Handbuch des Strafrechts

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1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung

Inhaltsverzeichnis

§ 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen

§ 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht

§ 3 Die Auslegung von Strafgesetzen

§ 4 Anknüpfung des Strafrechts an außerstrafrechtliche Normen

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen

Eric Hilgendorf

§ 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen

A.Strafrecht als Indikator der Freiheitlichkeit einer Rechtskultur1 – 4

B.Soziale Ordnung, soziale Normen und das Recht5 – 20

I.Zur Genese sozialer Normen6 – 9

II.Arten sozialer Normen und Sanktionen10 – 17

III.Abweichendes Verhalten18 – 20

C.Recht und Moral21 – 38

I.Gemeinsame Wurzeln21 – 24

II.Zur Unterscheidung von Recht und Moral25 – 28

III.Überschneidungen29 – 33

IV.Zur „sittenbildenden Kraft“ des Strafrechts34, 35

V.Radbruchs Formel36 – 38

D.Werte39 – 62

I.Wertobjektivismus41 – 46

II.Wertsubjektivismus47 – 56

III.Grenzziehungen57 – 62

E.Die Menschenwürde als Leitwert jeder humanen Rechtsordnung63 – 67

F.Die Reflexionsebene: Rechtswissenschaft und Ethik68 – 85

I.Die (Straf-)Rechtswissenschaft und das Problem der Wertfreiheit69 – 80

II.Ethik81 – 85

G.(Straf-)Recht und Religion86 – 93

H.Bereichsspezifische Sitten, Bereichsmoralen und das Standesrecht94 – 101

I.Gruppenspezifische Normen94 – 97

II.Standesrecht98 – 101

I.Sorgfaltsanforderungen, Technische Normen und Technikstandards102 – 109

I.Ungeschriebene Sorgfaltsanforderungen104 – 106

II.Technische Normen107 – 109

J.Strafrecht vor neuen Herausforderungen110 – 124

I.Europäisierung und Globalisierung111 – 113

II.Kulturelle Pluralisierung und neue Interkulturalität114 – 117

III.Technische Entwicklung118 – 120

IV.Antworten121 – 124

Ausgewählte Literatur

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › A. Strafrecht als Indikator der Freiheitlichkeit einer Rechtskultur

A. Strafrecht als Indikator der Freiheitlichkeit
einer Rechtskultur

1

Der Zustand des Strafrechts sagt in aller Regel mehr über die Rechtskultur eines Landes aus als sein Verfassungsrecht, sein Verwaltungsrecht oder sein Zivilrecht.[1] Strafrecht ist das schärfste Instrument, das der Staat zur Erreichung seiner jeweiligen Ziele einsetzen kann. Mit seiner Hilfe vermag staatliche Gewalt tief in die Rechtssphäre der ihr Unterworfenen einzugreifen. Im Strafrecht drücken sich daher in besonderem Maße die in einem Land vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Werte und Normen aus. Das gilt nicht nur im Hinblick darauf, was strafrechtlich ver- oder geboten ist, sondern auch mit Blick auf die erlaubte Zugriffsintensität des Strafrechts und die strafprozessualen Mittel, die zur Regulierung strafrechtlicher Eingriffe zur Verfügung stehen.

2

Strafrecht regelt im Detail die Voraussetzungen der Verhängung staatlich organisierter Strafe. Im aufgeklärten Strafrechtsdenken ist es lediglich die Ultima Ratio des Rechtsgüterschutzes, nicht prima oder gar sola ratio.[2] Man hat das Strafrecht daher als „die letzte Verteidigungslinie des Rechts überhaupt“ bezeichnet.[3] Daneben schützt das Strafrecht aber auch den Straftäter und darüber hinaus die unbescholtenen Bürgerinnen und Bürger vor unberechtigter Verdächtigung und Strafverfolgung, indem es die Voraussetzungen von Strafverfolgung und Strafbarkeit explizit macht und im Detail festlegt. Zu Recht nannte daher von Liszt das Strafrecht die „Magna Charta des Verbrechers“ und die „unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“.[4]

3

Von Liszt war es auch, der das Konzept einer Strafrechtsrechtswissenschaft prägte, die über die Dogmatik des materiellen Strafrechts hinaus auch das Strafprozessrecht, vor allem aber die Kriminalsoziologie, die Kriminalanthropologie, die Kriminalpsychologie und die Kriminalstatistik als empirische Disziplinen umfassen sollte.[5] Wenn Strafrecht und Strafrechtsanwendung einen Beitrag zur Kriminalitätsprävention leisten sollen, so bedarf es einer realwissenschaftlich aufgeklärten Strafrechtsdogmatik. Die damit angedeutete Idee der „gesamten Strafrechtswissenschaft“ hat bis heute nichts von ihrer Attraktivität verloren. Ihre Wurzeln reichen in das Strafrechtsdenken der Aufklärung zurück.[6]

4

Strafrecht entsteht meist als Reaktion auf Unrechtserfahrungen, wobei das, was jeweils als „Unrecht“ erlebt wird, sowohl historisch als auch kulturell divergiert. In diachroner wie in synchroner Perspektive finden wir daher eine breite Palette unterschiedlicher Ausprägungen von Strafrecht. Die Bezugnahme auf Unrechtserfahrungen macht aber bereits deutlich, dass seine Entstehung und Veränderung von vorgängigen normativen Einstellungen abhängig ist. Die Untersuchung dieser normativen Einstellungen, ihrer Genese, Ausdifferenzierung und Bedeutung für das Recht ist eine empirische Aufgabe, die hier nicht im Einzelnen geleistet werden kann.[7] Um die Einbettung des (Straf-)Rechts in die normativ geprägte soziale Ordnung und deren für die Praxis des Rechtslebens überaus relevante Rückwirkung auf das Recht besser zu verstehen, sind dennoch einige klarstellende Ausführungen angebracht.

 

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › B. Soziale Ordnung, soziale Normen und das Recht

B. Soziale Ordnung, soziale Normen und das Recht

5

Eingangs wurde bereits angedeutet, dass Strafrecht, wie überhaupt das Recht, nicht die einzige Form einer sozialen Normierung darstellt, die in menschlichen Gesellschaften[8] anzutreffen ist. Menschen sind, um leben zu können, von der Kooperation mit anderen abhängig; der Mensch ist, wie schon Aristoteles lehrte, von Natur aus ein soziales Lebewesen.[9] Soziales Handeln von Menschen ist nicht bloß auf andere bezogen, sondern wird durch das Verhalten anderer auch beeinflusst.[10] Menschen können „nicht zueinander kommen …, ohne einen Prozess der Formung dieses ‚Zueinander‘ auszulösen“.[11] Der Ursprung sozialer Ordnung liegt mithin in der menschlichen Natur. Allerdings sind unsere Verhaltensmuster nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern kulturellem Wandel unterworfen, auch wenn Menschen offenbar zu allen Zeiten die Neigung gezeigt haben, ihre eigene soziale Ordnung als sakrosankt, allen anderen Ordnungen überlegen und änderungsfest anzusehen.[12]

I. Zur Genese sozialer Normen

6

Die Entstehung sozialer Normen, also die Genese von „Normativität“, ist eines der großen Themen der Soziologie und Sozialphilosophie.[13] Soziale Normen, so die heute wohl vorherrschende Annahme,[14] entwickeln sich aus Verhaltensregularitäten und ihnen korrespondierenden Verhaltenserwartungen, die schließlich in das Gefühl eines „Sollens“ münden: Aus wiederholt durchgeführten Handlungen ergeben sich Verhaltensregelmäßigkeiten, die zu Gewohnheiten erstarken. Andere Menschen richten ihre eigenen Handlungen an den Verhaltensregelmäßigkeiten ihres Gegenübers aus und bilden, auf der Grundlage ihrer eigenen Interessen, dazu passende Verhaltensformen. Werden die Erwartungen der Akteure hinsichtlich der Gleichförmigkeit des Verhaltens ihres Gegenübers enttäuscht, so reagieren sie mit negativen Signalen, die beim Primärakteur wiederum ein Gefühl der Verpflichtung zur Fortführung seines regulären Verhaltens erzeugen. Die Verhaltenserwartungen werden in der jeweiligen sozialen Einheit[15] verallgemeinert. Eine soziale Norm (Verhaltensnorm[16]) ist also eine „sanktionsbewehrte Handlungs- und Einstellungserwartung von überindividueller Gültigkeit“.[17] Auf diese Weise entsteht eine durch Verhaltensnormen konstituierte, auf Konvention beruhende soziale Ordnung.[18]

7

Man sollte freilich nicht übersehen, dass soziale Normen auch auf andere Weise entstehen und vor allem übertragen werden. Soziale Normen können durch prägende Persönlichkeiten „gesetzt“ werden, etwa durch Religionsstifter[19] oder politische Führer.[20] Hinzu tritt in der Gegenwart die Entwicklung, evtl. Ausarbeitung und Empfehlung von Verhaltensnormen durch besonders engagierte „Moralunternehmer“[21], z.B. im Bereich des Umwelt- und Gesundheitsschutzes (Tabuisierung des Rauchens seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts). Anschauliche Beispiele für die Herausbildung sozialer Normen finden sich häufig im Bereich neuer Technologien (Entwicklung einer „Netiquette“ im Email-Verkehr, Formen der Handynutzung in der Öffentlichkeit, usw.).

8

Soziale Normierungen sind gelegentlich mit biologischen Gegebenheiten verknüpft; Popitz nennt in diesem Zusammenhang den „Unterschied der Geschlechter, Geburt, Kindheit, Altern und Tod.“[22] Die biologischen Anknüpfungspunkte werden jedoch von den unterschiedlichen Kulturen in ganz verschiedener Weise normativ überformt.[23] Als (einziges) Beispiel für eine universal gültige Norm wird oft das Inzest-Tabu genannt.[24]

9

Von der Frage nach der Genese sozialer Normen und der Anknüpfung dieser Normen an biologische Unterschiede zu unterscheiden ist das Problem, ob bzw. inwieweit soziale Normen inhaltlich durch die menschliche Biologie vorgeprägt sind. Da der Mensch mit seinen Anlagen, Dispositionen und Wünschen ein Ergebnis der Evolution darstellt, ist davon auszugehen, dass auch diejenigen Faktoren, die die Herausbildung sozialer Normen bestimmen, evolutionär geprägt sind. Soziale Normen und damit auch Moral und Recht besitzen also biologische Grundlagen und Prägungen.[25]

II. Arten sozialer Normen und Sanktionen

10

Es gibt keine allgemein akzeptierte Kategorisierung sozialer Normen. In der deutschen Rechtssoziologie und der sich daran orientierenden Rechtswissenschaft hat es sich eingebürgert, zunächst „Brauch“ und „Sitte“ zu unterscheiden.[26] Theodor Geiger charakterisiert den Brauch als eine „durch Nachahmung kollektiv akzeptierte Gewohnheit“.[27] Es handelt sich erst um eine Vorstufe einer sozialen Norm im eigentlichen Sinn, denn die Existenz eines Brauchs ist unabhängig davon, ob Abweichungen vom Brauch mit Sanktionen geahndet werden oder nicht.[28]

11

Die soziale Norm entsteht, wenn innerhalb einer Gruppe auf abweichendes Verhalten eine Sanktion[29] erfolgt. Die Sanktion ist also sozusagen „Geburtshelferin“ der sozialen Norm: „Die auf unerwartetes ungleichförmiges Verhalten folgende Sanktion bringt den Gruppenmitgliedern zum Bewusstsein, dass die faktische Regelhaftigkeit des bisherigen Gruppenverhaltens von nun an den Charakter einer geforderten Regelmäßigkeit erhält.“[30] Bereits Franz von Liszt konnte deshalb schreiben: „Wir sind daher berechtigt, die Strafe als eine ursprüngliche geschichtliche Tatsache zu bezeichnen. Und wir werden nicht fehlgehen, wenn wir gerade das Strafrecht als die erste und ursprünglichste Schicht in der Entwicklung des Rechts auffassen, das Unrecht als Hebel des Rechts wie der Sittlichkeit betrachten“.[31] Mit Geiger lässt sich die durch Verhängung von Sanktionen gegen „abweichendes Verhalten“ entstandene soziale Norm als „Sitte“ bezeichnen.[32]

12

Popitz hat fünf Charakteristika sozialer Normen herausgearbeitet: (1) Soziale Normen typisieren Handlungen und Situationen, um „subjektiv verschiedenartige Handlungen und Situationen gleich oder zumindest vergleichbar zu machen“.[33] Soziale Normen setzen mithin eine Abstraktionsleistung voraus. (2) Auch Personen werden typisiert; ein und dieselbe Person kann Adressat unterschiedlicher sozialer Normen sein. Auf diese Weise erzeugen soziale Normen eine „Differenzierung verschiedener Personenkategorien“.[34] Man kann auch von verschiedenartigen „sozialen Rollen“[35] sprechen. (3) Jeder Mensch ist Mitglied in vielen unterschiedlichen sozialen Einheiten und Träger unterschiedlicher sozialer Rollen.[36] (4) Ob eine erwartete Regelmäßigkeit den Charakter einer sozialen Norm hat, „lässt sich nur an der Reaktion der jeweils ‚Anderen‘, der Gruppenöffentlichkeit und eventuell ihrer Autoritäten und Instanzen ablesen“.[37] Die Geltung sozialer Normen hängt nicht nur von ihrer Befolgung ab, sondern auch von der Bereitschaft, Normverstöße, also „abweichendes Verhalten“ negativ zu sanktionieren.[38] (5) Soziale Normen können tradiert werden.[39] Die Übertragung erfolgt vor allem durch Erziehung der nachfolgenden Generation. Soziale Verpflichtungen sind außerdem habitualisierbar, so dass sie von den Adressaten der Verpflichtung subjektiv als verpflichtend erlebt werden.[40]

13

Soziale Normen entstehen in Gemeinschaften (sozialen Einheiten) und grenzen diese Gemeinschaften gegenüber anderen sozialen Einheiten ab. Auch und gerade die Sitte ist eine gruppenspezifische soziale Norm; Deimling spricht von einem „System von Verhaltensregeln“, welches „das Verhalten von Individuen in homogenen Gruppen mit einem relativ hohen Verbundenheitsgrad reguliert“.[41] Als Gruppen im skizzierten Sinn lassen sich in der Gegenwart etwa bestimmte gegenüber anderen Gruppen abgegrenzte religiöse Gemeinschaften oder Jugendgruppen ansehen, aber auch die Ärzteschaft oder die Rechtsanwälte. Die Sanktionen für „unangepasstes“ Verhalten können von Missbilligung, Spott und offener Kritik bis hin zum „Schneiden“ und gesellschaftlicher Ächtung reichen.[42] Hinzu treten u.U. berufsständische Sanktionen (siehe unten Rn. 98 ff.).

14

Eugen Ehrlich (1862–1922) hat die damit angedeuteten Zusammenhänge wie folgt zusammengefasst:

„Wo immer auch die Rechtsnorm den Blick des Soziologen auf sich zog, ob es galt, ihrem Ursprung nachzuforschen, den Begriff festzustellen, die gesellschaftliche Aufgabe zu prüfen, fand sie sich mit andern gesellschaftlichen Normen zusammen. Und doch besteht zwischen ihr und den außerrechtlichen gesellschaftlichen Normen zweifellos ein unverkennbarer Gegensatz. So wenig dieser weggeleugnet werden könnte, so schwer ist er bei dem heutigen Stande der Wissenschaft zu bestimmen“ … Die Frage ist ja nicht dem Rechte eigentümlich. Man müßte doch auch fragen, wodurch sich die Sittlichkeit von der Religion und Sitte, diese von Anstand und Takt, Anstand und Takt von Ehre oder dem guten Ton und der gute Ton von der Mode unterscheiden. Andererseits sind die Grenzen zwischen den verschiedenen Arten der Normen zweifellos einigermaßen willkürlich; hier wie überall sind die Begriffe nicht von selbst gegeben und jede scharfe Linie wird erst vom Menschen in die Dinge hineingetragen. In den verschiedenen Normenarten gibt es Unterarten, die den Übergang von der einen zur andern Gruppe bilden, und bei so mancher Erscheinung ist es kaum bestimmt zu entscheiden, zu welcher Gruppe sie gehört.“[43]

15

In der Praxis werden die theoretischen Abgrenzungsschwierigkeiten aber nicht als problematisch empfunden:

„So schwierig es aber auch ist, wissenschaftlich die Grenze zwischen der Rechtsnorm und andern Arten der Norm zu ziehen, praktisch besteht diese Schwierigkeit nur selten. Im Allgemeinen wird es jeder ohne Zögern sofort von einer Norm zu sagen imstande sein, ob sie eine Rechtsnorm ist oder dem Gebiet der Religion, der Sitte, der Sittlichkeit, des Anstandes, des Taktes, der Mode oder des guten Tones angehört. Diese Tatsache muß den Ausgangspunkt der Betrachtung bilden.“[44]

16

Die Unterscheidung der verschiedenen Formen sozialer Normen drückt sich nach Ehrlich in den unterschiedlichen Weisen aus, wie auf eine Verletzung der jeweiligen sozialen Norm reagiert wird:

„Die verschiedenen Arten von Normen lösen verschiedene Gefühlstöne aus, und wir antworten auf Übertretung verschiedener Normen nach ihrer Art mit verschiedenen Empfindungen. Man vergleiche das Gefühl der Empörung, das einem Rechtsbruch folgt, mit der Entrüstung gegenüber einer Verletzung des Sittengebotes, mit der Ärgernis aus Anlaß einer Unanständigkeit, mit der Mißbilligung der Taktlosigkeit, mit der Lächerlichkeit beim Verfehlen des guten Tones, und schließlich mit der kritischen Ablehnung, die die Modehelden denen angedeihen lassen, die sich nicht auf ihrer Höhe befinden. Der Rechtsnorm ist eigentümlich das Gefühl, für das schon die gemeinrechtlichen Juristen den so bezeichnenden Namen opinio necessitatis gefunden haben. Danach muß man die Rechtsnorm erkennen.“[45]

17

Es existieren also noch weitere Formen sozialer Normen, etwa die Normen der Mode,[46] des Anstands,[47] des Taktes[48] und der Pietät. Hinzu kommen andere soziale Phänomene mit Ordnungsfunktion, etwa die „Institutionen“.[49] Bisweilen wird auch die Logik als „Sollensordnung“ bezeichnet und damit in die Nähe sozialer Normen gerückt.[50]

III. Abweichendes Verhalten

18

Das Feld der sozialen Normen lässt sich auch aus der Perspektive des abweichenden Verhaltens (Devianz) erschließen. Man versteht darunter Verhaltensweisen, „die gegen die in einer Gesellschaft oder einer ihrer Teilstrukturen geltenden sozialen Normen verstoßen und im Falle ihrer Entdeckung soziale Reaktionen hervorrufen, die darauf abzielen, die betreffende Person, die dieses Verhalten zeigt, zu bestrafen, zu isolieren, zu behandeln oder zu bessern …“.[51] Damit eng verbunden ist das Konzept der sozialen Kontrolle: „Um zu gewährleisten, dass sich Menschen konform verhalten, bedarf es der sozialen Kontrolle, worunter man alle Strukturen, Prozesse und Mechanismen versteht, mit deren Hilfe eine Gesellschaft oder soziale Gruppe versucht, ihre Mitglieder dazu zu bringen, ihren Normen Folge zu leisten“.[52]

 

19

Schon Emile Durkheim (1858–1917), einer der ersten Theoretiker des Phänomens des abweichenden Verhaltens, wies darauf hin, dass abweichendes Verhaltens in jeder Gesellschaft vorkommt. Durkheim schrieb ihm sogar eine positive Wirkung zu: „Das Verbrechen spielt in der sittlichen Entwicklung … eine nützliche Rolle. Es hält nicht bloß den notwendigen Änderungen den Weg offen, in manchen Fällen bereitet es auch diese Änderungen direkt vor.“ In diesem Sinne verstanden, sei das Verbrechen gelegentlich eine „Antizipation der zukünftigen Moral, der erste Schritt zu dem, was sein wird.“[53]

20

Nicht selten wird sich das Verbrechen auch als Ausdruck eines Normenkonflikts deuten lassen. Es liegt auf der Hand, dass soziale Normen in bestimmten Situationen Unterschiedliches fordern können. Damit entsteht das Problem, dass Normen einander widersprechen oder zumindest miteinander in Konkurrenz geraten können. Dies ist kein neues Phänomen.[54] Im Strafrecht werden derartige Konflikte traditionell im Rahmen einer möglichen Rechtfertigung,[55] aber auch im Kontext von Verbotsirrtum[56] und Gewissentäterschaft[57] diskutiert; besonders schwierig zu lösen sind Normenkonflikte, bei denen staatliches Recht zu religiös gestützten sozialen Normen in Widerspruch steht.[58]

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › C. Recht und Moral

C. Recht und Moral

I. Gemeinsame Wurzeln

21

Aus den Sitten als normativ empfundenen und sanktionsbewehrten Gewohnheiten entwickeln sich nach Geiger sowohl das Recht als auch die Moral[59] (These vom genetischen Zusammenhang von Recht und Moral).[60] Die Sitten (Geiger spricht auch von der „kommunitären Ordnung“[61]) werden einerseits einem Prozess der Veräußerung und „Veranstaltlichung“ unterzogen – so entsteht das Recht, und andererseits einem Prozess der Verinnerlichung, was zur Entstehung der Moral führt: „Genetisch gesehen haben Recht und Moral also ihre gemeinsame Wurzel in einer kommunitären Lebensordnung, aus der sie durch polare Entfaltung in ihr komplex vorhandener Elemente hervorgegangen sind. Primum jus und primae mores sind ein und dasselbe.“[62] Zur Moral tritt in vielen Gesellschaften noch eine religiöse Überhöhung hinzu; Geiger spricht von einer „Überbauung … mit magisch-religiösen Vorstellungen.“[63]

22

Geiger zufolge lassen sich drei Formen von Moral unterscheiden: die traditionelle Moral, die dogmatische Moral und die autonome Moral. Kennzeichnend für traditionelle Moral soll sein, dass „habituell entstandene Norminhalte mit der spezifisch moralischen Wertvorstellung des Guten überbaut und ihre Befolgung demgemäß dem einzelnen ins Gewissen geschoben ist. Hier also ist das Gewissen nur Sittenrichter …“.[64] Dagegen setzt die dogmatische Moral bereits erhebliche Reflexionsanstrengungen voraus; sie „hat ihren Ursprung in der ethischen Spekulation über die Wertidee des Guten. Aus ihr als einem Prinzip wird deduktiv ein System von moralischen Lebensgrundsätzen entwickelt und dogmatisch als allgemeingültig gelehrt.“[65] Kennzeichnend für die dritte Moralform, die autonome Gewissensmoral, ist nach Geiger die Erkenntnis, dass es vorgegebene moralische Inhalte nicht gibt: der „ethische Dogmatismus endet … in einem unaufhebbaren Schisma der Moralen.“[66]

23

Was bleibt, ist der „ethische Subjektivismus“, die „formale Wertethik“ (Geiger verwendet diese Ausdrücke als Synonyme zum Begriff der „autonomen Gewissensmoral“). Danach „ist die Kategorie des Guten im Menschen kraft seiner mentalen Struktur angelegt, die Inhaltgebung der Wertidee des Guten aber zeitlich, örtlich und individuell verschieden, ohne dass es möglich wäre, anhand objektiver Maßstäbe für die eine, gegen die andere Auffassung zu entscheiden.“[67] In derartigen Konzepten ist das persönliche Gewissen also nicht bloß „Moralrichter“, sondern „normstiftende Moralautorität.“[68]

24

Geigers sehr differenzierte Analysen können noch heute als Ausgangspunkt der rechtssoziologischen und auch der rechtswissenschaftlich-dogmatischen Betrachtung dienen. Sie sind jedoch in einem wesentlichen Punkt unterkomplex: Infolge von Migration und neuen weltumspannenden Kommunikationsformen treffen in der Gegenwart in vielen modernen Gesellschaften Moralvorstellungen aufeinander, die sich in unterschiedlichen Kulturkreisen entwickelt haben, und die sich auch in ihrem Verhältnis zu der im Staat geltenden Rechtsordnung deutlich unterscheiden. Die These vom genetischen Zusammenhang von Moral und Recht, ihrer Herkunft aus einer Wurzel, lässt sich im Hinblick auf konkrete Rechts- und Moralordnungen jedenfalls dann nicht halten, wenn die Beteiligten unterschiedlichen Kulturen entstammen. Auf das damit angedeutete Problem der neuen Interkulturalität des Rechts, insbesondere des Strafrechts, wird noch näher einzugehen sein (vgl. insbes. Rn. 114 ff.).