Handbuch des Strafrechts

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c) Strafrechtsgestaltende Kraft des Prozessrechts

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Der Zusammenhang zwischen materiellem Recht und Strafverfahren dahingehend, dass Ersteres der Gegenstand des Zweiteren ist, liegt auf der Hand. Abhängigkeiten bestehen aber auch in der umgekehrten Richtung dahingehend, dass das Strafprozessrecht den Inhalt bzw. die Auslegung des materiellen Strafrechts maßgeblich beeinflusst. Dies ist leicht einsehbar, wo die materiell-rechtlichen Straftatbestände hinsichtlich ihrer Merkmale unmittelbar auf prozessuale Positionen bzw. Gegebenheiten abstellen, wie dies etwa bei den Aussagedelikten der Fall ist: Wer Zeuge ist, wann ein Gericht zur Abnahme eines Eides zuständig ist oder wohl auch, dass der Angeklagte keine Partei i.S. des § 154 StGB ist, ergibt sich aus dem Strafverfahrensrecht. Auch ob bzw. in welchen Verfahrenssituationen nicht nur der Strafrichter, sondern auch ein Staatsanwalt tauglicher Täter der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) sein kann, wird durch das Strafprozessrecht vorgeprägt, weil sich aus diesem ergibt, wann er überhaupt die Leitung bzw. Entscheidung einer Rechtssache im Sinne dieser Vorschrift innehaben kann.[132] Die Situationen schließlich, in denen eine unbefugte Mitteilung über Gerichtsverhandlungen nach § 353d StGB unter Strafe gestellt ist, werden durch das (nicht nur, aber auch Straf-) Verfahrensrecht und seine Institutionen bestimmt und an den (freilich wohl nur selten streitigen) Rändern näher konkretisiert.

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Ein besonders anschauliches Beispiel der strafrechtsgestaltenden Kraft des Strafprozessrechts bildet schließlich die Strafvereitelung nach § 258 Abs. 1 StGB: Die Abgrenzung, wann zulässige oder gar gebotene Strafverteidigung und wann unzulässige Strafvereitelung vorliegt, muss letztlich danach getroffen werden, welche Befugnisse ein Strafverteidiger prozessual hat. Insoweit ist § 258 StGB gleichsam strafprozessrechtsakzessorisch auszulegen und es spricht überdies viel dafür, dass (zumindest bei bloß fehlerhaften Prozesshandlungen, die aber noch innerhalb der strafprozessualen „Phänotypik“ liegen) auch das prozessrechtliche Reaktionsarsenal (Zurückweisung eines Antrags als unzulässig bzw. unbegründet; gegebenenfalls Einschränkung von strafprozessualen Befugnissen für die Zukunft) vorrangig ist und nicht sofort mit der Strafnorm des § 258 StGB reagiert werden sollte.

3. Primat des Strafprozessrechts in der Praxis?

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In der praktischen strafrechtlichen Arbeit dürfte es einer spontanen Intuition (und damit auch einer verbreiteten Vorstellung) entsprechen, dass dem Strafprozessrecht – anders als etwa in der universitären Ausbildung – ein ganz klarer Vorrang gegenüber dem materiellen Strafrecht zukommt. Das könnte selbst für die Gerichte gelten (die letztlich eine begrenzte Zeit auf die Subsumtion des – nach den Regeln des Prozessrechts – festgestellten Sachverhalts unter das materielle Strafrecht verwenden, während sie in der Hauptverhandlung vor allem durch gesicherte strafprozessuale Kenntnisse versuchen müssen, die „Lufthoheit“ zu wahren), ganz besonders aber für die Strafverteidiger. Sie können mit Blick auf das materielle Strafrecht zumindest theoretisch darauf vertrauen, dass dieses von Gericht und Staatsanwaltschaft zutreffend und objektiv auf den festgestellten Sachverhalt angewendet wird, während die (ohnehin vielfach begrenzten) „Gestaltungsmöglichkeiten“ der Verteidigung insbesondere in der Hauptverhandlung vorrangig strafprozessuale Felder (z.B. Beweisanträge, Ablehnungsanträge, erforderliche Widersprüche und Zwischenrechtsbehelfe etc.) betreffen.

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Insoweit ist dieser Eindruck zwar richtig. Aber selbst in einem prozessualen Band eines Handbuchs zum Strafrecht soll ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass auch die Bedeutung des materiellen Strafrechts und seiner Kenntnis (und zwar insbesondere auch für die Verteidigung) nicht unterschätzt werden darf. Materiell-rechtliche Fragen stellen sich nämlich nicht nur in praktisch jedem Verfahrensstadium beginnend beim Ermittlungsverfahren (in welchem etwa Zwangsmaßnahmen nur angeordnet werden dürfen, wenn nicht nur der Verdacht eines bestimmten Verhaltens besteht, sondern dieses Verhalten auch einen Straftatbestand darstellt) über die Frage nach Anklageerhebung (oder aber eben nicht) und das Urteil (Verurteilung oder Freispruch) bis zur Revision, in welcher die Verletzung sachlichen Rechts zwar keiner so elaborierten Begründung bedarf wie die Erhebung einer Verfahrensrüge (vgl. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO), von einer qualitätsvollen Revision aber dennoch in einer Weise geleistet werden wird, welche das Revisionsgericht zum Nachdenken anregt.

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In all diesen und auch anderen Situationen ist es auch für einen Strafverteidiger in der Praxis wichtig, das materielle Recht zu kennen. Ihm kommt insoweit eine „Kontrollfunktion“ zu, da sich selbstverständlich auch Richter einmal irren können.[133] Auch gibt es schlicht Grenzfälle, in denen die gesetzliche Lösung nicht klar vorgegeben ist und Gerichte durchaus unterschiedlich judizieren.[134] Zuletzt ermöglichen auch nur gute Kenntnisse im materiellen Recht und vor allem auch ein überzeugendes Argumentationsvermögen in diesem Bereich, bei einem Richter auch an Entscheidungen, die er letztlich so trifft/treffen würde, wie er sie eben trifft bzw. treffen zu müssen meint, Zweifel in rechtlicher Hinsicht zu schüren. Diese können dann zwar nicht in der Entscheidung über die Tat- und Schuldfrage, wohl aber bei den Rechtsfolgen durchschlagen, sei es in Gestalt einer gemilderten Strafe, sei es (obwohl der Schuldspruch natürlich nicht verständigbar ist, vgl. § 257c Abs. 2 S. 3 StPO) im Rahmen einer Verständigung oder sei es als Motivation für eine Einstellung nach § 153a StPO.

III. Strafverfahren und Zivilverfahren

1. Die ordentliche Gerichtsbarkeit als gemeinsamer Rahmen

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Bereits äußerlich-organisatorisch werden das Strafprozessrecht und das Zivilprozessrecht ungeachtet ihrer konzeptionellen Unterschiede durch ein gegenseitiges Näheverhältnis geprägt, da Straf- und Zivilgerichtsbarkeit die beiden Zweige der sogenannten ordentlichen Gerichtsbarkeit (auch mit einem gemeinsamen Bundesobergericht in Gestalt des Bundesgerichtshofs) darstellen. Personell setzt sich dies darin fort, dass – mit Unterschieden in den einzelnen Bundesländern – Richter im Verlauf ihres Dienstlebens zwischen der Zivil- und der Strafgerichtsbarkeit sowie teilweise auch der Staatsanwaltschaft hin- und herwechseln. Auch sind für Strafverfahren und bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten die gleichen Gerichte – wenngleich mit verschiedenen Spruchkörpern – zuständig: Es sind dies das Amtsgericht (zu den bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten dort vgl. §§ 23 ff. GVG; zur Zuständigkeit in Strafsachen vgl. §§ 24 ff. GVG), die Landgerichte (zur Zuständigkeit der Zivilkammern vgl. §§ 71 ff. GVG; zur Zuständigkeit der Strafkammern vgl. §§ 74 ff. GVG), die Oberlandesgerichte (zur Zuständigkeit in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vgl. §§ 118 ff. GVG; zur Zuständigkeit in Strafsachen vgl. §§ 120 ff. GVG) sowie der soeben bereits erwähnte Bundesgerichtshof.

2. Weitere Gemeinsamkeiten

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Neben dieser gemeinsamen justiz-organisatorischen Behandlung gibt es – jedenfalls theoretisch – zwischen Zivil- und Strafverfahren auch große Gemeinsamkeiten in den Verfahrensabläufen, die durch für beide Verfahrensarten gemeinsam aufgestellte Regeln im GVG entstehen. Es sind dies z.B. die Vorschriften über die Öffentlichkeit (§§ 169 ff. GVG), über die Gerichtssprache und die Dolmetscher (§§ 184 ff. GVG), über die Beratung und Abstimmung (§§ 192 ff. GVG, für das Strafverfahren freilich durch § 263 StPO modifiziert) sowie – seit einigen Jahren – über den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer (§§ 198 ff. GVG). Freilich ist insoweit einzuräumen, dass hier etwa auch das verwaltungsgerichtliche Verfahren durch seine §§ 54 (Verweis auf die ZPO für die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen), 55 (weitgehender Verweis auf das GVG hinsichtlich Öffentlichkeit, Sitzungspolizei, Gerichtssprache sowie Beratung und Abstimmung) und 173 VwGO (entsprechende Anwendbarkeit von GVG und ZPO zur Schließung etwaiger Lücken, „wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen“) vielfach zu einer Angleichung führt, auch ohne dass das GVG unmittelbar gelten würde.

 

3. Unterschiede bei den Prozessmaximen

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Trotz der damit vorliegenden Identität hinsichtlich einer Reihe formaler Gestaltungen unterscheiden sich Zivil- und Strafprozess in ihrer Struktur (klassischer Parteiprozess versus moderner Inquisitionsprozess) und ihres Ablaufes sehr deutlich. Letztlich spiegelt sich dies nicht zuletzt in den unterschiedlichen Prozessmaximen wider: Während im Zivilprozess nach der Dispositionsmaxime die Parteien über Beginn, Gegenstand und Ende des Verfahrens bestimmen, gilt für das Strafverfahren die Offizialmaxime, wonach öffentliche Stellen von Amts wegen tätig werden. Dabei gelten im Zivilverfahren Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz, wonach nur solche Tatsachen berücksichtigt werden dürfen, die von den Parteien beigebracht werden, und Behauptungen, die von der Gegenseite zugestanden oder nicht bestritten werden, vom Gericht ohne weitere Nachprüfung im Urteil zugrunde gelegt werden können; demgegenüber ist das Strafprozessrecht von der Untersuchungsmaxime (Inquisitionsmaxime) geprägt, nach welcher im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft und in der (jedenfalls instanzgerichtlichen) Hauptverhandlung das Gericht grundsätzlich die materielle Wahrheit herauszufinden bemüht sein muss. Auch findet das Legalitätsprinzip des Strafverfahrens kein Pendant im Zivilverfahren, da niemand gezwungen ist, seine Ansprüche geltend zu machen. Obwohl in beiden Verfahrensordnungen die Konzentrationsmaxime und das Beschleunigungsgebot gelten, spielen im Strafverfahren grundsätzlich Präklusionsregeln eine viel geringere Rolle als im Zivilverfahren. Auch ist der – formal in beiden Verfahrensordnungen geltende – Mündlichkeitsgrundsatz insgesamt im Strafverfahren weniger eingeschränkt, da die Bezugnahme auf vorher wechselseitig zugestellte Schriftstücke im Zivilprozess gang und gäbe ist, im Strafverfahren dagegen keine Rolle spielt.

IV. Ähnliche und modifizierte Verfahrensregelungen

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Strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Strafprozess haben auch andere Verfahrensarten, in denen es um die Aufklärung und anschließende Ahndung von Fehlverhalten geht. Dieses Verfahren kennen teilweise Verweisungsnormen auf die StPO (so z.B. in § 25 Abs. 2 BDO); teilweise werden umgekehrt im Strafverfahrensrecht Rechtsgedanken aus diesen anderen Verfahrensarten aufgegriffen (so z.B. zur objektiven Bestimmung des Beschuldigtenbegriffs durch Rückgriff auf den in § 397 Abs. 1 AO geregelten Gedanken[135]). Vielfach ergeben sich auch unmittelbare Verzahnungen durch das Nebeneinander von Regelungen der Strafprozessordnung und der jeweiligen Spezialgesetze (so für das Jugendstrafverfahren nach dem JGG, im Steuerstrafverfahren nach der AO und im Bußgeldverfahren nach dem OWiG).

1. Das Jugendstrafverfahren

a) Allgemeines

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Das Jugendstrafrecht[136] ist ein Sonderstrafrecht für junge Täter. Dabei kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Verurteilung (bzw. für das Verfahren: auf den Zeitpunkt des Prozesses), sondern auf den Zeitpunkt der Tat an. Jugendlicher ist dabei, wer zur Zeit der Tat 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 1 Abs. 2 JGG). Für die Taten von Jugendlichen gilt (mit Blick auf das Verfahren und die Rechtsfolgen) subsidiär (dabei aber durchaus zu großen Teilen) das Allgemeine Strafrecht und damit auch die StPO, soweit das JGG keine Sondervorschriften enthält (vgl. § 2 Abs. 2 JGG).

b) Wichtige verfahrensrechtliche Abweichungen

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Das Verfahrensrecht ist umfangmäßig der größte Teil des JGG. Nach den Regelungen über die Jugendgerichtsverfassung (§§ 33 ff. JGG) und über die Zuständigkeit der Jugendstrafgerichte (§§ 39 ff. JGG) werden in §§ 43 ff. JGG die Verfahrensbesonderheiten geregelt. Erwähnenswert, da prägend für das Jugendstrafrecht als Erziehungsstrafrecht, erscheint hier zunächst die Erweiterung der Einstellungsmöglichkeiten im Bereich des Ermittlungsverfahrens (sogenannte Diversion), wobei zwischen der staatsanwaltschaftlichen Diversion nach § 45 JGG und der richterlichen Diversion nach § 47 JGG unterschieden werden kann. Ziel ist hier, auf die negativen Sekundäreffekte nicht erst einer Bestrafung (im technischen Sinne), sondern auch schon des weiteren Verfahrens möglichst zu verzichten, wenn eine frühzeitige Einstellung des Verfahrens unter als pädagogisch sinnvoll erachteten Umständen (Durchführung bzw. Anregung erzieherisch sinnvoller Maßnahmen) möglich erscheint.

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Kommt es dagegen doch zu einem Verfahren, so bestehen weitere Abweichungen etwa in der grundsätzlichen Nichtöffentlichkeit des Jugendstrafverfahrens (§ 48 JGG) und in der Einschränkung von Rechtsmitteln (§ 55 JGG). Dabei kann eine Entscheidung, in der lediglich Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel angeordnet oder die Auswahl und Anordnung von Erziehungsmaßregeln dem Familiengericht überlassen wird, wegen des Umfangs der Maßnahmen nicht angefochten werden; außerdem besteht grundsätzlich nur die Möglichkeit, dass gegen eine Entscheidung entweder Berufung oder Revision eingelegt wird, so dass grundsätzlich kein dreigliedriger Instanzenzug möglich ist. Beide Einschränkungen verfolgen das Ziel, dass die angeordnete (erzieherisch gedachte) Sanktion in einem möglichst relativ engen zeitlichen Zusammenhang mit der abgeurteilten Tat wirksam werden kann. Eine Sonderrolle im Jugendstrafverfahren spielen ferner die Erziehungsberechtigten, denen (als Ausfluss des grundgesetzlich gewährleisteten Erziehungsrechts) in § 67 JGG bestimmte Rechte eingeräumt werden.

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Zuletzt sind im Jugendstrafverfahren einige Vorschriften bzw. Rechtsinstitute des allgemeinen Verfahrensrechts generell ausgeschlossen, bei denen der Gesetzgeber davon ausgeht, dass eine (erziehungsschädliche) Belastung des Jugendlichen die gegebenenfalls mit diesen Instituten erhofften Vorteile überwiegt: So finden nach § 79 JGG gegen den Jugendlichen kein Strafbefehls- und kein beschleunigtes Verfahren statt. Nach § 80 JGG sind Privatklage und Nebenklage gegen ihn ausgeschlossen. Nach § 81 JGG werden auch die Vorschriften über die Entschädigung des Verletzten (§§ 403 ff. StPO) im Verfahren gegen einen Jugendlichen nicht angewendet.

c) Das Verfahrensrecht in Verfahren gegen Heranwachsende

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War der Täter zur Zeit der Tat 18, aber noch nicht 21 Jahre alt, so ist er als Heranwachsender zu behandeln (vgl. § 1 Abs. 2 JGG). Für das Verfahrensrecht gilt insoweit ein abgestuftes System der Anwendung der Besonderheiten des jugendstrafgerichtlichen Verfahrens: Die Vorschriften über die Gerichtsverfassung gelten nach § 107 JGG in Verfahren gegen Heranwachsende entsprechend. Gleiches gilt im Grundsatz auch für die Zuständigkeit der Jugendgerichte (§§ 39–42 JGG), vgl. § 108 Abs. 1 JGG; gewisse Abweichungen sind nach § 108 Abs. 2, 3 JGG nur im Zusammenhang mit der für Heranwachsende möglichen Anwendung des Allgemeinen Strafrechts (vgl. § 105 JGG) zu beachten.

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Hinsichtlich der eigentlichen Verfahrensvorschriften gilt Folgendes: Eine Reihe von Vorschriften sind nach § 109 Abs. 1 JGG im Verfahren gegen einen Heranwachsenden generell entsprechend anzuwenden. Ein anderer Teil von Vorschriften findet nach § 109 Abs. 2 JGG nur dann Anwendung, wenn der Richter nach Maßgabe von § 105 JGG Jugendstrafrecht auf ihn anwendet. Dies erscheint auf den ersten Blick erstaunlich, da diese Entscheidung ja erst mit Abschluss des Verfahrens getroffen werden kann, so dass man sich fragen mag, wie Verfahrensregelungen davon abhängig gemacht werden können. Bei näherer Betrachtung wird aber deutlich, dass es sich hier durchgehend um Vorschriften handelt, die ebenfalls den Abschluss des Verfahrens im Blick haben (etwa die Diversionsvorschriften der §§ 45 und 47 JGG) oder die überhaupt erst im Zeitpunkt nach dem Abschluss des (jedenfalls erstinstanzlichen) Verfahrens bedeutsam werden (etwa Anrechnung von Untersuchungshaft im Urteil; Einschränkung der Rechtsmittelmöglichkeiten; Kostenfragen etc.).

2. Das Steuerstrafverfahren

a) Allgemeines

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Das Steuerstrafverfahren ist im 3. Abschnitt des 8. Teils der AO (§§ 385 ff. AO) geregelt.[137] Zentrale Vorschrift und zugleich Brückennorm in die StPO ist dabei § 385 Abs. 1 AO: Hiernach gelten für das Strafverfahren wegen Steuerstraftaten (vgl. § 369 AO) die „allgemeinen Gesetze über das Strafverfahren, namentlich die Strafprozessordnung“, soweit in den §§ 386 ff. AO nichts Abweichendes bestimmt ist. Daneben sind für das steuerrechtliche Bußgeldverfahren ergänzend zu den Vorschriften des OWiG (vgl. hier auch unten Rn. 75 ff.) die §§ 409–412 AO von Bedeutung.

b) Wichtige Unterschiede

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Ein wesentlicher und auch praktisch bedeutsamer Unterschied zu den allgemeinen Strafsachen besteht darin, dass in Steuerstrafsachen die Ermittlungen des Sachverhalts durch die Finanzbehörden (vor allem durch die Steuerfahndung, vgl. § 208 AO, sowie durch die Straf- und Bußgeldstelle) geführt werden können. Dazu haben die Finanzbehörden grundsätzlich die gleichen Ermittlungskompetenzen wie die Polizei in allgemeinen Strafsachen (vgl. § 404 AO). Soweit die verfolgte Tat entweder ausschließlich eine Steuerstraftat darstellt oder die verfolgte Tat Kirchensteuern oder andere öffentlich-rechtliche Abgaben betrifft, die an das Steuerverfahren anknüpfen, führt die Finanzbehörde das Ermittlungsverfahren nach § 386 Abs. 2 AO selbstständig durch. Damit hat sie zunächst die Stellung wie die Staatsanwaltschaft in allgemeinen Strafsachen. Diese Kompetenz zur selbstständigen Führung des Verfahrens endet allerdings, sobald gegen einen Beschuldigten wegen der Tat ein Haftbefehl oder ein Unterbringungsbefehl erlassen wird. Ferner kann die ermittelnde Finanzbehörde auch unabhängig davon die Strafsache jederzeit an die Staatsanwaltschaft abgeben (§ 386 Abs. 4 S. 1 AO), während umgekehrt auch die Staatsanwaltschaft ihrerseits das Verfahren jederzeit von sich aus an sich ziehen kann (sog. Evokationsrecht, § 386 Abs. 4 S. 2 AO).

 

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Gleichsam spiegelbildlich zu den Ermittlungsbefugnissen der sachnahen und inhaltlich kompetenten Finanzbehörden gibt es auch mögliche Erweiterungen auf Verteidigerseite: Nach § 392 Abs. 1 AO können (ergänzend neben einem Rechtsanwalt bzw. Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule mit Befähigung zum Richteramt, also ähnlich § 138 Abs. 1 StPO) Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer zu Verteidigern gewählt werden. Solange die Finanzbehörde nach § 396 Abs. 2 AO das Strafverfahren selbstständig durchführt, können die Steuerberater usw. auch als alleinige Verteidiger auftreten.

c) Phänomenologie und Verfahrensstruktur

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Steuerverfahren sind zwar nicht stets, aber zumindest in größeren Fällen häufig gleichsam „wirtschaftsstrafrechtstypisch“ durch lange Verfahren und komplexe, zahlreiche außerstrafrechtliche Vorfragen berührende Sachverhalte geprägt. Umfang wie Komplexität der Fälle, möglicherweise aber auch typische soziostrukturelle Merkmale der Steuerstraftäter und die „konsensuale Tradition“ des Steuerverfahrens („tatsächliche Verständigung“) führen dazu, dass gerade auch Steuerstrafverfahren ein wichtiges Anwendungsfeld für Verfahrensabsprachen – seien es solche nach § 257c StPO, seien es (für die Beschuldigten oft noch erstrebenswerter) solche im Ermittlungs- oder Zwischenverfahren[138] – darstellen.

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Typisch ist ferner aufgrund der häufigen Parallelität mit dem Steuerverfahren und seinen vom Strafverfahren abweichenden Prinzipien (insb. in Gestalt von umfangreichen Mitwirkungspflichten, vgl. nur §§ 99 ff., 200 AO) ein Ziel- und vor allem Prinzipienkonflikt zwischen den beiden Verfahrensarten. Dies gilt in besonderem Maße mit Blick auf den strafrechtlichen Grundsatz der Freiheit von Selbstbelastung. Dieser Konflikt wird durch § 393 AO – mehr oder weniger erfolgreich – entschärft.[139] Nach dieser Vorschrift werden die Rechte und Pflichten der Verfahrensbeteiligten in beiden Verfahren unabhängig voneinander gestaltet, wobei aber auch im Steuerverfahren steuerrechtliche Zwangsmittel für unzulässig erklärt werden, wenn der Steuerpflichtige dadurch gezwungen würde, sich wegen einer Steuerstraftat bzw. Ordnungswidrigkeit selbst zu belasten. Dies gilt nach § 393 Abs. 1 S. 3 AO insb. dann, wenn wegen der Tat gegen den Steuerpflichtigen ein Strafverfahren eingeleitet worden ist; hierüber ist der Steuerpflichtige nach § 393 Abs. 1 S. 4 AO zu belehren. Schließlich errichtet § 393 Abs. 2 AO eine „Verwendungssperre“ dahingehend, dass Erkenntnisse aus pflichtgemäß gemachten Angaben in den Steuerakten von den Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich nicht für andere als Steuerstraftaten verwertet werden dürfen, soweit an der Verfolgung nicht ein zwingendes öffentliches Interesse i.S. des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO besteht.[140]