Schlüsselbegriffe der Public History

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38 Einführend: Jürgen Martschukat: Geschichtswissenschaft und „performative turn“: Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur, in: ders./Steffen Patzold (Hg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln 2003, S. 1–32.

39 Vgl. Stefan Burmeister: Der schöne Schein. Aura und Authentizität im Museum, in: Martin Fitzenreiter (Hg.): Authentizität. Artefakt und Versprechen in der Archäologie, Workshop vom 10. bis 12. Mai 2013, Ägyptisches Museum der Universität Bonn, London 2014, S. 99–108, hier S. 99.

40 Ebd., S. 102 f.

41 Einführend: Luise Reitstätter: Die Ausstellung verhandeln. Von Interaktionen im musealen Raum, Bielefeld 2015; Heike Buschmann: Geschichten im Raum. Erzähltheorie als Museumsanalyse, in: Joachim Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2010, S. 149–169.

42 Vgl. Burmeister: Der schöne Schein, S. 106.

43 Vgl. Deutscher Bundestag: Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen, Drucksache 16/9875, 19.6.2008, S. 3, https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/098/1609875.pdf, S. 18, letzter Zugriff: 26.12.2020.

44 Als exemplarische Studie hierzu: Sybille Frank: Der Mauer um die Wette gedenken: Die Formation einer Heritage-Industrie am Berliner Checkpoint Charlie, New York/Frankfurt a.M. 2009.

45 Beispielhaft hierzu Christine Gundermann: „Die Quellen sprechen für sich!“ Die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ in Leipzig als Lernort, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70/7–8 (2019), S. 418–435. Siehe auch Juliane Brauer/Irmgard Zündorf: DDR-Geschichte vermitteln. Lehren und Lernen an Orten der DDR-Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70/7–8 (2019), S. 373–389.

46 Saskia Handro: Musealisierte Zeitzeugen. Ein Dilemma, in: Public History Weekly 2/14 (2014), https://public-history-weekly.degruyter.com/2-2014-14/musealisierte-zeitzeugen-ein-dilemma, letzter Zugriff: 28.11.2020.

47 Vgl. Wolfgang Hochbruck: Geschichtstheater. Formen der „Living History“. Eine Typologie, Bielefeld 2013. Zum Zusammenhang von Authentizität und Inszenierung siehe: Sabine Schindler: Authentizität und Inszenierung. Die Vermittlung von Geschichte an amerikanischen historic sites, Heidelberg 2003.

48 Vgl. Stefanie Samida: Krieg(s)spiele(n), in: Forum Kritische Archäologie 4 (2015), S. 13–15, hier S. 13.

49 Vgl. Miriam Sénécheau/Stefanie Samida: Living History als Gegenstand Historischen Lernens, Stuttgart 2016, S. 46.

50 Vgl. Berit Pleitner: Erlebnis- und erfahrungsorientierte Zugänge zur Geschichte: Living History und Reenactment, in: Sabine Horn/Michael Sauer (Hg.): Geschichte und Öffentlichkeit, Göttingen 2009, S. 40–47, hier S. 46.

51 Vgl. Wolfgang Hochbruck: Reenacting Across Six Generations, 1863–1963, in: Sarah Willner u. a. (Hg.): Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur, Münster 2016, S. 97–116.

52 Siehe hierzu Monika Beyerle: Authentisierungsstrategien im Dokumentarfilm. Das amerikanische Direct Cinema der 60er Jahre, Trier 1997.

53 Vgl. Judith Keilbach: Authentizität als filmische Konstruktion, in: Christoph Classen u. a. (Hg.): Echt inszeniert. Historische Authentizität und Medien in der Moderne (im Erscheinen).

54 Ebd.

55 Vgl. Judith Keilbach: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen, Münster 2008, S. 162 ff.

56 Tobias Ebbrecht: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011.

57 Vgl. hierzu z. B. Derek Paget: No Other Way to Tell It. Dramadoc/Docudrama on Television, Manchester 1998, S. 69.

58 Siehe hierzu z. B. Barbie Zelizer: Every Once in a While. Schindler’s List and the Shaping of History, in: Yosefa Loshitzky (Hg.): Spielberg’s Holocaust. Critical Perspectives on Schindler’s List, Bloomington 1997, S. 18–35, hier S. 22 f.; Kenneth Turan: Soldiers of Misfortune, in: Los Angeles Times, 24.7.1998, https://www.latimes.com/archives/la-xpm-1998-jul-24-ca-6540-story.html, letzter Zugriff: 23.12.2020.

59 Yosefa Loshitzky: Holocaust Others. Spielberg’s Schindler’s List versus Lanzmann’s Shoah, in: Yosefa Loshitzky (Hg.): Spielberg’s Holocaust. Critical Perspectives on Schindler’s List, Bloomington 1997, S. 104–118, hier S. 109 f.

3Emotionen

3.1Einleitung

„Geschichte fühlen statt lesen“. Mit diesem Slogan kommentierte die BZ im August 2012 das neue Rundbild-Panorama des Künstlers Yadegar Asisi am Checkpoint Charlie.1 Der österreichisch-deutsche Künstler und Architekt ist bekannt für seine 360-Grad-Panoramen, die aktuell zu den größten der Welt zählen. Im September 2012 eröffnete er am ehemaligen Berliner Grenzübergang Checkpoint Charlie das Panorama DIE MAUER – das asisi Panorama zum geteilten Berlin. Auf einer Fläche von 900 Quadratmetern und Innenmaßen von15 Metern Höhe und 60 Metern Umfang zeigt der in Sachsen aufgewachsene Künstler einen fiktiven Tag im Westteil der Stadt im November des Jahres 1980. In dem Panorama geht es weniger um Geschichtsvermittlung als um ein Geschichtserlebnis. Die heutigen Besucher_innen können in das Rundum-Panorama eintauchen; es bietet ihnen das Versprechen einer Zeitreise und damit des Nacherlebens und Nachfühlens dessen, was West-Berliner_innen 1980 in der geteilten Stadt gesehen, erlebt und gefühlt haben könnten.

Ein Geschichtserlebnis ist ein emotionales Erlebnis

Asisis Panorama setzt insbesondere auf Neugierde, Vergnügen, Spannung und Spaß, d. h. auf ein emotionales Erleben von Geschichte.2 Dieses entsteht durch die Imitation historischer Perspektiven. Die Besucher_innen stehen auf einer vier Meter hohen Plattform, die ihnen die Illusion vermittelt, dass sie aus der Sebastianstraße im West-Berliner Bezirk Kreuzberg über die Mauer hinweg in die Mitte Ost-Berlins blicken. Sie sehen zum einen die mit Graffiti verzierte Mauer, davor das alternative Leben in den besetzten Häusern entlang der Mauer. Zum anderen ermöglicht das erhöhte Podest den Blick über die Mauer hinweg auf die Grenzanlagen, also auf den hell ausgeleuchteten ‚Todesstreifen‘ und die Wachtürme mit den bewaffneten Grenzsoldaten. Dahinter sind vor wolkenverhangenem Himmel graue Häuserfassaden zu sehen. Visueller Fluchtpunkt ist der Fernsehturm, der eindeutig die Blickrichtung von West nach Ost markiert. Die Besucher_innen können wählen, ob sie unten am Fuße der Mauer entlanggehen und nicht mehr als die Graffiti sehen oder den erhöhten Standpunkt auf der Plattform einnehmen wollen. Beide Perspektiven sind so realistisch wie möglich ausgestaltet, um ein ‚authentisches‘ Erlebnis (vgl. Kap. 2) zu ermöglichen. Damit erfahren die Besucher_innen von heute, wie privilegiert ihr Blick ist, nämlich genauso, wie es jener der West-Berliner war. Menschen, die im Ostteil der Stadt lebten, sind nicht sichtbar und konnten im Umkehrschluss ja auch selbst nicht über die Mauer sehen. Diese Perspektive bleibt dem Publikum von heute vorenthalten.

Geschichte wird zur Touristenattraktion

Das Mauer-Panorama bildet zusammen mit dem privaten Mauermuseum – Museum Haus am Checkpoint Charlie und der BlackBox Kalter Krieg des Berliner Forums für Geschichte und Gegenwart ein besonders dichtes Ensemble verschiedener Formate historischer Präsentationen in der Berliner Friedrichsstraße. Besonders historisch wirkt der Ort durch ein imitiertes Grenzpostenhäuschen der US-Army in der Mitte der Straße, vor dem entsprechend der Vorstellungen von Authentizität Sandsäcke aufgestapelt liegen und Männer in original anmutenden Uniformen posieren. Für ein Trinkgeld lassen sie sich mit Tourist_innen fotografieren. Die Sichtbarmachung als zentraler historischer Ort erfolgt zudem durch ein echt wirkendes Warnschild, auf dem in den Sprachen der Alliierten und auf Deutsch darauf aufmerksam gemacht wird, dass der „amerikanische Sektor“ an dieser Stelle endet.

Mit dieser Dichte von Erlebnisangeboten ist der Checkpoint Charlie der zentrale touristische Ort, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie sich Berlin zur Zeit der Mauer angefühlt haben könnte. Der Journalist Ernst Elitz kommentierte im politischen Magazin Cicero im Sommer 2018 sehr treffend:

Heute ist der Checkpoint Charlie ein Rummelplatz mit dem Charme einer innerstädtischen Müllhalde […]. Hütchenspieler zocken Touristen ab, GI-Darsteller lassen sich vor einer Kontrollbuden-Attrappe mit aufgeregten Berlin-Besuchern fotografieren. Gruseln vor der Mauer gehört zum Reiseprogramm.3

Es wird deutlich, dass das Erlebnis von Geschichte in zweifacher Hinsicht auf das emotionale Erleben setzt. Einerseits sollen Neugierde und Interesse der Besucher_innen durch die Inszenierung geweckt werden, andererseits wird versucht, historische Emotionen zu vermitteln, wie Beklemmung und Angst (das historische Gruseln) angesichts der Grenzanlagen.

Emotionen machen das Geschichtserlebnis attraktiv

Das Mauer-Panorama steht für einen Trend in der gegenwärtigen Public History. Die Vergangenheit scheint vor allem dann spannend, attraktiv und damit ökonomisch einträglich, wenn sie als Erlebnis (vgl. Kap. 5) oder als Event daherkommt und nicht mehr nur Kognition, sondern auch Emotionen adressiert. Die Geschichtsdarstellung muss dementsprechend nicht nur den Kopf ansprechen, sondern auch mit allen Sinnen erfahrbar sein, das Herz berühren. Das Beispiel macht deutlich, welche entscheidende und doppelte Bedeutung dem emotionalen Erlebnis in der Begegnung mit Geschichte zugeschrieben wird. Emotionen sind erstens Gegenstand der Darstellung. In dem Beispiel geht es um die Emotionen der West-Berliner_innen im Schatten der Mauer an einem Novembertag im Jahre 1980. Zweitens soll Geschichte gefühlt werden, d. h., das Erlebnisangebot soll Emotionen bei den Besucher_innen hervorrufen, Neugierde wecken, zum Mitfühlen einladen, unterhaltsam sein.

 

Emotionen, so unsere zentrale Annahme, sind eine Analysekategorie, die dazu geeignet ist, den spezifischen performativen Charakter von Geschichtsdarstellungen (vgl. Kap. 10) zu erfassen. Doch was sind Emotionen, gar historische Emotionen? Wo genau befinden sie sich im Prozess der Geschichtskommunikation? Was sind Strategien und Praktiken der Emotionalisierung und wie prägen oder verändern sie heutige Geschichtsdarstellungen? Im Folgenden wird zunächst geklärt, was Emotionen sind, und anschließend verdeutlicht, dass es sehr verschiedene Zugänge zu Emotionen und Geschichte gibt, weshalb auch ihre Rolle in der Public History und ihre Analyse vielschichtig und komplex sind.

3.2Emotion, Affekt und Gefühl. Ein Ordnungsversuch

Emotionen zwischen Universalismus und Konstruktivismus

Über das menschliches Fühlen zerbrachen sich schon Philosoph_innen vor mehr als zwei Jahrtausenden den Kopf. So stammt von Aristoteles eine der bekanntesten und frühesten Definitionen von Emotionen. Sie

sind die Dinge, durch welche sich die [Menschen], indem sie sich verändern, hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden und welchen Lust oder Schmerz folgt, wie zum Beispiel Zorn, Mitleid oder Furcht und was es sonst noch Derartiges davon gibt sowie die Gegenteile von diesen.4

Diese Definition ist deshalb der Ausgangspunkt für die Emotionsforschung, da sie sowohl für einen universellen Blick auf Emotionen steht, als auch das Moment der Wandelbarkeit, der Veränderung erfasst.

Affekte sind universale körperliche Reaktionen

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts, im Zuge einer Ausdifferenzierung und Etablierung von akademischen Disziplinen und Methoden, kristallisierten sich zwei entgegengesetzte Vorstellungen von menschlichen Emotionen heraus, die bis heute den disziplinär spezifischen Zugriff auf das menschliche Fühlen bestimmen: zum einen die ältere und damit auch diskursiv wirkmächtigere universalistische Vorstellung von zeit- und kulturübergreifendem menschlichem Fühlen, zum anderen ein kulturkonstruktivistischer Blick auf Emotionen. Die universalistische Vorstellung, vertreten vor allem von Neurowissenschaftler_innen, geht davon aus, dass Menschen über ein Set von Basisemotionen verfügten, das über Jahrtausende unverändert sei und kulturunabhängig funktioniere. Es wird versucht, das menschliche Fühlen vor allem durch den Blick auf Gehirnaktivitäten zu ergründen. Vertreter_innen der Neurowissenschaften sprechen gern von Affekten statt von Emotionen, weil dahinter die Vorstellung steht, dass der Affekt etwas „rein körperliche[s], vorsprachliche[s], unbewusst[ ] Emotionale[s]“ sei.5

Emotionen verändern sich im Laufe der Geschichte

Geisteswissenschaftler_innen halten jedoch dagegen: Für sie sind Emotionen keine anthropologischen Konstanten. Stattdessen betonen sie, dass menschliches Fühlen kultur- und zeitspezifisch ist. Im Unterschied zur Annahme unmittelbarer körperlicher Affekte wird hier davon ausgegangen, dass es ein bewusstes Fühlen gibt und dieses sowohl in sprachliche als auch in nonverbale Repräsentationen eingeht. Diese wiederum sind die Quellen, die es zu analysieren gilt, wenn man vergangenem Fühlen und seinem Wandel auf die Spur kommen möchte.

Die neuere geisteswissenschaftliche Forschung zu Emotionen versucht sich von den traditionellen Dichotomien von Natur vs. Kultur und damit Universalismus vs. Sozialkonstruktivismus zu befreien.6 Auf der Suche nach einer operationalisierbaren Synthese zwischen den Geistes- und den Lebenswissenschaften gibt es auch und gerade von Seiten der Historiker_innen in den letzten beiden Jahrzehnten Ansätze, die insbesondere für oben gestellte Fragen nach Emotionen und Emotionalisierung in der Public History vielversprechend sind.7 Entsprechend diesen Vorschlägen soll im Folgenden der Begriff der Emotion als „Metabegriff“ benutzt werden, wobei Emotion und Gefühl synonym verwendet werden. Auf den Begriff des Affektes hingegen, der sich durch die Annahme des vorsprachlich Unbewussten gegen die oben benannte Synthese sperrt, wird hier bewusst verzichtet.8

Angst ist eine Körperreaktion und eine kulturelle Praktik

Emotionen sind eine zentrale Dimension von Erfahrung und Erkenntnis; diese Einsicht wird disziplinenübergreifend geteilt. Für die Frage nach Gestalt, Ausprägung und Darstellung der Gefühle von Menschen in vergangenen Zeiten braucht es jedoch einen substanziell anderen Zugang als den der natur- und lebenswissenschaftlich arbeitenden Disziplinen. Anders als Neurowissenschaftler_innen können Historiker_innen ihren Untersuchungssubjekten nicht in den Kopf hineinschauen, mithilfe von bildgebenden Verfahren Gehirnaktivitäten darstellen. Historiker_innen brauchen überlieferte Repräsentationen der Emotionen von Menschen, die im jeweiligen Untersuchungszeitraum lebten, also Quellen, mit deren Hilfe vergangenes Fühlen rekonstruiert werden kann. Doch nicht nur die erkenntnistheoretischen Methoden, sondern auch die forschungsleitenden Fragestellungen an menschliches Fühlen in der Geschichte unterscheiden sich grundsätzlich. Während beispielsweise die Neurowissenschaft den Affekt Angst in der Amygdala des menschlichen Gehirns als Ergebnis chemischer Reaktionen untersucht, interessieren sich Historiker_innen dafür, mit welchen Worten und in welchen Praktiken Angst in spezifischen Kulturen und Zeiten zum Ausdruck gebracht wurde, wie sich die Repräsentationen der Emotion Angst veränderten und wie das Angstfühlen sich in wirkmächtige Handlungen übersetzte.9 Dennoch sind Emotionen, auch wenn sie kulturkonstruktivistisch konzipiert werden, nicht körperlos zu denken. Daher wird im folgenden Abschnitt eine Definition von Emotion vorgeschlagen, die der Idee der transdisziplinären Synthese folgt und dabei die Historizität von Emotionen an die vorderste Stelle rückt.

3.3Emotionen und Geschichte. Eine Analyse in drei Schritten

Eine Theorie der Emotionen in der Public History bedarf einer analytischen Unterscheidung auf drei Ebenen.

Emotionen sind historische Objekte

Erstens haben wir es mit vergangenen Emotionen der historischen Akteur_innen zu tun. Die geschichtswissenschaftliche Theoretisierung findet in dem Forschungszweig statt, der sich in den letzten 10 bis 15 Jahren unter der Bezeichnung Geschichte der Gefühle oder history of emotions international etabliert hat. Die Emotionen sind Objekte historischer Erforschung. So wird beispielsweise nach Angst10, Wut11, Demütigung12 oder Gelächter13 in der Geschichte gefragt. Die fachwissenschaftliche Beschäftigung mit Emotionen findet damit auf der Objektebene statt.

Subjektive Emotionen in der Begegnung mit Geschichte

Zweitens geht es in den konkreten Situationen der Kommunikation und Rezeption von Geschichte immer auch um die Gefühle der beteiligten Menschen, der Ausstellungsmacher_innen, der Museumspädagog_innen und der Besucher_innen. Diese Emotionen sind auf der Subjektebene derjenigen angesiedelt, die an den Vermittlungspraktiken in welcher Rolle auch immer beteiligt sind. Diese subjektiven Emotionen werden zunehmend in der geschichtsdidaktischen Theoriebildung berücksichtigt, indem z. B. nach emotionalen Reaktionen von Schüler_innen in Prozessen historischen Lernens gefragt wird.

Emotionalisierung in der Geschichtsvermittlung

Drittens muss in den Blick genommen werden, wie die emotionale Ansprache in den verschiedenen Formaten der Geschichtsdarstellung konkret aussieht. Diese soll unter dem Begriff der Emotionalisierung erfasst werden. Dazu gilt es, genauer auf das Vermittlungssetting zu fokussieren: Wie sehen die Narrative über die Emotionen der historischen Akteur_innen aus? Mit welchen Medien, welcher Sprache, welchen Praktiken werden diese historischen Emotionen präsentiert? Wie verhält sich das zu der erwünschten emotionalen Reaktion der Rezipient_innen? Was sind demnach Techniken und Erscheinungsformen der Emotionalisierung?

Insbesondere die Analyse der Emotionen auf der Objekt- und der Subjektebene muss zunächst getrennt voneinander stattfinden. Auf der dritten Ebene der Emotionalisierung kann diese Unterscheidung nicht immer eindeutig aufrechterhalten werden, das jedoch ist genau das Problem, das nachfolgend diskutiert werden soll.

3.3.1Objektebene: Emotionen als Gegenstände historischer Darstellung

Das ‚Augusterlebnis‘ und die Handlungsrelevanz von Emotionen

Den Auftakt für eine Geschichte der Emotionen gab bereits 1941 der französische Historiker Lucien Febvre mit dem Statement, dass Emotionen „ansteckend“ und damit handlungsrelevant seien: „Sie implizieren zwischenmenschliche Beziehungen und kollektive Verhaltensweisen“.14 Beispiele dafür liefert die Vergangenheit genug; erinnert sei an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914. Die deutschen Tageszeitungen waren voll von Berichten über die emotionale Gemengelage von gelöster Anspannung, feierlicher Euphorie und banger Sorge. So wusste ein Reporter aus Freiburg zu berichten:

Es ist Wahrheit, kalte, grausame Wahrheit, befreiende, erlösende Botschaft aus der Qual der furchtbaren Ungewissheit: Der Kaiser hat gesprochen. Aber während am Samstag sich die lohende Begeisterung in Jubelhymnen Luft machte, breitet sich jetzt ein tiefernstes Schweigen über die Tausenden, die bald zusammenströmen. Ein Schweigen allerdings, unter dem ein Vulkan von Empfindungen gährt [sic] und brodelt. Finsterer Ernst eiserner Entschlossenheit gräbt sich in die Züge der Männer.15

In der zeitgenössischen Propaganda wurde insbesondere das Narrativ von der ansteckenden Begeisterung der deutschen Bevölkerung gepflegt. Dafür entstanden ikonografische Fotos von jubelnden Menschenmassen oder sogenannte Hörbilder, für die der scheinbar spontane Gesang nationalistischer Lieder auf Wachswalzen konserviert wurde. Diese konnten dann noch lange nach den ersten Todesmeldungen von der Front abgespielt werden.. Später haben sich Historiker_innen genau an der Frage der Handlungsrelevanz und des Ansteckungspotenzials von Emotionen zum Kriegsausbruch abgearbeitet. Christopher Clark hat beschrieben, wie die Bevölkerungen Europas größtenteils „schlafwandelnd“ in den Krieg getaumelt seien, gierig auf Ereignisse, euphorisch darüber, dass sich die explosive Spannung endlich in der Ausrufung des Krieges lösen durfte.16 Jeffrey Verhey hingegen hat herausgestellt, dass die Begeisterung längst nicht so weit verbreitet war, wie die Propaganda Glauben machen wollte.17 Das belegen auch Tagebucheintragungen aus der Zeit: Im Oktober 1914 beschreibt ein unbekannter Soldat seinen Einzug zur Front und notiert, wie er unter Jubel und Hurrageschrei zum Bahnhof begleitet wurde, die Stimmung im Zug sich jedoch änderte:

Nun saßen wir an den Wagenfenstern. Scherzworte flogen hinüber und herüber, die Stimmung war mehr als ausgelassen. Noch zwei Minuten bis zum Abgang des Zuges. – Plötzlich wird die Stimmung ernst und ernster. Langsam setzt sich der ungeheure Zug in Bewegung; ich weiß nicht, es war uns allen so seltsam zu Mute. Ob wir ahnten, was uns allen bevorstand?18

Ob Jubel oder Ängstlichkeit, die Quellen zum ‚Augusterlebnis‘ sind voller Schilderungen von Emotionen, die nachdrücklich verdeutlichen, dass sich die Geschichte des Augusts 1914 als eine Geschichte gegensätzlicher Emotionen schreiben lässt.19

Ein geschichtswissenschaftlicher Emotionsbegriff

Die neuere deutschsprachige Emotionsgeschichte startete vor knapp 15 Jahren mit der Beobachtung, dass Gefühle, so Ute Frevert, „geschichtsmächtig“ seien, Handlungen begründeten, historische Verläufe antrieben. Des Weiteren seien Emotionen auch „geschichtsträchtig […]. Sie machen nicht nur Geschichte, sie haben auch eine. Sie sind keine anthropologischen Konstanten, sondern verändern sich in Ausdruck, Objekt und Bewertung“.20 Das bedeutet, dass emotionale Erfahrung zwar etwas ist, das Menschen substanziell über Zeiten und Kulturen miteinander verbindet, dass sich aber die Bedeutung von Emotionen genauso wie die Deutung emotionalen Verhaltens, die Regeln des Zeigens und Versteckens von Emotionen verändern. Emotionen und ihr Ausdruck sind wandelbar, sie werden erlernt, geformt, „gemanagt“.21

 

Dieser Wandelbarkeit habhaft zu werden, den Regeln emotionalen Verhaltens auf den Grund zu gehen, das ist das Ziel einer Geschichte der Gefühle und dafür braucht es ein operationalisierbares Konzept von Emotionen sowie entsprechende Methoden.

Emotionen sind körperlich

Mit dieser Wandelbarkeit ist ein wesentliches Merkmal im Emotionskonzept benannt. Ein zweites Merkmal siedelt Emotionen im menschlichen Körper an. Anders jedoch als in den Naturwissenschaften wird der Körper in diesem Konzept ebenfalls als historisch geworden und veränderbar betrachtet. Denn Emotionen sind nach den Überlegungen der Historikerin Sarah Ahmed die „Markierungen“ (im Sinne von einprägen, „impress“), die die Begegnungen mit der Welt in unseren Körper hinterlassen. Diese Markierungen und Eindrücke, auch Impressionen genannt, verändern den Körper immer wieder von Neuem.22 Emotionen schreiben sich damit dem Körper ein und sind an Körper gebunden. Denn mit dem Körper können Menschen Emotionen kommunizieren, sichtbar- und hörbar machen, zugleich lagert sich dem Körper emotionales Erleben ein. Glückliche Menschen bewegen sich freier, unbeschwerter, ängstlichen Menschen sitzt etwas wortwörtlich „im Nacken“, wer Ärger hat, dem ist etwas „auf den Magen geschlagen“. Daher sind Emotionen etwas, was wir „tun“, sie sind Praktiken des Selbst, wie Monique Scheer herausstellt. Daher erweitert sie ihr Konzept von Emotionen um „die Dimension des Handelns“:

Ich möchte […] betonen, dass das Fühlen eng mit dem Ausdruck, mit körperlichen Aktivierungen und Bewegungen verwoben ist. Statt streng zwischen innerlichem Gefühl und äußerlichem Ausdruck zu unterscheiden, sollte man danach fragen, wie das Äußere und das Innere sich gegenseitig konstituieren.23

Eine geschichtswissenschaftliche Definition

Emotionen, so lässt sich definieren, sind demzufolge dadurch gekennzeichnet, dass sie kulturell und strukturell erlernt und in sozialen Praktiken verinnerlicht, aber auch ausgehandelt werden. Zentraler Akteur und Medium der Einschreibung von Emotionen, aber auch des Ausagierens, der Kommunikation, des Ausdrucks ist daher der Körper, der entsprechend den Konzepten der Körperethnologie als ein Produkt sowohl biologischer als auch kultureller Faktoren, als konzeptionelle Vereinigung von Körper, Geist und Gesellschaft gesehen wird.24

Diese Definition erfasst demnach die Veränderbarkeit von Emotionen und siedelt deren Wirkmächtigkeit auf der Schwelle und im Miteinander zwischen dem individuellen „Innen“ und dem gesellschaftlichen „Außen“ an. Was das für die Geschichte eines konkreten Gefühls bedeutet, lässt sich beispielhaft an der Geschichte des Heimwehs zeigen.

Heimweh als tödliche „Schweizer Krankheit“

Heimweh galt zunächst gar nicht als Emotion, sondern als eine Krankheit. Zwischen dem 17. und dem späten 19. Jahrhundert war Heimweh eine medizinisch präzise erfasste tödliche Krankheit.25 Erstmals beschrieben wurde das Phänomen 1688 vom Schweizer Arzt Johannes Hofer, der das Leiden zahlreicher sterbenskranker Schweizer Soldaten im Ausland untersuchte. Dementsprechend begann die Geschichte des Heimwehs als eine Geschichte der sogenannten „Schweizer Krankheit“.26 Die Symptome der Krankheit waren „fortwährende Traurigkeit, häufige Seufzer, fortwährendes Denken an die Heimat, unruhiger Schlaf, Abnahme der Kräfte, geringer Appetit, Herzensängste, Fieber, Schwächung, Abmagerung“.27 Daher würde Heimweh unweigerlich zum Tode führen, wenn man die Betroffenen nicht in ihre Heimat zurückschickte. Dieses Heimweh war ein Sehnen nach dem verlassenen Zuhause, den Alpen, der zurückgelassenen Familie oder dem Hof.

Heimweh als Anpassungsschwierigkeit

Der medizinische Diskurs über Heimweh als tödliche Krankheit veränderte sich erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Industrialisierung erforderte eine höhere Mobilität der Menschen: Mit Zügen und Dampfschiffen oder auch auf Pferdekarren verließen sie ihre Heimat. Heimweh war in diesem Prozess steigender Mobilität eher ein hinderlicher Störfaktor. Es galt, sie als übergangsweise Anpassungsschwierigkeit zu überwinden. Heimweh wurde in der medizinischen Literatur des späteren 19. Jahrhunderts dementsprechend anhand von Begriffen wie Trennungsschmerz, Traurigkeit, Einsamkeit oder Melancholie beschrieben. Damit war Heimweh eher das Symptom einer depressiven Verstimmung bzw. eine Emotion denn eine Krankheit.

Heimweh als pädagogische Herausforderung

Heimweh als emotionale Anpassungsschwierigkeit wurde um 1900 eher unreifen (damit meinte der Diskurs auch: einfachen, ungebildeten) Menschen zugeschrieben, vor allem aber Kindern und Heranwachsenden. Dieser Wandel von der Krankheit Heimweh zu einem Anpassungsgefühl lässt sich sehr gut anhand des Heimwehdiskurses in der pädagogischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts nachvollziehen.28 Um 1900 war die Kinderbuchheldin Heidi in Johanna Spyris weltbekanntem Roman noch schwerkrank; sie litt an pathologischem Heimweh, genau wie die Schweizer Söldner des 17. Jahrhunderts. Allein die Rückkehr in die Schweizer Alpen rettete sie vor dem unweigerlichen Tod. Die kindliche Trauer und verzehrende Sehnsucht nach der verlassenen Heimat und dem Elternhaus wurde nach der Jahrhundertwende zu einer erzieherischen Herausforderung. Die Kinder des frühen 20. Jahrhunderts waren im Gegensatz zu Heidi nicht mehr unheilbar krank, sondern nur unreif. Aufgabe der Eltern und Pädagog_innen war es, die Kinder anzuleiten, mit ihren emotionalen Anpassungsproblemen umzugehen, sie zu überwinden und daran zu reifen. So wird 1913 im Lexikon der Pädagogik das überwältigende Gefühl von Heimweh als ganz selbstverständlich beschrieben und zur Nachsicht geraten: „Da gilt es, Geduld zu üben und viel Liebe zu zeigen“.29 Gleichzeitig richtete sich der pädagogische Diskurs darauf aus, das Heimweh durch eine entsprechende Erziehung zu verhindern. „Charakterstärke“, „Sittlichkeit“ und „Vernunft“ galten als sinnvolles Gegenmittel und wurden den Eltern als klare Erziehungsziele aufgegeben.

In den Folgejahrzehnten setzte sich immer mehr die Auffassung durch, dass Heimweh ein Anzeichen von fehlendem Selbstwertgefühl sei und nur gemütsbetonte, schwache Kinder befallen würde. Daher war die Kinderbuchliteratur voll von Mädchen, die an Heimweh litten, wohingegen die Jungen eher zu Fernweh neigten und sich durch ihre Lust auf Abenteuer treiben ließen. Den Müttern wurde daher der Ratschlag erteilt, ihre Kinder nicht zu sehr zu verwöhnen, denn Reife könne sich vor allem durch innere Stärke entwickeln.

Das nostalgische Heimweh in der Nachkriegszeit

Dieser Heimwehdiskurs veränderte sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts Millionen Geflüchteter und Vertriebener gravierend. Heimweh, als die Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat und einer verlorenen Zeit, wurde zu einem öffentlich zeigbaren und erlaubten Gefühl, nicht nur für Kinder. Dieses nostalgische Heimweh kann als Grundgefühl der Bundesrepublik der 1950er bezeichnet werden. Nicht von ungefähr stand der Schlager „Heimweh“ von Freddy Quinn 1956 für 21 Wochen an der Spitze der deutschen Hitparade – bis heute ein Rekord.

Das modernitätskritische Heimweh

In den 1960er/1970er Jahren verlor das Heimweh im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik an Bedeutung. Um 1980 wiederum kehrte es zurück, dieses Mal im Gewand eines legitimen modernitätskritischen Gefühls, in einer Zeit, die als Postmoderne, als „Auslaufen der Fortschrittsmoderne“30 charakterisiert wird. Mit dem Heimwehgefühl fand das Verlangen nach und das Recht auf Wurzeln und Geborgenheit eine neue Berechtigung. Heimweh war erlaubt, mehr noch, Heimweh war nach einer Phase von Heimatverlust, Flucht oder Vertreibung aus der Heimat in der Mitte des Jahrhunderts sogar notwendig im persönlichen Reifeprozess, um sich in einer immer mobileren und sich globalisierenden Welt zurechtzufinden.