Handbuch des Strafrechts

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[111]

Ähnlich (für das öffentliche Recht insg. im Unterschied zum Zivilrecht) Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 172.

[112]

Vgl. dazu ausführlich auch → StPO Bd. 9: Matthias Jahn, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, § 62.

[113]

Ungeachtet dessen haben sich für die Verfassungsbeschwerde und die strafprozessuale Revision teilweise ganz ähnliche Strukturen etwa hinsichtlich der Erschwernisse der Zulässigkeitsvoraussetzungen oder der Begründungsanforderungen herausgebildet, und schon wegen des Grundsatzes der Subsidiarität (vgl. Rn. 48) ergeben sich auch schon für die Revisionsbegründung Erfordernisse mit Blick auf eine etwaige spätere Verfassungsbeschwerde. Vgl. eingehend zum Vergleich der beiden Rechtschutzmöglichkeiten Reichart, Revision und Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, 2007, pass.

[114]

Vgl. Herzog, Dürig-FS, 1990, S. 431, 435.

[115]

Vgl. bereits BVerfGE 1, 3, 5.

[116]

Sog. Heck’sche Formel, vgl. BVerfGE 18, 85, 92 ff. = NJW 1964, 1715, 1716 f., sowie speziell für das Strafrecht BVerfGE 95, 96, 127 f. = NJW 1997, 929.

[117]

Vgl. auch Arnold, StraFo 2005, 28, der insb. in Restriktionen durch §§ 93a, 93b BVerfGG empfindliche Rechtschutzlücken sieht und die Messlatte für erfolgreiche Angriffe auf Akte des Gesetzgebers als „kaum erreichbar“ einstuft. Vgl. aber als Beispiel einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde gegen ein Strafgesetz aus jüngster Zeit BVerfG v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15.

[118]

Überblicksartig zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde in Strafsachen vgl. Eschelbach/Gieg/Schulz, NStZ 2000, 565.

[119]

Vgl. dazu etwa BVerfGE 107, 395, 414 = NJW 2003, 1924, 1928. Weitere Nachw. – auch zur Kasuistik im Einzelnen – Widmaier/Eschelbach MAH Strafverteidigung, § 28 Rn. 71 ff.; zur Gehörsrüge als Voraussetzung für eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde vgl. BGH wistra 2009, 33 sowie nochmals oben Rn. 72.

[120]

Vgl. Widmaier/Eschelbach MAH Strafverteidigung, § 28 Rn. 73, die zu Recht darauf hinweisen, dass verfassungsrechtliche Argumente auch sonst bei den Strafjustizorganen oft auf fehlendes Verständnis stoßen.

[121]

Vgl. dazu außer den nachfolgenden Fußnoten auch eingehend die Zusammenstellung bei Reichart, Revision und Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, 2007, S. 380 ff.

[122]

Vgl. auch die Aufzählung bei Widmaier/Eschelbach MAH Strafverteidigung, § 28 Rn. 74.

[123]

Vgl. BVerfG NJW 1993, 2926; BVerfG NStZ 2000, 382, 383.

[124]

Vgl. BVerfG NStZ 2000, 489, 490.

[125]

Vgl. BVerfG NStZ 2000, 96.

[126]

BVerfG v. 17.12.1996 – 2 BvR 1533/96.

[127]

Vgl. hierzu Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345, 363.

[128]

Vgl. Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345, 368.

[129]

Volk, Wahrheit und materielles Recht im Strafprozeß, S. 176.

[130]

Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1978, S. 114 ff.

[131]

Konkret: Im Ermittlungsverfahren zur Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO, im Zwischenverfahren zur Nichteröffnung und im Hauptverfahren zu einer Einstellung des Verfahrens durch Beschluss nach § 206a StPO außerhalb der Hauptverhandlung bzw. durch Prozessurteil nach § 260 Abs. 3 StPO innerhalb der Hauptverhandlung. Vgl. im Übrigen zu den Verfahrenshindernissen und ihrer Behandlung → StPO Bd. 7: Lutz Meyer-Goßner, Grundlagen, § 20; Die Befassungsverbote, § 21; Die Bestrafungsverbote, § 22.

[132]

Vgl. dazu nur aus der Rspr. BGHSt 32, 357, 359; 41, 247, 249, sowie m.w.N. SSW-StGB-Kudlich, § 339 Rn. 14.

[133]

Ein Beispiel für eine juristisch kaum haltbare Entscheidung eines Obergerichts ist etwa OLG München NStZ 2011, 271, wo das Anbringen von Reflektoren, mit denen die von der Kamera einer Verkehrsüberwachungsanlage gefertigte Aufnahme unbrauchbar gemacht wird, als Sachbeschädigung gem. § 303 Abs. 1 StGB bewertet wird.

[134]

Vgl. etwa zur Auslegungsdivergenz hinsichtlich der Frage, ob in einem Krematorium entwendetes Zahngold zur „Asche“ i.S.d. § 168 StGB gehört OLG Bamberg NJW 2008, 1543 einerseits sowie OLG Nürnberg NJW 2010, 2071 andererseits sowie dazu Kudlich/Christensen JR 2011, 146 ff.; vgl. ferner zu unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach einer falschen Verdächtigung in mittelbarer Täterschaft innerhalb kurzer Zeit zwischen zwei Senaten desselben Oberlandesgerichts OLG Stuttgart NStZ 2016, 155 einerseits (bejahend) und OLG Stuttgart NJW 2017, 1971 (und dem zustimmend OLG Stuttgart NJW 2018, 1110) andererseits (verneinend) sowie dazu Kudlich, JA 2017, 632.

[135]

Vgl. BGHSt 51, 367, 370 = NStZ 2007, 653 mit Anm. Mikolajczyk, ZIS 2007, 565.

[136]

Zu den Verfahrensbesonderheiten hier ausführlich auch → StPO Bd. 9: Sabine Swoboda, Verfahrensbesonderheiten im Jugendstrafrecht, § 70.

[137]

Vgl. dazu überblicksartig Gaede, JA 2008, 88, 92 ff., sowie Pflaum, in: Wabnitz/Janovsky/Schmitt (Hrsg.), Handbuch Wirtschafts- u. Steuerstrafrecht, Kap. 21 Rn. 162 ff.; Volk/Bohnert, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen § 30, sowie die Kommentierung der §§ 385 ff. AO im 3. Bd. Vertiefend die Kommentierungen von Randt, Joecks und Jäger in: Franzen/Gast/Joecks.

[138]

Vgl. hierzu umfassend Sauer/Münkel, Absprachen im Strafprozess, 2. Aufl. 2014.

[139]

Vgl. ausf. etwa Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung, 2006.

[140]

Zu Konsequenzen für die Steuerpflicht, welche nicht entfällt, soweit sich die Erklärungspflicht auf die betragsmäßige Angabe der Einnahmen beschränkt und nicht deren deliktische Herkunft umfasst, vgl. BGH v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05, BGHSt 50, 299 = NStZ 2006, 210.

[141]

Zu diesen und weiteren Bsp. vgl. Mitsch, JA 2008, 409, 410.

[142]

Gegen Doppelahndungen gewährt § 84 OWiG Schutz; zu den insoweit erforderlichen Feststellungen zur Tatidentität vgl. KG wistra 2002, 227, 228 f.; KK-OWiG-Wache, § 84 Rn. 2 ff.

[143]

Vgl. Mitsch, JA 2008, 409, 411.

[144]

Näher zum Einspruchsverfahren vgl. KK-OWiG-Bohnert, § 67 Rn. 1 ff.

[145]

Vgl. KK-OWiG-Mitsch, § 96 Rn. 15.

[146]

 

Vgl. etwa zu den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem IRG und dem EuRhÜbk KK-OWiG-Mitsch, Einleitung Rn. 190 ff.

1. Abschnitt: Einordnung und Grundlagen › § 2 Materielle Grundrechtsgewährleistungen und ihre Bedeutung für das Strafverfahren

Michael Lindemann

§ 2 Materielle Grundrechtsgewährleistungen und ihre Bedeutung für das Strafverfahren

A.Einführung1 – 6

I.Dogmatische Grundlagen der Grundrechtsprüfung3

II.Die Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege4

III.Folgen verfassungswidriger Grundrechtseingriffe5

IV.Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen im Strafverfahren6

B.Einzelne Grundrechte7 – 39

I.Freiheitsrechte9 – 37

1.Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG)9 – 11

2.Spezielle freiheitsrechtliche Gewährleistungen12 – 31

a)Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG)12 – 14

b)Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG)15

c)Religionsfreiheit (Art. 4 GG)16, 17

d)Presse- und Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG)18, 19

e)Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG)20

f)Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG)21 – 23

g)Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)24, 25

h)Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG)26 – 28

i)Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG)29 – 31

3.Auffanggrundrechte32 – 37

a)Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)33

b)Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)34 – 37

II.Gleichheitssatz und Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG)38, 39

C.Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und den materiellen Grundrechten abgeleitete Prozessmaximen40 – 65

I.Recht auf ein faires Verfahren41 – 44

II.Prozessuale Fürsorgepflicht der Gerichte und Strafverfolgungsbehörden45, 46

III.Schuldgrundsatz47, 48

IV.Unschuldsvermutung49 – 53

V.Zweifelssatz (in dubio pro reo)54, 55

VI.Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare)56 – 60

VII.Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit61, 62

VIII.Beschleunigungsgebot63, 64

IX.Verfassungsrechtliche Dimension weiterer Prozessmaximen65

Ausgewählte Literatur

A. Einführung[1]

1

Strafrechtliche Ermittlungen und Sanktionen greifen in erheblichem Maße in die Grundrechte des Beschuldigten und weiterer Personen ein; sie dienen jedoch auch der Verteidigung und Bewahrung elementarer Schutzgüter Dritter. Kennzeichnend für den Strafprozess ist mithin das grundrechtsrelevante Spannungsverhältnis zwischen den Polen des Freiheitsschutzes durch die Strafgewalt und des Freiheitsschutzes gegen die Strafgewalt,[2] welches dem Strafverfahrensrecht zu Recht die Bezeichnung als „Seismograph der Staatsverfassung“[3] bzw. als „angewandtes Verfassungsrecht“[4] eingetragen hat. Die besondere verfassungsrechtliche Bedeutung der Materie findet ihren Niederschlag in einem konstant hohen Aufkommen von Verfassungsbeschwerden, die Entscheidungen aus dem Bereich der Strafgerichtsbarkeit angreifen,[5] sowie in einer Vielzahl bundesverfassungsgerichtlicher Senats- und Kammerentscheidungen, in denen strafprozessuale Fragen thematisiert werden.[6] Aus der verfassungsrechtlichen Aufladung des Strafverfahrens kann sich allerdings auch eine Versuchung ergeben, den funktionalen Eigenwert des Strafverfahrensrechts zu vernachlässigen und genuin strafverfahrensrechtliche Probleme vorschnell in die Kategorien des Verfassungsrechts zu überführen.[7]

2

Das damit angesprochene, durchaus ambivalente Verhältnis zwischen einfachem Recht, Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und den Grundrechten abgeleiteten Prozessmaximen bildet den Gegenstand dieses und des nachfolgenden Kapitels. Dabei wird sich die Darstellung weitgehend auf eine Wiedergabe und kritische Kommentierung der wesentlichen Leitlinien der Rechtsprechung des BVerfG zu Fragen des Strafprozessrechts beschränken müssen. Eine auch nur annähernd vollständige Rezeption des zu diesem Themengebiet veröffentlichten Schrifttums würde hingegen den zur Verfügung stehenden Rahmen deutlich überschreiten. Und wenngleich im europäischen Mehrebenensystem stets auch die Gewährleistungen der EMRK und der GRC mit zu bedenken sind,[8] kann diese Dimension im vorliegenden Zusammenhang aus Raumgründen ebenfalls lediglich punktuell Berücksichtigung finden. Für eine ausführliche Darstellung der europäischen Bezüge des Strafprozessrechts muss daher auf die einschlägigen Kapitel dieses Handbuches in Band IX verwiesen werden.

I. Dogmatische Grundlagen der Grundrechtsprüfung

3

Vorab sind in der gebotenen Kürze die dogmatischen Grundlagen der Grundrechtsprüfung in Erinnerung zu rufen: Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Eingriffen in Freiheitsrechte[9] wird üblicherweise ein dreistufiger Aufbau zugrunde gelegt.[10] Nachdem auf einer ersten Stufe festgestellt wurde, ob der sachliche und der persönliche Schutzbereich des in Rede stehenden Grundrechts tangiert sind,[11] wird auf einer zweiten Stufe geklärt, ob durch die zu prüfende Maßnahme in den vorbezeichneten Schutzbereich eingegriffen wurde.[12] Bejahendenfalls ist auf einer dritten Stufe der Frage nachzugehen, ob der Eingriff durch Grundrechtsschranken gerechtfertigt werden kann.[13] Dieser dritte Prüfungsschritt beginnt mit der Frage nach einer möglichen Grundlage der Rechtfertigung in Gestalt eines Gesetzesvorbehalts oder kollidierenden Verfassungsrechts.[14] Die Anforderungen an die gesetzliche Grundlage ergeben sich dabei im Strafprozessrecht nicht aus Art. 103 Abs. 2 GG,[15] sondern aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG; ausf. → StPO Bd. 7: Michael Lindemann, Prozessgrundrechte und ihre Bedeutung, § 3 Rn. 41).[16] Sodann ist der Blick möglichen Schranken-Schranken zuzuwenden, zu denen insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zählt.[17] Dieser Grundsatz „verlangt, dass der Staat mit dem Grundrechtseingriff einen legitimen Zweck mit geeigneten, erforderlichen und angemessenen Mitteln verfolgt“.[18] Die zu prüfende Maßnahme gilt nach der Rechtsprechung des BVerfG als zur Zweckerreichung geeignet, wenn mit ihrer Hilfe der erstrebte Erfolg zumindest gefördert werden kann.[19] Die Erforderlichkeit ist zu bejahen, wenn sich das angestrebte Ziel nicht durch mildere, gleich wirksame Mittel erreichen lässt.[20] Das Gebot der Angemessenheit bzw. der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn setzt schließlich voraus, „dass die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen darf“.[21] Bei der Bewertung der Eingriffsintensität ist gerade im vorliegend erörterten Zusammenhang ein mögliches additives Zusammenwirken mehrerer grundrechtsinvasiver Einzelmaßnahmen zu berücksichtigen.[22]

II. Die Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege

4

Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist der Ort, an welchem die im Strafprozess in besonderer Schärfe aufeinandertreffenden Interessen des Individuums und der Allgemeinheit gegeneinander abzuwägen und zu einem möglichst schonenden Ausgleich – die Grundrechtsdogmatik spricht in diesem Zusammenhang von der „Herstellung praktischer Konkordanz“[23] – zu bringen sind. Dabei lässt die jüngere Rechtsprechung des BVerfG eine bedenkliche Tendenz zur einseitigen Überbetonung von Strafverfolgungsinteressen erkennen, die argumentativ durch die (inzwischen zum regelmäßigen Bestandteil einschlägiger Entscheidungen gewordene) Bezugnahme auf die „Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege“ unterfüttert wird.[24] Ausdrückliche Erwähnung fand die Funktionstüchtigkeitsformel erstmals in einer Entscheidung des Ersten Senats aus dem Jahr 1972;[25] nachdem es eine Zeit lang ruhiger um sie geworden war, hat sie in der Rechtsprechung des Gerichts zuletzt eine bemerkenswerte Renaissance erfahren.[26] Gefahren für die Grundrechtspositionen des Beschuldigten ergeben sich bei einem Einsatz der Formel als Argumentationstopos im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung[27] vor allem aufgrund ihrer inhaltlichen Vagheit und Maßstabslosigkeit[28] sowie aus der Überhöhung, die sie durch ihre Fundierung in so grundlegenden Werten wie Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit erfährt.[29] Ihre vermehrte Verwendung in der Rechtsprechung des BVerfG leistet einer Marginalisierung der Beschuldigtenrechte Vorschub und beeinflusst das fragile Kräfteverhältnis im Strafprozess einseitig zugunsten der Strafverfolgungsbehörden.[30]

 

III. Folgen verfassungswidriger Grundrechtseingriffe

5

Eng mit der vorstehend behandelten Problematik des Einsatzes der Funktionstüchtigkeitsformel als Abwägungstopos verknüpft ist die Frage, welche Konsequenzen Rechtsverstöße der Strafverfolgungsbehörden bei der Beweiserhebung von Verfassungs wegen nach sich ziehen sollten. Ein konsistentes dogmatisches System, dem sich überzeugende Leitlinien zu den Voraussetzungen und der Reichweite unselbstständiger, d.h. auf einen Beweiserhebungsfehler folgender Beweisverwertungsverbote entnehmen ließen, existiert bislang nicht.[31] Der BGH vertritt hierzu in ständiger Rechtsprechung die sog. Abwägungslösung, nach der über das Eingreifen eines Beweisverwertungsverbotes jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden ist.[32] Diese Vorgehensweise hat die ausdrückliche Billigung des BVerfG erfahren, das seine Begründung maßgeblich auf die Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (vgl. Rn. 4) stützt.[33] Die mit der verfassungsrechtlichen Überhöhung der Funktionstüchtigkeitsformel verbundenen Gefahren für die Freiheitsrechte des Beschuldigten werden besonders deutlich, wenn das Gericht konstatiert, bei der Annahme eines Beweisverwertungsverbotes handele es sich um eine „begründungsbedürftige Ausnahme“, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen sei.[34]

IV. Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen im Strafverfahren

6

Nach der Rechtsprechung des BVerfG obliegt nicht nur die Einhaltung des einfachen Rechts, sondern auch die Wahrung und Durchsetzung der Grundrechte primär den Fachgerichten.[35] Diese haben die Vorschriften des Straf- und Strafprozessrechts grundrechtskonform auszulegen[36] und sind, wenn sie ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig halten, gem. Art. 100 Abs. 1 GG verpflichtet, das Verfahren auszusetzen und die Frage nach der Gültigkeit der Norm dem BVerfG vorzulegen. Daneben besteht für den Beschuldigten die Möglichkeit, nach der Erschöpfung des Rechtsweges (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG)[37] Verfassungsbeschwerde zum BVerfG zu erheben (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG). Eine ausführliche Erörterung der Besonderheiten der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen würde den Rahmen des vorliegenden Beitrages überschreiten; daher muss es hier insofern mit einem Verweis auf das einschlägige Spezialschrifttum sein Bewenden haben.[38]

B. Einzelne Grundrechte

7

Die materiellen Grundrechte entfalten ihre Abwehrfunktion vor allem im strafprozessualen Ermittlungsverfahren.[39] Eine herausgehobene Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der in Art. 1 Abs. 1 GG als „Höchstwert der Verfassung“[40] verbürgten Menschenwürdegarantie zu; durch die von den Strafverfolgungsbehörden zum Zwecke der Sachverhaltserforschung oder der Verfahrenssicherung vorgenommenen Einzelmaßnahmen kann jedoch auch der Schutzbereich beinahe jedes anderen Freiheitsgrundrechtes tangiert sein.[41] Neben den speziellen freiheitsrechtlichen Gewährleistungen schaffen die Auffanggrundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) auch im Strafverfahren die Grundlage für einen potentiell lückenlosen Grundrechtsschutz.[42]

8

Wenngleich eine Darstellung der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur zu Fragen des Strafverfahrensrechts „Grundrecht für Grundrecht“ durch den häufigen Rückgriff des Gerichts auf „Prinzipien mittlerer Abstraktionshöhe“,[43] die – wie beispielsweise der Fairnessgrundsatz, der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit oder das Beschleunigungsgebot – aus einer Zusammenschau von Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und materiellen Freiheitsgewährleistungen entwickelt werden, nicht unwesentlich erschwert wird,[44] soll im Folgenden doch der Versuch unternommen werden, einschlägige Aussagen des Gerichts den einzelnen Grundrechten zuzuordnen. Im Anschluss erfolgt die Erörterung der erwähnten hybriden Konstrukte, die gleichsam eine „Zwischendecke“[45] zwischen den Ebenen des spezifischen Verfassungsrechts und des einfachen Gesetzesrechts bilden.