Schlüsselbegriffe der Public History

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16 Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2015.

17 Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.

18 Aus dem Kriegstagebuch unseres Jungen, Berlin 1919, S. 8, online abrufbar unter https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN73859301X&PHYSID=PHYS_0003, letzter Zugriff 15.1.2021.

19 Siehe auch Daniel Morat: Der Sound der Heimatfront. Klanghandeln im Berlin des Ersten Weltkriegs, in: Historische Anthropologie 22/3 (2014), S. 350–363.

20 Ute Frevert: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft 35/2 (2009), S. 183–209, hier S. 202.

21 Arlie Russell Hochschild: Emotion work, feeling rules, and social structure, in: The American journal of sociology 85/3 (1979), S. 551–575, hier S. 573.

22 Sara Ahmed: Collective feelings: Or, the impression left by Others, in: Theory, Culture & society 21/2 (2004), S. 25–42, hier S. 30.

23 Monique Scheer: Emotionspraktiken. Wie man über das Tun an die Gefühle herankommt, in: Matthias Beitl/Ingo Schneider (Hg.): Emotional Turn?! Europäisch ethnologische Zugänge zu Gefühlen & Gefühlswelten, Wien 2016, S. 15–36, hier S. 16.

24 Nancy Scheper-Hughes/Margret M. Lock: The Mindful Body: A Prolegomenon to Future Work in Medical Anthropology, in: Medical Anthropology Quarterly, New Series 1/1 (1987), S. 6–41, hier S. 6.

25 Simon Bunke: Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg 2009, S. 25 f.

26 Ebd., S. 35.

27 Ebd., S. 83.

28 Juliane Brauer: Heidi’s Homesickness, in: Ute Frevert u. a. (Hg.): Learning How to Feel: Children’s Literature and Emotional Socialization, 1870–1970, Oxford 2014, S. 209–227.

29 S. P. Widmann: Heimweh, in: Otto Willmann/Ernst M. Roloff (Hg.): Lexikon der Pädagogik, Bd. 2, Freiburg 1913, S. 703–705, hier S. 703.

30 Martin Sabrow: Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012, S. 13.

31 Aktuelle empirische Studie über Emotionen an Gedenkorten: Matthias Wider: „Man muss es gesehen haben, um es zu verstehen“. Zur Wirkung von historischen Orten auf Schülerinnen und Schüler, Hamburg 2018.

32 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlung zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften, Bd. 5), Göttingen 1961 (1900), S. 317–338, hier S. 317.

33 Daniel Morat: Verstehen als Gefühlsmethode. Zu Wilhelm Diltheys hermeneutischer Grundlegung der Geisteswissenschaften, in: Uffa Jensen/Daniel Morat (Hg.): Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, München 2008, S. 101–117, hier S. 103.

34 Bodo von Borries: Von gesinnungsbildenden Erlebnissen zur Kultivierung der Affekte? Über Ziele und Wirkungen von Geschichtslernen in Deutschland, in: Bernd Mütter u. a. (Hg.): Emotionen und historisches Lernen. Forschung, Vermittlung, Rezeption, Frankfurt a.M. 1994, S. 67–92, hier S. 67.

35 Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik, Göttingen 2005, S. 165: „Emotionales Lernen besteht zwar auch im Ausleben und Innewerden von Gefühlen, vor allem aber in deren kognitiver Verarbeitung“.

36 Borries: Von gesinnungsbildenden Erlebnissen, S. 67.

37 Bernd Mütter u. a. (Hg.): Emotionen und historisches Lernen. Forschung, Vermittlung, Rezeption, Frankfurt a.M. 1994.

38 Juliane Brauer/Martin Lücke (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013.

39 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 349.

40 Matthias Heyl: Mit Überwältigendem überwältigen. Emotionen in KZ-Gedenkstätten, in: Juliane Brauer/Martin Lücke (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 239–260, hier S. 247.

41 Juliane Brauer: ‚Heiße Geschichte‘? Emotionen und historisches Lernen in Museen und Gedenkstätten, in: Sarah Willner u. a. (Hg.): Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur, Münster 2016, S. 29–44, hier S. 29.

42 Georg Koch: Funde und Fiktionen. Urgeschichte im deutschen und britischen Fernsehen seit den 1950er Jahren, Göttingen 2019, S. 155 f.

43 Aus der Vorstellung des Panoramas auf der Webseite Die Mauer. Yadegar Asisi Panorama, www.die-mauer.de, letzter Zugriff: 15.1.2021.

44 Sehenswert! // Die Mauer – Asisi Panorama Berlin, in: YouTube-Kanal von TV.Berlin, 4.3.2016 (mit einem gut 10-minütigen Interview mit dem Künstler), https://www.youtube.com/watch?v=yndYqG4ao6w, letzter Zugriff 15.1.2021.

45 So die eigene Beschreibung auf der Webseite, https://www.asisi.de/panorama/diemauer, letzter Zugriff: 15.1.2021.

46 Siehe die Sonderausgabe des vom Online-Portal Lernen aus der Geschichte herausgegebenen LaG-Magazins 11 (2012): Emotionalität und Kontroversität.

47 Hans-Georg Wehling: Konsens à la Beutelsbach?, in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 179–180, hier S. 179.

48 Elena Demke: Emotionale Harmonisierung oder intellektuelle Provokation? Zur Darstellung von Emotionalität in Besuchervideos von Gedenkstättenbesuchen, in: LaG-Magazin 11 (2012): Sonderheft: Emotionalität und Kontroversität, S. 11–14, hier S. 13; Heyl: Mit Überwältigendem überwältigen.

4Erinnerung und Gedächtnis

4.1Einleitung

2006 wurde in Mainz der gemeinnützige Verein Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der Nation e.V. gegründet, um Erinnerungen von Zeitzeug_innen zur deutschen Geschichte zu sammeln und sie für spätere Generationen zu bewahren. Hierfür schickte der Verein ab 2011 den „Jahrhundertbus“, ein mobiles Aufnahmestudio, quer durch Deutschland. Nach entsprechender Ankündigung in den lokalen und regionalen Medien machte dieser Bus in zahlreichen deutschen Städten Station, um individuelle Erinnerungen an Erlebtes auf Video aufzuzeichnen. Das Projekt profitierte von der Prominenz seiner Initiatoren: Guido Knopp, damaliger Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte, und Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der Chefredaktion des Wochenmagazins Stern. Insgesamt wurden rund 1.000 Interviews geführt,1 vom Verein verstanden als „Mosaiksteine im Geschichtsbild einer Nation“, die „das Selbstverständnis einer Gesellschaft“ prägen.2 Die im visuellen Stil von ZDF-Dokumentationen aufgenommenen Interviews wurden in Form von kurzen Clips online zugänglich gemacht, wobei das Portal Themen wie den Alltag im geteilten Deutschland, den Holocaust oder Deutschland als Migrationsgesellschaft hervorhob. Die Interviewausschnitte wurden zudem durch didaktische Handreichungen ergänzt.3

Aus der Selbstbeschreibung des Vereins wird deutlich, dass sich „Das Gedächtnis der Nation“ als Beitrag zur Erinnerungskultur versteht. Das Projekt zielt darauf ab, durch das Sammeln und Zugänglichmachen von individuellen Erinnerungen ein kollektives Gedächtnis zu schaffen und damit (nationale) Gemeinschaft zu stiften. Am Beispiel dieser Zeitzeug_innensammlung zeigt sich sowohl die gesellschaftliche Funktion, die der Erinnerung zukommt, als auch die politische Dimension, die nicht nur dem Mainzer Projekt innewohnt, sondern dem kulturellen Gedächtnis generell. So werden beispielsweise nur bestimmte Erinnerungen ausgewählt und ins ‚Gedächtnis‘ aufgenommen, es werden Kategorien gebildet und einige Themen, die als besonders relevant gelten, werden in Schulen, Bildungseinrichtungen, Museen oder Gedenkstätten zusätzlich hervorgehoben.

Um die Begriffe Gedächtnis und Erinnerung für die Public History nutzbar zu machen, werden wir im Folgenden ihre Herkunft und gegenwärtige wissenschaftliche Verwendung, aber auch ihre Vielschichtigkeit skizzieren, wobei ihre konzeptionellen Stärken und Schwächen zur Sprache kommen werden. Dafür werden wir die für fast alle Gedächtnismodelle grundsätzlichen Begriffe des kollektiven und des kulturellen Gedächtnisses sowie das Konzept der Erinnerungsorte vorstellen und ebenso auf Bilder und Medien eingehen, die in diesen Begriffen mitverhandelt werden. Darüber hinaus werden wir eine Auswahl von neueren Überlegungen vorstellen, die den oft statischen und (implizit) nationalen Bezugsrahmen der grundlegenden Gedächtnismodelle problematisieren, und diese um ‚grenzüberschreitende‘ und damit fluide Konzepte erweitern. Abschließend werden wir am Beispiel von (Zeit-)Zeug_innen des Holocaust die praxisorientierte Relevanz der theoretischen Konzepte aufzeigen.

4.2Begriff und Konzept

Gedächtnis und Erinnerung

Zunächst soll festgehalten werden, dass wir hier keine etymologisch fundierte Unterscheidung zwischen Erinnerung und Gedächtnis vornehmen. Obwohl teilweise auf Erinnerung als individuellen Vorgang und auf das Gedächtnis als mentale und gesellschaftliche Struktur oder Behälter rekurriert wird, werden beide Begriffe in der deutschsprachigen Forschungsliteratur spätestens seit der Etablierung des Konzepts des kulturellen Gedächtnisses bzw. seit der Einführung des Begriffs der Erinnerungskultur Anfang der 2000er Jahre synonym verwendet. Andere Sprachen lassen eine Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Erinnerung von vornherein nicht zu, wie beispielsweise der englische Begriff memory zeigt. Wir beziehen uns hier jedoch vor allem auf die deutschsprachige Debatte und stellen daher Begriffsfelder vor, die den deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs geprägt haben. Dabei beschäftigen wir uns vor allem mit dem Begriff des Gedächtnisses und seiner Ausdifferenzierung. Den Begriff der Erinnerungskultur (vgl. Infobox) verfolgen wir hier ebenso wenig weiter wie feldverwandte englischsprachige Begriffe, etwa cultural heritage (vgl. Kap. 7).

 

Gedächtnis als Metapher

Der im Kontext der Public History verwendete Gedächtnisbegriff ist eine Metapher, mit der Körperfunktionen oder Eigenschaften von Individuen für ein Kollektiv geltend gemacht werden. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die individuelle Erinnerung ganz anders funktioniert als das ‚Gedächtnis‘ einer Gruppe.4 Die Gedächtnismetapher trägt zum einen zur Homogenisierung einer heterogenen Gruppe bei, indem sie die vielfältigen und widersprüchlichen Erinnerungen ihrer Mitglieder in ein gleichförmiges ‚Gedächtnis‘ überführt. Zum anderen geht damit eine Naturalisierung von gesellschaftlichen Strukturen und politischen Dynamiken einher, die bestimmen, was erinnert wird. Diesem gesellschaftspolitischen Prozess des Erinnerns trägt die Metapher des Gedächtnisses keine Rechnung.

Erinnerungskultur

Der Begriff der Erinnerungskultur kann heute als Leitbegriff der deutschsprachigen geschichtswissenschaftlichen Erinnerungsforschung gelten. Jenseits der oben beschriebenen Popularisierung des Erinnerungsbegriffs und seiner Verknüpfung mit der eigenen Kultur als identitätsstiftender Markierung ist der Begriff der Erinnerungskultur seit den 2000er Jahren maßgeblich von Christoph Cornelißen geprägt worden, der ihn als Oberbegriff für verschiedene Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse versteht. Cornelißen kann den Begriff darüber hinaus schärfen, indem er vier Dimensionen der Erforschung von Erinnerung definiert: 1) die sozialen Rahmenbedingungen, in denen eine Erinnerung verhandelt wird und die z. B. auf ökonomische, gesellschaftliche, generationelle oder andere hegemoniale Strukturen überprüft werden können, 2) die Nation als noch immer zentraler Deutungshorizont von Erinnerungen, 3) Glaube und Ideologien, also Deutungsmuster, die so stark sind, dass sie die Ausformung von Erinnerungen bei Sinnbildung und Narrativierung beeinflussen, 4) Medien, mit denen Erinnerungen kommuniziert werden, die diese aber auch durch ihre jeweilige Spezifik formen. Der Begriff der Erinnerungskultur wurde vor allem auf die neuere deutsche Geschichte angewendet und hat in Bezug auf andere Epochen wenig Nachhall gefunden. Cornelißen hatte ihn in einem Zeitfenster etabliert, als die Geschichtsdidaktik den Begriff der Geschichtskultur (vgl. Kap. 6) erfolgreich eingeführt hatte. In der Begriffsbildung zeigt sich also auch ein ‚Wettstreit‘ innerhalb der Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft.

Leseempfehlung

Cornelißen, Christoph: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54/10 (2003), S. 548–563; ders.: Erinnerungskulturen (Version: 2.0), in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, http://docupedia.de/zg/cornelissen_erinnerungskulturen_v2_de_2012, letzter Zugriff: 27.8.2020.

4.2.1Kollektives Gedächtnis

Maurice Halbwachs: kollektives Gedächtnis

Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien beziehen sich fast durchgehend auf den Begriff der mémoire collective, des kollektiven Gedächtnisses, den Maurice Halbwachs in mehreren Schriften in den 1920er bis 1940er Jahren entwickelt hat. Als Soziologe war Halbwachs am Verhältnis von Individuum und Gesellschaft interessiert und knüpfte für seine Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis dementsprechend an Konzepte an, die von einem Zusammenhang zwischen individuellen Wahrnehmungen und soziokulturellem Bezugsrahmen ausgehen.5 Im Hinblick auf Erinnerungen an vergangene Ereignisse argumentiert Halbwachs, dass sich kohärente Erinnerungen von Individuen nur durch Kommunikation und Interaktion herausbilden und stabilisieren können. Diese soziale Prägung individueller Erinnerungen zeigt sich beispielsweise bei Kindheitserinnerungen, in denen sich eigene Erinnerungsfragmente mit Erzählungen von anderen vermischen.6

Gedächtnis von sozialen Gruppen

Nach Halbwachs tragen entsprechende Nacherzählungen sowie andere Erinnerungspraktiken zugleich zum kollektiven Gedächtnis einer sozialen Gruppe bei, aus dem sie sich speisen. Eine soziale Gruppe kann dabei eine Familie sein, die die Erinnerungen ihrer Angehörigen strukturiert, eine religiöse Gemeinschaft oder eine soziale Klasse, in der beispielsweise Erinnerungen an Lebens- und Arbeitsbedingungen oder soziale Errungenschaften geteilt werden.7 Gruppen teilen und formen zugleich ein kollektives Gedächtnis, d. h., individuelle Erinnerung und kollektives Gedächtnis durchdringen sich wechselseitig. Sie sind gruppenspezifisch und tragen zur Konstruktion und Reproduktion von kollektiver Identität bei. Während Halbwachs kaum Berührungspunkte zwischen den Erinnerungen von sozialen Gruppen und der Geschichte einer Nation sieht,8 zeigt das eingangs beschriebene Beispiel, dass inzwischen auch Nationen als soziale Gruppen gelten, deren Identität durch ein gemeinsames Gedächtnis gestärkt werden soll.

Gelebte und gelernte Geschichte

Halbwachs ordnet die individuelle Erinnerung und das kollektive Gedächtnis der „gelebten Geschichte“ zu, die sich durch Alltagskommunikation innerhalb einer sozialen Gruppe konstituiert und somit veränderlich ist. Von der gelebten Geschichte grenzt er die „gelernte“ bzw. „geschriebene Geschichte“ ab,9 die „in Büchern gelesen“ und in Schulen gelehrt wird.10 Geschichte stellt die vergangenen Ereignisse in ihrer Totalität (und möglichst objektiv und unparteiisch) dar, womit sie sich vom partikularen Gedächtnis einer sozialen Gruppe unterscheidet.11

Halbwachs’ Grenzziehung zwischen Erinnerung/Gedächtnis und Geschichte ist vor dem Hintergrund der disziplinären Entwicklung der Geschichtswissenschaft zu verstehen. Zum Zeitpunkt seines Schaffens existierte die Zeitgeschichtsschreibung, wie wir sie heute als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft kennen, noch nicht. Durch deren Etablierung lässt sich Halbwachs’ strikte Unterscheidung zwischen einerseits erinnerter und andererseits wissenschaftlich interpretierter Vergangenheit nicht mehr aufrechterhalten.

Kollektives Gedächtnis und Public History

Dennoch lässt sich das Konzept des kollektiven Gedächtnisses für die Public History produktiv machen, da es die Dynamiken von und Konflikte um Public-History-Projekte zu erklären vermag. Zum einen schärft es den Blick für die Funktionsweisen und Mechanismen der Public History, die mit ihrer Adressierung von Emotionen und der Betonung von Erfahrungen darauf zielt, „gelernte Geschichte“ zurück in die „gelebte Geschichte“ des kollektiven Gedächtnisses zu holen (mit dem Begriff prosthetic memory wird auf eine theoretische Fassung dieses Verfahrens unten noch zurückzukommen sein). Zum anderen hilft das Konzept, die Komplikationen zu erklären, die insbesondere zeithistorische Projekte mit sich bringen. Sie lassen sich als kommunikative Praxis verstehen, mit der innerhalb einer sozialen Gruppe Erinnerungen stabilisiert werden.12 Zugleich basieren sie in der Regel auf dem kollektiven Gedächtnis einer spezifischen Gruppe, das dem einer anderen Erinnerungsgemeinschaft erheblich widersprechen kann. Daher gehen Planung, Konzeption und Umsetzung zeithistorischer Public-History-Angebote oft mit Konflikten um die Etablierung einer spezifischen Erinnerung als allgemein anerkannte (Zeit-)Geschichte einher. Hierfür sind im deutschen Kontext die Reaktionen ehemaliger Soldaten und Angehöriger der politischen Rechten auf die erste sogenannte Wehrmachtsausstellung, in der die Verbrechen der Wehrmacht und ihre aktive Beteiligung am Vernichtungskrieg anhand privater Fotografien dargestellt wurde,13 ebenso ein Beispiel wie das Erinnern an die DDR, deren Darstellung als Diktaturgeschichte oft nicht mit den lebensweltlichen Erinnerungen ehemaliger DDR-Bürger_innen übereinstimmt.14

4.2.2Bildgedächtnis

Aby Warburg: Pathosformel

Auch die Forschungen des Kunst- und Kulturwissenschaftlers Aby Warburg, der sich in den 1920er Jahren mit dem europäischen Bildgedächtnis beschäftigt hat, liefern interessante Einsichten für unser Verständnis des kollektiven Gedächtnisses.15 Um das Nachleben der Antike in der Kunst der Renaissance zu verdeutlichen, erstellte Warburg einen unvollendet gebliebenen Mnemosyne-Atlas, in dem er unterschiedliche Kunstwerke zu thematischen Bildtafeln oder Bilderreihen kombinierte (vgl. Kap. 11 Rezeption).16 Diesem Projekt liegen theoretische Überlegungen zur Erinnerungsfunktion von Bildern zugrunde.

Warburg zufolge vergegenständlichen sich Erfahrungen in Ausdrucksbewegungen, die in Kunstwerken in Form von spezifischen Bildformeln festgehalten sind.17 In diesen „Pathosformeln“ – so der von Warburg geprägte Begriff – manifestieren sich die „Extremwerte menschlicher Erfahrung“, die sich dem „kollektiven Gedächtnis ein[prägen]“.18 Wichtig ist hierbei, dass das Affektpotenzial der Pathosformeln, etwa die den Bildern eingeschriebenen Ängste und Erregungen, nach Warburg auch Generationen später noch wirksam ist. Bilder tradieren also unbewusst vergangene Erfahrungen, die beim Betrachten erneut aktiviert werden können. Zwar interessierte sich Warburg aus kunsthistorischer Perspektive für antike Bildformeln, die in Kunstwerken der Renaissance wieder aufgegriffen wurden, um die „Ausdruckskraft der Bilder“ zu steigern,19 doch die These, dass Bilder neben ihrem Erinnerungspotenzial auch eine affektive Kraft besitzen, ist von weitreichenderer Bedeutung und muss in der Public History bei der Beschäftigung mit Bildern immer mitberücksichtigt werden.

Bildgedächtnis in Fotografien

So hat die Anthropologin Cornelia Brink in ihrer Analyse des „öffentliche[n] Gebrauch[s] von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945“ (so der Untertitel ihrer Studie) beispielsweise gezeigt, dass sich diese Aufnahmen an älteren Bildtraditionen orientieren und dadurch an spezifische Sehgewohnheiten und Gefühlseinstellungen anknüpfen, die bei öffentlichen Präsentationen der Bilder wiederum erneut aktiviert werden.20 Eine kritische Analyse der Bildauswahl von Ausstellungen lässt daher nicht nur interessante Rückschlüsse auf die Funktion zu, die den Fotografien im jeweiligen Ausstellungskontext zugedacht wird (z. B. Ereignis belegen, Mitleid wecken, den_die Betrachter_in schockieren/konfrontieren). Sie verdeutlicht auch die Interpretation, die der jeweiligen Präsentation des historischen Ereignisses zugrunde liegt. So kann sich eine Ausstellung je nach Auswahl und Kombination der Bilder entweder mit ‚Verbrechen an den europäischen Jüd_innen‘ auseinandersetzen oder aber den ‚Leidensweg der Jüd_innen‘ in den Fokus nehmen.

4.2.3Kulturelles Gedächtnis

Eine systematische Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis setzte in Westeuropa in den 1980er Jahren ein, als die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit an Bedeutung gewann. Neben den Erinnerungen selbst wurden in diesem Zusammenhang auch Erinnerungspraktiken und -formen neu verhandelt. Literatur- und Kulturwissenschaftler_innen begannen sich verstärkt für die Ausformungen und Dynamiken des kollektiven Gedächtnisses zu interessieren; und auch in der Geschichtswissenschaft konnten sich Erinnerungen als Forschungsgegenstand, nicht zuletzt über neue methodische Zugänge wie die Oral History, etablieren.

Aleida und Jan Assmann: kommunikatives und kulturelles Gedächtnis

Im deutschsprachigen Raum prägten vor allem der Ägyptologe Jan Assmann und die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann die Terminologie. Beide untersuchten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive die Formen und Veränderungen des Erinnerns. Ihr Gedächtnismodell wurde anhand vielfältiger Phänomene aus unterschiedlichsten Epochen entwickelt, von den Mnemotechniken schriftloser Kulturen über jüdische Festtage, mit denen an vorbiblische Exilerfahrungen erinnert wird, bis zu Shakespeares Historiendramen oder Installationen von Gegenwartskünstler_innen. In Anlehnung an Halbwachs’ Gedächtniskonzeption unterscheiden Aleida und Jan Assmann zwei Formen des kollektiven Gedächtnisses: das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis. Als kulturelles Gedächtnis wird dabei ein epochenübergreifendes Gedächtnis verstanden, das im Bereich der „objektivierten Kultur“21 angesiedelt und „durch normative Texte gestützt ist“.22 Als Sammelbegriff bezeichnet das kulturelle Gedächtnis „alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht“.23 Im Gegensatz dazu bezieht sich das kommunikative Gedächtnis auf mündlich weitergegebene und in der Alltagskommunikation aktualisierte Erinnerung von Zeitzeug_innen und umfasst in der Regel drei bis vier Generationen.24 Der Übergang von der lebendigen, geteilten Erinnerung zur offiziellen Überlieferung des kulturellen Gedächtnisses vollzieht sich durch Objektivation, wie etwa Verschriftlichung von persönlichen Erinnerungen, durch Denkmale, Archivierung, verpflichtende Schulcurricula oder Ritualisierung wie Gedenktage.25

 

Funktions- und Speichergedächtnis

Aleida Assmann unterscheidet darüber hinaus zwischen Funktions- und Speichergedächtnis.26 Als Funktionsgedächtnis wird die notwendigerweise selektive Erinnerung bezeichnet, auf die sich eine Gemeinschaft in ihrem Sinngebungs- und Identitätsbildungsprozess bezieht, wohingegen es sich beim Speichergedächtnis um ein Reservoir von unstrukturierten, ungenutzten Erinnerungen handelt. Die Inhalte des Speichergedächtnisses können allerdings jederzeit wieder aktualisiert und damit zum Bestandteil des Funktionsgedächtnisses werden. Während die Erinnerungen im Funktionsgedächtnis permanent in Gebrauch sind, ist das Speichergedächtnis auf Speichermedien wie die Schrift angewiesen, die es ermöglichen, Informationen über die Vergangenheit unabhängig von der gegenwärtigen Erinnerung aufzubewahren. In europäischen Gesellschaften sind es in der Regel Archive und Museen, die Dokumente und Objekte der Vergangenheit sammeln und pflegen und somit als wortwörtliche ‚Speicher‘ fungieren.

Vergessen und Aktualisierung

Diese Differenzierung des kulturellen Gedächtnisses verweist auf ein weiteres zentrales, aber meist implizites Element verschiedener Gedächtnistheorien: Dem Erinnern steht das Vergessen gegenüber. Vergessen ist ein notwendiger Prozess, da nicht alle Informationen über die Vergangenheit, die in Schriftkulturen zur Verfügung stehen, aktuell erinnert werden können. Die Unterscheidung von Funktions- und Speichergedächtnis trägt der Tatsache Rechnung, dass Überlieferungen oder vergangene Erfahrungen nicht verloren gehen, auch wenn sie in den jeweils aktuellen Sinngebungsprozessen keine Rolle spielen. Sie befinden sich vielmehr im Speichergedächtnis und sind damit potenziell aktualisierbar, wie die Sammlungsbestände eines Museumsdepots im Fall des kulturellen Gedächtnisses. Die dort versammelten materiellen Zeugnisse können über Impulse aus der Gegenwart jederzeit neu befragt werden und als aktualisierte Deutung wieder in eine Ausstellung gelangen.

Damnatio memoriae und koloniale Aphasie

Demgegenüber gibt es allerdings auch eine aktive und meist rituell durchgeformte Praxis des Vergessens, bei der – wie etwa in der kolonialen Aphasie oder der damnatio memoriae – ein gesellschaftliches Erinnerungsverbot auferlegt bzw. vorsätzlich eine Erinnerungslücke produziert wird.27 Für das antike Rom ist die ‚Verdammung des Andenkens‘, mit der die Zerstörung von materiellen Zeugnissen und Erinnerungsobjekten wie Statuen oder Aufzeichnungen bzw. die Rasur der Namen von öffentlichen Inschriften einhergeht, gut erforscht.28 Diese Art der sichtbaren Tilgung verweist damit gleichzeitig auf ein Gebot der Erinnerung an die damnatio memoriae selbst. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der kolonialen Aphasie steht hingegen noch am Anfang. Bei diesem ‚Sprachverlust‘ in Bezug auf unsere koloniale Vergangenheit geht es um die fehlende Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, der maßgeblich zum Reichtum und Wissen des modernen Europas beigetragen hat, in Geschichtsdarstellungen jedoch oft ausgeblendet wird.29 Neben den Postcolonial Studies, deren theoretische Konzepte im deutschsprachigen Raum noch wenig rezipiert werden, findet die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe Europas momentan vor allem im Rahmen von Debatten über die Restitution von Kulturgütern bzw. der Provenienzforschung statt.30

Politische Dimensionen des Vergessens

Die politische Dimension des Vergessens zeigt sich nicht nur im Fall von totalitären Regimen, die das Erinnern an Widerstandsbewegungen oder politische Gegner_innen unterbinden oder die nach ihrem Ende – wie im Fall des Stalinismus – selbst vergessen werden sollen. Das Vergessen war auch eine wesentliche Voraussetzung des Kolonialismus, der die reichhaltigen Kulturen in den kolonisierten Ländern negierte oder vernichtete, um sich selbst als zivilisatorisches Projekt etablieren zu können. Diese Auslöschung der kulturellen Traditionen beschreibt Aimé Césaire als „forgetting machine“.31 Mit der Beendigung des Kolonialismus wurde in vielen europäischen Ländern außerdem – als Voraussetzung seiner retrospektiven Idealisierung – auch die Gewalt vergessen, die mit der Herrschaft in den Kolonien einherging. Inzwischen findet eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Themen sowohl in der Wissenschaft als auch in der Public History statt,32 vor deren Hintergrund die Black-Lives-Matter-Bewegung 2020 auch in Europa Impulse setzen konnte. Auch das lange Schweigen über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft kann in diesem Sinne verstanden werden.33 Es fungierte nicht nur als Entlastungsmechanismus, sondern schaffte auch eine ‚Komplizenschaft‘, die – oftmals auf Kosten der Opfer und Verfolgten – die Gesellschaft in der Gründungsphase der BRD zusammenhielt. Aleida Assmann nennt in diesem Zusammenhang Schweigen, Opfer-Syndrom und Anti-Kommunismus als Mechanismen, mit denen Schuld abgewehrt und zugleich Erinnerung eingefroren wurde.34

Vergangenheitsbewältigung, Vergangenheitsaufarbeitung und Geschichtspolitik

Der Begriff der Vergangenheitsbewältigung wurde in der frühen Bundesrepublik geprägt und bezeichnet vor allem Bestrebungen, die juristischen, politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Verbrechen des Nationalsozialismus zu überwinden und innenpolitisch zu moderieren. Er bezeichnet damit die Versuche in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu leben. In der Zeitgeschichtsforschung ist der Begriff der Vergangenheitsbewältigung umstritten und wird daher meist in Anführungszeichen gesetzt, weil er impliziert, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortlichkeit und Schuld ein abschließbarer Prozess ist, der dann endet, wenn die schuldhafte Vergangenheit bewältigt ist. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht ungeschehen machen und die Auseinandersetzung damit darf eben nicht dazu führen, dass ein Schlussstrich darunter gezogen wird. Daher wurde als Alternative der Begriff der Vergangenheitsaufarbeitung vorgeschlagen, der wesentlich aktivischer ist und grundsätzlich auf einen Prozess ohne definierbares Ende verweist und damit generationsübergreifend funktioniert. Er bezeichnet die politische und gesellschaftliche Aufgabe einer andauernden Auseinandersetzung mit vergangener Gewalt- und Unrechtsgeschichte, unabhängig davon, ob aufgrund individueller Verstrickungen etwas bewältigt werden müsste. In dieser Bedeutung wird ‚Vergangenheitsaufarbeitung‘ seit den frühen 1990er Jahren auch für die Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR benutzt.

Der Begriff der Geschichtspolitik wiederum wurde in den 1980er Jahren von westdeutschen Historiker_innen geprägt und fokussiert vor allem Strategien und Entscheidungen politischer Funktionsträger_innen im ersten Nachkriegsjahrzehnt, die darauf abzielten, bestimmte Erinnerungen und Erinnerungspraktiken zu installieren und zu festigen, um somit zu regulieren, an was erinnert wird und an was nicht. Damit benennt dieser Begriff den gezielten politischen Umgang mit Erinnerung und Vergessen seit der Adenauer-Zeit.

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