen Korporationen, in Bern ‚Gesellschaften‘ genannt.12 Die Verbindungslinie bestand darin, dass unmündige Angehörige ohne die patriarchal gedachte Autorisation des Vaters, der Verwandten, der Gemeinden oder zünftischen Gesellschaften und ihren vögtlichen Vertretern „nicht über den Leib, deme das Guth nothwendig folge“, eigenmächtig „sich der Ehe halb freywillig und nach Belieben […] verpflichten“ sollten.13 Gemeinden, ständische Korporationen und Verwandtschaft waren Gemeinschaften, die ihren gemeinsamen Bezugspunkt in den Hausvätern und deren Herrschaft besaßen. Sie alle waren daher, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, an der Wahrung und Reproduktion der hausväterlichen Vorrechte interessiert. Folglich wurden viele Einsprachen auch von Gemeinden erhoben, denen es ebenso darum ging, „den Haushalt in seinem Bestand zu schützen“.14 Wenn Inken Schmidt-Voges schreibt, dass „[d]as Funktionieren häuslicher Ökonomien […] auf die soziale Umwelt angewiesen“ war, so galt auch der Umkehrschluss: Die Gemeinschaft war in ihrer Funktionsweise ebenso angewiesen auf das ökonomische Gelingen der Summe der Haushalte.15

In Bezug auf das Verhältnis von gemeinschaftlichen zu familiären Einsprachen lassen sich zwei Auffälligkeiten feststellen – eine entlang der Kategorie ‚Geschlecht‘ und eine zweite entlang des zeitlichen Verlaufs: Bezüglich des Geschlechts lässt sich in 58 Fällen eindeutig sagen, aus welchem sozialen Umfeld die jeweiligen Opponierenden kamen, ob aus dem der Frau oder jenem des Mannes. 37 Mal war dabei das soziale Umfeld des Mannes verantwortlich für die Einsprache. Das entspricht 64% der Summe der geschlechtlich einem sozialen Umfeld zuweisbaren Fälle. Dagegen erhoben in 21 Fällen die Angehörigen der Frau Einspruch gegen die begehrte eheliche Verbindung. Das entspricht 36% der Fälle, in denen den Opponierenden eine Bezugsperson zuzuordnen ist. 13 Mal (ca. 22% von 58) erhob die Gemeinde des betroffenen Mannes Einsprache gegen die begehrte Eheverbindung. In den vier Fällen, in denen die burgerlichen Gesellschaften aus Bern ihr vormundschaftliches Zugrecht beanspruchten, waren es auch immer jene der Männer (rund 7%). Demgegenüber versuchten Verwandte in 20 Fällen (ca. 33%), ihre männlichen Angehörigen von der begehrten Ehe abzuhalten. Einmal kam es zu einer Allianz zwischen der Familie und der Korporation des ehewilligen Mannes. Diesen Zahlen stehen lediglich fünf Zugrechtsklagen der Gemeinden (ca. 8% von 58 Fällen) der jeweiligen Frauen entgegen, während 15 Mal (ca. 26%) die Verwandten gegen ihre weiblichen Angehörigen einschritten. Diese Ziffern und ihre Proportionen zueinander zeigen, dass die Gemeinden und Gesellschaften der Männer ein größeres ökonomisches Interesse daran hatten, ihre vermeintlich unvermögenden Angehörigen von der Ehe auszuschließen. Dieser Umstand war den patriarchalen Grundsätzen des male-breadwinner/female-houskeeper-Modells geschuldet, dass die Gemeinde des Mannes für den neu gegründeten Haushalt aufkommen musste, wenn sich dieser nicht selbsttragend aufrechterhalten ließ.16 Heirateten Männer, die sich ohnehin in schlechten wirtschaftlichen Situationen befanden und Mühe bekundeten, sich selbst zu erhalten, stieg in der Logik der Gemeinden die Gefahr, dass sie neben dem Mann zusätzlich eine Ehefrau und allfällige Kinder versorgen mussten. Dagegen waren die Gemeinden wesentlich bereitwilliger in der Vergabe der Eheerlaubnis, wenn es sich um die Hochzeiten ihrer armen und besitzlosen weiblichen Angehörigen handelte. Diese fielen mit der Heirat nämlich dem Mann, beziehungsweise der Heimatgemeinde des Mannes zur Last, wenn das Paar unterstützungsbedürftig war oder es nach der Hochzeit wurde. Bei der Betrachtung der Einsprachen aus dem sozialen Umfeld der ehewilligen Frauen fällt dagegen auf, dass die Verwandten dreimal mehr Einsprachen erhoben (15) als die Gemeinden (5). Dieses Verhältnis zeigt, dass die Frauen von ihren Familien, wenn sie eine solche hatten, als wertvolle familiale Ressource betrachtet wurden. Über sie galt es in der ständischen Ehrgesellschaft lukrative sozioökonomische Netzwerke zu erschließen oder bestehende zu unterhalten und auszubauen.17 Dabei stellte der Körper weiblicher Familienmitglieder eine Projektionsfläche für die Ehre des jeweiligen Haushalts und der Familie dar. Diesen Körper galt es vor illegitimer Penetration und unehrenhaften Verbindungen zu bewahren und zur Mehrung der familiären Ehre einzusetzen. Dagegen erschien die männliche Ehre durch heterosexuelle Aktivitäten im zeitgenössischen Verständnis, wenn überhaupt, viel weniger verletzlich.18 Die erwähnte temporale Auffälligkeit zeigt sich darin, dass es eine deutliche Konzentration der familiären Einsprachen in den Samples zu Beginn des Untersuchungszeitraums gab, während sich die kommunalen und korporativen Oppositionen in den letzten beiden Samples verhältnismäßig häuften. Während die Zugrechtsklagen und angebrachten Ehehindernisse aus den Familien zurückgingen, legten die Gemeinden und Korporationen gegen 1800 häufiger Einsprachen beim Oberchorgericht ein. Aufgrund der Fallzahl ist diese Entwicklung isoliert betrachtet noch gering signifikant. Allerdings ist diese Spur in diachroner Perspektive im Auge zu behalten, wenn es am Ende darum geht, den vor- mit dem nachhelvetischen Zeitraum zu vergleichen.

 

Diagramm 2:

Die Anzahl von verwandtschaftlichen zu korporativen und kommunalen Einsprachen im zeitlichen Verlauf (Quellen: StABE B III 824; 826; 827; 829; 830)

Aus Sicht eines ehewilligen Mannes gab es vor allem dann einen Grund eine Zugrechtsklage zu statuieren, wenn die männliche Ehre tangiert wurde. Dies geschah dann, wenn es zu einer Konkurrenzsituation kam, weil zwei Eheversprechen von unterschiedlichen Männern an ein und dieselbe Frau existierten. So erklärt sich im Sample die Eheeinsprache von Jakob Heuberger, der 1786 gegen seinen Nebenbuhler Jakob Brak sein Vorzugsrecht auf die bereits verheiratete Barbara Brak, ehemalige Trinkler, geltend machte. Die Verhandlung drehte sich im Kern um eine Eheanspruchsklage. Formal musste allerdings der benachteiligte Mann eine Einsprache formulieren, die den Vorzug des eigenen Eheanspruchs behauptete, weil die Gültigkeit des konkurrierenden Versprechens, außer aufgrund des Zeitpunkts, nicht in Zweifel gezogen werden konnte. Folglich ging es darum, „das ältere bessere und gegründetere Recht“ auf die Eheschließung zu beanspruchen.19 Weil es sich bei dieser Konkurrenz im vorliegenden Quellenkorpus um einen Einzelfall handelt, lässt das vermuten, dass ähnliche Konflikte entweder selten vorkamen oder außerhalb des höchsten Ehegerichts vor dem lokalen Chorgericht oder in der Gemeinschaft geregelt wurden. Ein Indiz für außergerichtliche Konfliktregulierung stellt der Umstand dar, dass sich das bereits verheiratete Ehepaar Brak vor der Verhandlung im Oberchorgericht zur Trauung in den Kanton Basel abgesetzt hatte, weil es sich vor Vergeltungsmaßnahmen aus dem lokalen Umfeld gefürchtet hatte.20

2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände

Es hat sich bisher gezeigt, dass für das Ancien Régime keine eindeutige sozioökonomische Charakterisierung der AkteurInnen prekärer Ehebegehren vorgenommen werden kann. Hingegen konnte festgestellt werden, dass die Eheschließungen ständeübergreifend und vor allem aus den Reihen der Familien in Frage gestellt wurden. Dabei kamen die Einsprachen öfter aus dem Umfeld der ehewilligen Männer als aus jenem der Frauen. Im Anschluss soll aufgezeigt werden, wie die eigensinnigen Ehevorhaben konfiguriert waren, gegen die sich die kommunalen, familiären und korporativen Einsprachen richteten, respektive in welcher Weise die Opponierenden die matrimonialen Aspirationen zu prekarisieren versuchten. Zum anderen sollen Eigensinn, Ressourcen und Taktiken in den Handlungen der ehewilligen Paare lokalisiert werden, um die Ehebegehren durchzusetzen. Dabei hält sich die vorliegende Arbeit bewusst eng an die Sprache der Quelle. Gerade diese offenbart, dass es sich bei den hier angewendeten heuristischen Konzepten nicht um abstrakte Theorien handelt, sondern dass deren Bezugspunkt eindeutig im Denken und Handeln der untersuchten AkteurInnen liegt.

2.3.1 Hartnäckiger Eigensinn

In den Rekursurkunden umgibt den untersuchten ehelichen Eigensinn ein ganzes Wortfeld, das die eigensinnigen „Widerborstigkeiten“ der AkteurInnen synonym umschreibt,1 charakterisiert und dadurch offenlegt. Das Konzept des Eigensinns kann deshalb im Folgenden nicht nur aus dem Handeln der heiratswilligen AkteurInnen abgeleitet, sondern anhand spezifischer Quellenaussagen sprachlich konkretisiert werden. Dadurch gewinnt es zusätzliche heuristische Evidenz. Das semantische Feld, das „die Distanz einzelner nicht nur gegen ‚oben‘, sondern auch gegen Gleiche“ – Nachbarn, Familienmitglieder und Zunftgenossen – bezeichnet,2 wird hier zunächst mit Eigenschaftswörtern und Synonymen aus dem analysierten Quellenmaterial besetzt. Damit soll hervorgehoben werden, dass es sich bei der Zuschreibung von Eigensinn durch die Oberchorrichter nicht nur um „(Be-)Deutung“, sondern um die konkrete „Alltagswirklichkeit“ der Ehebegehrenden handelte.3 Dieses Vorgehen wird im Sinne des Urhebers des Konzepts, Alf Lüdtke, verstanden, der in seinen Untersuchungen zum Arbeiteralltag am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl auf den expliziten Wortgebrauch als auch die Nutzung verwandter Begrifflichkeiten und Praktiken eingegangen ist. Bei den Wörtern, die sich durch semantische Nähe zum Ursprungsbegriff auszeichnen, handelt es sich nicht um bloße „Text-Metapher[n]“.4 Somit soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass sie nicht einem alltagsfremden „poetischen Reiz“ des Wissenschaftlers, der um „Sinngebung“ ringt, entspringen.5 Sie bringen das von Lüdtke beobachtete Sperrige ebenso zum Ausdruck wie jenen Eigensinn, der im 18. Jahrhundert von Schulmeistern und Geistlichen – in der vorliegenden Untersuchung kommen Richter dazu – wörtlich verwendet wurde. Diese hatten damit aus ihrer Sicht die in den subalternen Schichten stattfindenden „Rüpeleien, Grobheiten oder Wunderlichkeiten“ bezeichnet, die ihren Normen und Strategien fremd gegenüberstanden.6

Ein Fall, der sich besonders gut eignet, um den Eigensinn im Aushandlungsprozess der Eheschließung im Ancien Régime begrifflich zu spezifizieren, ist jener der zwei „Liebhaber“ Charles Isaac Oboussier und Françoise Catt von St. Saphorin, die sich gegenseitig die Ehe versprochen und daraufhin ein außereheliches Kind gezeugt hatten.7 In diesem Prozess verwendete das Gericht explizit den Begriff ‚Eigensinn‘. Konkret erhob der Vater Antoine Oboussier, Handelsmann in Lausanne und Angehöriger der lokalen Aristokratie, am 22. März 1764 Einspruch gegen die intendierte Hochzeit seines Sohnes. Als Grund für die Einsprache führte er dessen erwiesene Minderjährigkeit an. Er forderte daher vom Gericht die Anerkennung seines väterlichen Zugrechts. Über die näheren Gründe für das väterliche Unbehagen an dieser Heirat erfährt man aus der Quelle wenig. Auf den ersten Blick wirkt der Fall für eine prekäre Eheschließung nicht ungewöhnlich. Das Urteil über die eigentliche Hochzeitsangelegenheit war aufgrund der relativ kurzen Urteilsbegründung der Rekursurkunde wohl schnell gefunden worden. Die Richter schlugen sich unisono auf die Seite des Vaters. Unter Berufung auf die geltende Chorgerichtssatzung wurde ihm von den Assessoren das eheliche Zugrecht einstimmig zuerkannt.

Interessant erscheint im Hinblick auf die Charakterisierung des Eigensinns jedoch die untypische Diskussion im Gericht, die entfachte, um „die übrigen Folgen dieses entstandenen Rechts-Handels“ zu klären.8 Denn hier waren sich die Richter in der moralischen Beurteilung des Verhaltens des Angeklagten nicht mehr einig. Beide Lager diskutierten den Eigensinn, bewerteten ihn dabei aber moralisch unterschiedlich. Ihre Meinungen divergierten bei den Fragen, welche Partei die Verfahrenskosten tragen und wem das illegitim gezeugte Kind mit welchem Status zugesprochen werden sollte. Die „mehreren Stimmen“ begünstigten die Frau, die sich dieser Meinung nach einvernehmlich „dem Willen ihres Liebhabers überlassen“ hatte.9 Die Absicht des Minderjährigen sei es gewesen, der Frau ohne väterliches Einverständnis die Ehe zu versprechen und sie zu schwängern. Diese Intention hatte er offensichtlich im Vorfeld der Verhandlung erfolgreich in die Tat umgesetzt. Damit hatten der Eheaspirant und seine Braut den Vater des Mannes vor vollendete Tatsachen gestellt. Diese Tatsache sollte im Anschluss als taktisches Druckmittel dienen, um die Braut ungehindert vor den Traualtar führen zu können. Auf diesem tatkräftigen ehelichen Willen beharrte der Minderjährige nicht nur vor seinem Vater, wofür er von diesem in der Konsequenz vor Gericht gezogen wurde, sondern insistierte im Gerichtssaal ebenso unnachgiebig auf seinem Begehren.10 Damit offenbarte der junge Mann seinen gesetzeswidrigen Eigensinn mit Nachdruck und erfuhr dabei sogar positive Anerkennung von der Mehrzahl der Richter. Sie bewerteten „die unerbittlichkeit des Herzens“ des Vaters nämlich als „höchst traurig“, folgten aber in ihrem Urteil bezüglich der Eheschließung dennoch dem emotionslosen patriarchalen Gesetz.11 Dieses untersagte Minderjährigen ausdrücklich die Heirat ohne elterliches Einverständnis.12 So wird die Ambivalenz zwischen dem restriktiven patriarchalen Gesetz und dem zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Diskurs greifbar, worin sich ein direktes Verhältnis zwischen Staat und Subjekt anbahnte. Zwar stützte das Gericht in seinem Urteil letztlich die patriarchale Macht des Vaters – beziehungsweise es kapitulierte davor. Gleichzeitig tadelte es aber dessen fehlende Vaterliebe in mitfühlender Weise.

Speziell erscheint, dass das eigentlich illegitim gezeugte Kind trotz fehlender nachfolgender Eheschließung von der Mehrheit der Richter dem Vater als ehelich zuerkannt wurde. Die Minderheit votierte gegen dieses Ausnahmeurteil, gleichwohl bezeugte sie ausdrücklich „ein halsstarriges Eigensin“ der Heiratswilligen. Dem Sohn wurde „der noch fortwärende Ungehorsam“ gegen seinen Vater und das Gesetz vorgeworfen.13 Die Frau wurde der „Verachtung aller Wahrnung“ bezichtigt.14 Sie wäre „zeit[ig] verwahrnet worden, sich dieses Junglings zu müßigen, zumahl sie denselben mit verwandtschaftlicher Einwilligung zu ehelichen, sich niemal einiche Hofnung machen sollen“.15 Dennoch hätte sie sich das Versprechen geben und sich dann schwängern lassen. Der Eigensinn dieses Paares würde nun von der Mehrheit im Gericht belohnt, indem dem Großvater ein „NothErb aufgedrungen“ und seinen „gehorsammen Kindern bevorstehender Erbtheil […] geschmalert werden könne“.16 Die patriarchale Kritik hob die Handlungsmacht des heiratswilligen Sohns ex negativo unmissverständlich hervor. Dem Vater und Teilen des Gerichts wurde durch die eigensinnige Hartnäckigkeit des Paares in Bezug auf den Status des Kindes dessen Handlungslogik aufgezwungen.

 

Nach der Schilderung der Hauptmerkmale dieses Falls können einige Attribute des zu Tage tretenden Eigensinns festgehalten werden: Das Paar stemmte sich insistent, oder eben ‚halsstarrig‘, gegen herrschendes Eherecht und patriarchale Macht, um die Legitimierung der angestrebten ehelichen Verbindung zu erreichen. Gleichzeitig weckte es damit das Mitgefühl einiger Richter, worin sich ein gewandeltes Beziehungsverhältnis der obrigkeitlichen Richter zu ihren Untertanen andeutete. Mit seinem Handeln wich der junge Mann aus der Waadt nicht nur von obrigkeitlichen Normen ab, sondern bezog auch klar Stellung gegen seinen Vater. Am Eigensinn schieden sich im Gericht die Geister. Dieser Umstand offenbarte sich in der mehrstimmigen Beurteilung des eigensinnigen Verhaltens. Eigensinn konnte vom Gericht folglich ambivalent ausgelegt werden und sowohl Komplizen- als auch Gegnerschaft evozieren. Im konkreten Fall vermochte der verbal explizierte Eigensinn die paternalistischen Sympathien der Mehrheit der Richter zu gewinnen und eine Ressource im Ringen um den Status des Kindes darzustellen.

Gleichzeitig konnte er aber auch die patriarchale Ablehnung hervorrufen und zum Hindernis für die ehelichen Bestrebungen des Paars werden. Betrachtet man den Anteil der mehrstimmigen Gerichtsentscheide im Verhältnis zur Gesamtzahl der Urteile des Samples zum Ancien Régime, so sieht man, dass 39 Urteile nicht einhellig gefällt wurden. Dies entspricht ungefähr 64% aller für das Ancien Régime untersuchten Fälle prekärer Eheschließung (61). Nur 22 Fälle (36%) wurden von den Assessoren ohne interne Widersprüche beschlossen. Beim Überblick über die einstimmig gefällten Urteile fällt zusätzlich auf, dass die geeinte Stimme der Richter – verteilt über die konkreten Fälle – nicht durchgängig für oder gegen die Ehe votierte. 13 Ehevorhaben wurden einstimmig unterbunden und neun Hochzeiten hießen die Eherichter konsensual gut. Der Eigensinn vermochte zum einen Ressourcen zu mobilisieren, die vor dem Gericht zur Überwindung der Prekarisierung durch das soziale Umfeld beitragen konnten. Zum anderen konnte der Eigensinn gerade aber auch Ursache für die abschlägige Beurteilung durch die Richter sein. Damit widersprach der historisch konkrete Eigensinn in seiner Aneignung der Gesetze und der folgenden richterlichen Beurteilung der binären Gesetzeslogik von Gehorsam und Widerstand: Der Bruch mit der Eindeutigkeit dieser Logik ist laut Lüdtke konstitutiv für eigensinnige Handlungen.17 Dieser Eigensinn bleibt fortwährend ungehorsam, missachtet vorausgegangene Warnungen wissentlich, aber er erscheint dennoch – je nach Betrachtungsweise und Erfolg – zuversichtlich oder fatalistisch, wo streng juristisch gesehen keine Hoffnung besteht. Insofern motiviert und befähigt Eigensinn zum hartnäckigen Handeln. Die Entwicklung von Eigensinn fördert den beharrlichen Einsatz für persönliche Ziele und kann dadurch den „Möglichkeitsraum“ erweitern und „Handlungsoptionen“ eröffnen.18 Dieses zum Handeln motivierende und befähigende Moment macht den Eigensinn selbst zur Ressource.19 Dabei erscheint die Hartnäckigkeit als wesentliches Mittel, um Eigensinn erfolgreich durchzusetzen.20 So ist erfolgreicher Eigensinn oft in ausgeprägter Weise hartnäckig.21 Die Gerichtsurkunde im Fall von Charles Isaac Oboussier und Françoise Catt zeugt unmissverständlich vom unbeugsamen Willen der beiden ‚Liebhaber‘, der sich in illegitimer Sexualität Ausdruck verschaffte und in der ehelichen Anerkennung des Kindes zumindest teilweise Geltung erlangte. Daraus muss gefolgert werden, dass das Potenzial der eigensinnigen Hartnäckigkeit stets im konkreten Fall mit den spezifischen Umständen geprüft werden muss, weil es nie im Vornhinein feststeht.22

Der gescheiterte Heiratsversuch des Lausanner Aristokratensohns und der Frau aus St. Saphorin stellt einen Fall dar, an dem exemplarisch aufgezeigt werden kann, was auf der expliziten Begriffsebene unter matrimonialem Eigensinn in einer ständisch-patriarchal verfassten Gesellschaft verstanden werden konnte und mit welchen Attributen dieser in seiner Zeit versehen wurde. Der Eigensinn fand in vergleichbaren Umschreibungen in zahlreichen weiteren prekären Ehefällen Ausdruck. In den Quellen wurden für den Eigensinn analoge Bezeichnungen und Charakterisierungen verwendet. Der folgende Fall zeigt, dass Frauen und Männer als TrägerInnen des Eigensinns agieren konnten und dieser insofern eine geschlechterübergreifende Ressource darstellte. Im Fall von Anna Heller aus Oberlindach, der sich 1744 ereignete, führte ihr beispielloser „freyer Wille“ zum Widerstand gegen ihre Ehe.23 Ihr Eigensinn sorgte für Irritationen und Ambiguität im Gericht und erfuhr aus unterschiedlichen Gründen sowohl Ablehnung als auch Zuspruch von den Assessoren. Die Verhandlung wurde durch die Gerichtssässen des Oberchorgerichts sogar dreistimmig beurteilt. Der weibliche Wille wurde von der Mehrheit abschließend allerdings für „renitent“ befunden und als „unzüchtig“ und undisziplinierbar stigmatisiert. Der Rekursurkunde zufolge handelte die Braut in ihrem Unterfangen in „vorsezlicher weise“: Der autonome Wille der Frau würde „schandlichen Gedanken“ und „unverantwortlichem Vorsaz“ entspringen.24

Worin der renitente Wille von Anna Heller konkret bestand, zeigt sich bei genauerer Betrachtung der Umstände dieser prekären Eheschließung: Eine Frau, die in einer Vaterschaftsklage vom geständigen Mann die in der Vorstellung der Zeit sozial, ökonomisch und politisch grundsätzlich wert- und ehrenvolle Ressource des ehelichen Standes angeboten bekam, wies dieses Angebot vor Gericht entschieden zurück. Sie war bereit, auf die Ehe zu verzichten und damit tendenziell ihre weibliche Ehre zu opfern. Trotz drohender Unehre verlangte sie nämlich, dass das Kind allein dem Vater als unehelich zugesprochen und sie ledig bleiben würde.25 Im Gericht wurde die Frage verhandelt, ob sie unter diesen Vorzeichen, rechtlich gesehen, überhaupt auf das eheliche Privileg verzichten durfte. Im Falle vorehelicher Schwangerschaft wurden die Frauen im Gericht im Normalfall von einem sogenannten ‚Vogt‘ vertreten, meistens dem Vater oder einem anderen männlichen Verwandten oder Gemeindeverwalter. Dabei versuchte dieser, jeweils im Namen der bevormundeten Frau, die Anerkennung der Vaterschaft durch den Beklagten zu erwirken. Gleichzeitig wurde von der Vormundschaft, im Namen ihres schwangeren Mündels, in der Regel für die Anerkennung eines Eheversprechens durch den angeklagten Mann plädiert. Dadurch sollte die Ehre der Frau und des Kindes, aber vor allem auch die Versorgung der beiden durch eine „Wiedergutmachungsehe“ sichergestellt werden.26 Anna Heller trat im Unterschied zum gewohnten ehegerichtlichen Prozedere ohne Vogt vor die richterliche Männerrunde. Nur ihre Mutter begleitete sie. Das konnte sie, gesetzlich gesehen, zwar 1744 gerade noch tun, da sie volljährig und ledig war. Allerdings konnte in den hier untersuchten Quellen keine weitere, vergleichbare Konstellation beobachtet werden.27 Damit handelte es sich bei Hellers Angelegenheit um einen Sonderfall, für den angenommen werden darf, dass zumindest die gewohnheitsrechtlichen Usanzen im Gericht von der Akteurin arg strapaziert wurden.28 Vor Gericht verlangte die Tochter die väterliche Anerkennung des unehelichen Kindes, wehrte sich aber selbst vehement, den geständigen und sogar heiratswilligen Mann zu ehelichen. Dadurch sträubte sie sich indirekt auch dagegen, das Kind als ehelich zu legitimieren. Wie aus dem Urteil hervorgeht, erhob zwar die Mutter der Anna Heller mittels Zugrecht Einsprache gegen die Eheschließung zwischen ihrer Tochter und dem Kindsvater Bendicht Beutigkofer. Deswegen und wegen des angeblich vorausgegangen Eheversprechens, das von Heller nicht explizit bestritten wurde, wurde dieser Fall konsequenterweise als prekäre Eheschließung qualifiziert. Doch bei genauer Lektüre des Verhandlungsprotokolls wird deutlich, dass der mütterliche Einspruch von der eigensinnigen Tochter angeregt wurde. Weil die Schwangere bereits seit längerer Zeit ihre Volljährigkeit erreicht hatte, stand der Mutter den Richtern zufolge das Zugrecht gar nicht mehr zu. Aus diesem Grund könne das Gericht die Einwände nicht berücksichtigen, „noch auch ihre Tochter selbige zu einem Grund und Ursach brauchen, warumb Sie den Beutigkofer nicht ehelichen wolle“.29 Laut den Richtern ‚brauchte‘ die für hartnäckig befundene Tochter also den Einspruch der Mutter als List, um Beutigkofer nicht heiraten zu müssen. In der verbalen Beurteilung des eigensinnigen Handelns von Anna Heller wurde in der Praxis sehr konkret, was de Certeau in Bezug auf Handlungsmacht der HeldInnen des Alltags meint, wenn er beschreibt, wie „die Verbraucher[Innen] […] mit und in der herrschenden Kulturökonomie die zahlreichen und unendlichen Metamorphosen des Gesetzes dieser Ökonomie in die Ökonomie ihrer eigenen Interessen und Regeln ’um[zu]frisieren’“ versuchten. In vergleichbarem Sinne versuchte Heller das Zugrecht ihrer Mutter als äußerstes „Hilfsmittel“ einzusetzen, um nicht heiraten zu müssen.30