Handbuch des Strafrechts

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c) Rechtsstellung des Verletzten

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Das Gesetz zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten vom 24. Oktober 2006[163] überarbeitet die Vorschriften zur vollstreckungssichernden Sicherstellung (§§ 111b bis 111k StPO) auch mit Blick auf die Ansprüche des Geschädigten. Einen Auskunftsanspruch des Verletzten über Kontaktverbote und den Status gegen den Beschuldigten oder Verurteilten angeordneter freiheitsentziehender Maßnahmen gewährt der 2007 hinzugefügte § 406d Abs. 2 StPO.[164]

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Das 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29. Juli 2009[165] fasst einige Vorschriften über die Nebenklage neu (§§ 395, 397, 397a StPO), erweitert den Katalog der nebenklagefähigen Delikte sowie derjenigen, bei denen ein Beistand gestellt wird. Die allgemeinen Verletztenbefugnisse in §§ 406e bis 406h StPO werden einfacher gefasst. Interessanterweise wird auch eine Vorschrift über die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in die StPO aufgenommen, dass nämlich die Staatsanwaltschaft die Anzeige eines inländischen Opfers einer Straftat, die im Ausland begangen wurde und nur dort strafbar ist, an die zuständige ausländische Strafverfolgungsbehörde weiterleiten kann, § 158 Abs. 3 StPO.

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Eine deliktsspezifische Ergänzung ist kurz darauf durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26. Juni 2013[166] erfolgt. Um mehrere Vernehmungen, vor allem eine erneute Vernehmung von schutzbedürftigen Opferzeugen in der Hauptverhandlung, zu vermeiden, soll gem. § 58a Abs. 1 StPO schon die erste Vernehmung eine richterliche sein und audiovisuell aufgezeichnet werden. § 255a Abs. 2 StPO ermöglicht das Abspielen in der Hauptverhandlung. Auf die schutzwürdigen Interessen von Prozessbeteiligten, Zeugen oder Verletzten soll ferner bei der Verkündung der mündlichen Urteilsgründe Rücksicht genommen werden, § 268 Abs. 2 S. 2 StPO; dazu kann, soll oder muss auch die Öffentlichkeit schon während der Verhandlung ausgeschlossen werden, § 171b Abs. 1 bis 3 GVG. Schließlich werden die Rechte von mutmaßlichen Opfern dieser Straftaten im Rahmen der Nebenklagebefugnis erweitert, § 397a StPO.

IV. Die Entwicklung seit 2013

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In der 18. Legislaturperiode ist es zum ersten Mal in der Bundesrepublik zur Einsetzung einer mit Vertretern von Wissenschaft und Praxis besetzten „Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens“ gekommen.[167] Zwar wurde sie nicht wie die 50 Jahre zuvor geforderte „Große Strafprozesskommission“ mit der Aufgabe einer Gesamtreform betraut, sollte aber doch mehr als nur ad hoc-Korrekturen ersinnen. Die Ziele der Effektivierung und Steigerung der Praxistauglichkeit sollten durch weiterreichende Reformvorschläge im Sinne struktureller Verbesserungen erreicht werden; darauf beruhende Gesetzentwürfe sollten allerdings noch in der laufenden Legislaturperiode in Kraft treten, womit anspruchsvollere Reformvorhaben praktisch ausschieden.[168] Im Oktober 2015 hat die Kommission ihren Abschlussbericht vorgelegt mit einer Fülle von Detailvorschlägen,[169] von denen eine Reihe noch gegen Ende der Legislaturperiode umgesetzt wurden. Nicht aufgegriffen wurden Vorschläge zur Anwesenheit des Verteidigers bei der polizeilichen Vernehmung, zur Schaffung einer speziellen gesetzlichen Grundlage für den Einsatz von V-Personen, für ein ausdrückliches gesetzliches Verbot der Tatprovokation sowie die Anregung, die Einführung einer obligatorischen audiovisuellen Dokumentation der gesamten erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor dem LG und OLG zu prüfen. Insgesamt wurde die StPO bis zum Ende der Legislaturperiode durch 31 Gesetze geändert, wovon ein Teil auf sachlich gehaltlose Folgeänderungen entfiel.

1. Modernisierung

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Das Gesetz vom 17. Juli 2015[170] stellt der Strafprozessordnung eine Inhaltsübersicht voran, zugleich erhielten die Untergliederungen und Vorschriften nun amtliche Überschriften. Das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017[171] ersetzt im StGB die bisherigen Instrumente Einziehung und Verfall durch die einheitliche Einziehung (neuen Typs), wodurch eine Neuordnung der prozessualen Vorschriften, namentlich von vollstreckungssichernder Beschlagnahme und Arrest in §§ 111b bis 111q StPO und der besonderen Verfahrensregeln nach §§ 421 ff. StPO sowie des selbstständigen Einziehungsverfahrens (§§ 435 bis 439 StPO) erforderlich wurde. Ein Novum stellt die besondere Beweismaßregelung des § 437 StPO dar, die dem Gericht erläutert, worauf es seine Überzeugung stützen darf, und neben § 261 StPO überflüssig erscheint.

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Das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs[172] vom 5. Juli 2017[173] schafft auch im Strafverfahren eine gesetzliche Grundlage für die Einführung einer elektronischen Akte. Zugleich werden die Vorschriften über den elektronischen Rechtsverkehr in Strafsachen an die Regelungen angeglichen, die für die übrigen Gerichtsbarkeiten schon im Jahr 2013 geschaffen wurden. Ab dem 1. Januar 2026 sollen in Strafsachen neu anzulegende Akten nur noch elektronisch geführt werden (§§ 32 bis 32f, 496 bis 499 StPO).

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Zu den zahlreichen aus dem Bericht der Expertenkommission hervorgegangenen Einzelmaßnahmen zur Verfahrensvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung, die das gleichnamige Gesetz vom 17. August 2017[174] aufnimmt, zählt z.B. im Ermittlungsverfahren die Einführung einer Pflicht für Zeugen, bei der Polizei zu erscheinen (§ 163 Abs. 3 bis 7 StPO), im Hauptverfahren die Möglichkeit, trotz eines Befangenheitsantrags bis zur Verlesung des Anklagesatzes weiterzuverhandeln (§ 29 StPO), die Möglichkeit der Fristsetzung für Beweisanträge (§ 244 Abs. 6 StPO), die Erweiterung der Verlesungsmöglichkeiten (§§ 251, 254, 256 StPO) sowie die Anwendbarkeit des § 153a StPO im Revisionsverfahren. Zum anderen soll eine Verfahrensförderung durch eine offene, kommunikative Verhandlungsführung erreicht werden, weshalb bei umfangreichen Verfahren der Vorsitzende den äußeren Ablauf der Hauptverhandlung vor der Terminbestimmung mit dem Verteidiger, der Staatsanwaltschaft und dem Nebenklägervertreter abstimmen soll (§ 213 Abs. 2 StPO); auch kann der Verteidiger vor der Vernehmung des Angeklagten für diesen eine, ggf. schriftlich einzureichende, Erklärung abgeben (§ 243 Abs. 5 S. 2 StPO).

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Das Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren (EMöGG)[175] vom 8. Oktober 2017 sieht eine geringfügige Einschränkung des ausnahmslosen Verbots von Ton- und Filmaufnahmen in § 169 GVG in dreierlei Hinsicht vor: Zum einen können nun Entscheidungsverkündungen des Bundesgerichtshofs, nicht aber der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes, grundsätzlich von Medien übertragen werden, wenn das Gericht dies gestattet, zweitens können, als Folge der Erfahrungen mit dem Münchener NSU-Prozess, Arbeitsräume für Medienvertreter nur mit Tonübertragung für Verfahren mit erheblichem Medieninteresse vorgesehen werden und drittens wird eine Tonaufzeichnung von Gerichtsverfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung ermöglicht. Schließlich kann Personen mit Sprach- und Hörbehinderungen im Strafverfahren eine Sprach- oder Übersetzungshilfe für das gesamte Verfahren beigeordnet werden (§§ 186, 187 GVG).

2. Ermittlungsbefugnisse

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Mit Gesetz vom 10. Dezember 2015[176] wird die Vorratsdatenspeicherung in beschränktem Umfang wiedereingeführt (§§ 100g, 101a, 101b StPO n.F., 113a, 113b TKG n.F.). Erst in der Ausschussberatung[177] des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens und folglich ohne vorbereitende rechtspolitische Diskussion wurden 2017 zwei weitere Eingriffsbefugnisse in die StPO aufgenommen, die der Anpassung an moderne Kommunikationstechnik dienen, nämlich die sog. Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ), die auf Kommunikationsinhalte vor ihrer Verschlüsselung zugreift (§ 100a Abs. 1 Satz 2 und 3, neue Absätze 4 bis 6 StPO), und die Online-Durchsuchung (§ 100b StPO), für die es ebenfalls einer eigenen Eingriffsgrundlage in das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme[178] bedurfte.

 

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Die Streichung des Richtervorbehalts in § 81a StPO bei Straßenverkehrsdelikten war zunächst in einem eigenen Gesetzentwurf vorgesehen[179] und wurde dann im Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens durch Einfügung eines neuen Satzes 2 in § 81a Abs. 2 StPO beschränkt auf Verkehrsdelikte realisiert. Zudem wurden die §§ 81e, 81h StPO angepasst, um „Beinahetreffer“ bei DNA-Reihenuntersuchungen verwerten zu können.

3. Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten

a) Rechtsstellung des Beschuldigten

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Mit dem Gesetz vom 17. Juli 2015[180] reagierte der Gesetzgeber auf die Entscheidung des EGMR vom 8. November 2012, dass die Verwerfung einer Berufung des nicht persönlich erschienenen, aber anwaltlich vertretenen Angeklagten gem. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK darstelle,[181] und fasst § 329 StPO neu.

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Das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 bezweckt auch eine Verbesserung der Wahrheitsfindung durch bessere Dokumentation des Ermittlungsverfahrens, namentlich durch die audiovisuelle Aufzeichnung von Vernehmungen, die aber nur beim Verdacht eines vorsätzlichen Tötungsdelikts sowie bei schutzbedürftigen Zeugen verpflichtend ist (§ 136 Abs. 4 StPO). Zur Stärkung der Beschuldigtenrechte wird diesem bei einer richterlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder von Amts wegen ein Verteidiger bestellt, wenn dessen Mitwirkung aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint (§ 141 Abs. 3 S. 4, Abs. 4 StPO). Sowohl der Transparenz als auch dem Verteidigungsrecht des Beschuldigten dient eine mehrfache Erweiterung der Hinweispflicht des § 265 StPO u.a. bei geänderter Sachlage.

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Das Zweite Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts vom 27. August 2017[182] dient der weiteren Umsetzung der Richtlinie 2013/48/EU,[183] die Teil der Verwirklichung des europäischen „Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren“[184] ist. Das Gesetz gestattet nun die Anwesenheit des Verteidigers bei einer Gegenüberstellung mit dem Beschuldigten (§ 58 Abs. 2 StPO). Ausdrücklich verankert wird die Verpflichtung, dem Beschuldigten, der vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen will, allgemeine Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren (§ 136 Abs. 1 S. 3 und 4 StPO). Geändert werden auch die Vorschriften über die Kontaktsperre (§§ 31 ff. EGGVG) dahingehend, dass sie den Kontakt mit dem Verteidiger nicht in jedem Fall berühren.

b) Rechtsstellung von Zeugen und Verletzten

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Vorkehrungen zur Rücksichtnahme auf die besonderen Schutzbedürfnisse des verletzten Zeugen regelt der durch das 3. Opferrechtsreformgesetz vom 21. Dezember 2015 eingefügte § 48 Abs. 3 StPO.

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Das 3. Opferrechtsreformgesetz vom 21. Dezember 2015[185] dient der Umsetzung der neuen Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU vom 25. Oktober 2012 mit punktuellen Änderungen und einer der Verbesserung der Übersichtlichkeit dienenden Neufassung der §§ 406d bis 406l StPO, in die der Anspruch auf psycho-soziale Prozessbegleitung (§ 406g StPO n.F.) neu aufgenommen wird. Vorgesehen wird zudem eine Eingangsbestätigung der Strafanzeige des Verletzten in § 158 Abs. 1 StPO, wenn dies beantragt wird.

D. Rückblick

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Vergleicht man die StPO des Jahres 2017 mit der Fassung des Vereinheitlichungsgesetzes von 1950, so hat man es mit zwei in ihrer Grundstruktur eng verwandten, aber ansonsten deutlich verschiedenen Gesetzen zu tun.[186] Das heutige Gesetz ist nicht nur erheblich umfangreicher[187] – mehr Paragraphen (669 gegenüber 483), die mitunter auch erheblich länger sind (z.B. die heutigen §§ 100c, 100g, 101 StPO) –, es atmet auch den Geist einer anderen Zeit[188].

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Die Rechtsstellung des Beschuldigten hat sich in mancher Hinsicht und sowohl aufgrund gewachsener Grundrechtssensibilität des Gesetzgebers als auch infolge der immer dichter werdenden Judikatur von BVerfG und EGMR verbessert, es gibt mehr Belehrungs- und Informationspflichten, die Gehör, Einflussnahme und Zugang zu anwaltlichem Beistand erleichtern. Ermächtigungsgrundlagen für Grundrechtseingriffe sind hinsichtlich Voraussetzungen und Verfahren erheblich präzisiert worden, einschließlich vorstrukturierter Abwägungen anhand von Straftatkatalogen nebst einer Fülle intrikater Datenschutzregeln. Diese Entwicklung ist allerdings, als kaum vermeidbare Folge steter Novellengesetzgebung, uneinheitlich verlaufen: Den filigranen Eisblüten rechtsstaatlichen Raffinements, die mitunter bis an die Grenzen der Praktikabilität gehen – man denke an die vorerwähnten §§ 100c, 100g, 101 sowie §§ 131 bis 131c StPO – stehen die lakonischen Relikte des 19. Jahrhunderts gegenüber wie §§ 94 ff., 102 ff. StPO. Auch gibt es altehrwürdige blinde Flecken – so fehlt für die Anwendung unmittelbaren Zwangs bei Durchsuchungen und Festnahmen nach wie vor eine explizite Regelung, auch für die Wahlgegenüberstellung mit dem Beschuldigten. Den Gesetzgeber kümmert eine Beobachtung an drei Tagen (§ 163f StPO) offenbar mehr als ein Schuss ins Knie bei der vorläufigen Festnahme. Von systematischer Stimmigkeit ist der normative Flickenteppich des ersten Buchs der StPO schon lange weit entfernt.

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Dem Ausbau der Subjektstellung stehen Einschränkungen gegenüber, die sich gegen tatsächlichen oder angenommenen „Missbrauch“ von Verfahrensrechten richten (§§ 138a ff., 148 Abs. 2, 257a StPO, §§ 31 ff. EGGVG usw.) oder Beschleunigung erzielen sollen (§§ 222a, 222b, 313, 322a, 336 S. 2, 420 StPO). Ob die Positivierung des Deals in § 257c StPO dem Beschuldigten nützt oder schadet, hängt sehr von der Handhabung im Einzelfall ab; ungeachtet des individuellen Nutzens mag auch der Rechtsstaat Schaden nehmen.

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Nicht nur verfeinertem rechtsstaatlichem Empfinden, sondern vor allem der technischen Entwicklung verdankt sich die stete Vermehrung der Ermittlungsbefugnisse, namentlich die Überwachung mit neuen technischen Mitteln oder neuer technischer Kommunikationsmittel (§§ 100a ff. StPO), die rechtspolitisch gern mit dem martialischen Etikett der „Verbrechensbekämpfung“ versehen wird, das eine Verschmelzung repressiven und präventiven Staatshandelns insinuiert und an ein Wettrüsten erinnert. Die technische Entwicklung hat zugleich Einfluss auf die Qualität der Sachbeweismittel, die günstigstenfalls eine akkuratere Wahrheitsfindung erlauben und den Charakter der Hauptverhandlung verändern.

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Verbesserungen haben auch die Rechtsstellung gefährdeter Zeugen erfahren sowie namentlich die des mutmaßlichen Verletzten („Opfers“), der, auch ohne Anschluss als Nebenkläger, zu einem Akteur avanciert ist, der über eine Reihe prozessualer Befugnisse verfügt (§§ 406d ff. StPO), in denen eine nicht unbedenkliche Tendenz zur Reprivatisierung der Strafjustiz zum Ausdruck kommt.

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Institutionell und gerichtsverfassungsrechtlich hat sich seit 1950 Bedeutsames ereignet: Das inquisitorische Element der gerichtlichen Voruntersuchung ist entfallen und das Ermittlungsverfahren liegt nun allein in der Hand der Staatsanwaltschaft, aber auch der Laieneinfluss ist geschrumpft durch Abschaffung des neunköpfigen Schwurgerichts, das ein großes Schöffengericht war. Hinzu tritt eine Verlagerung der Zuständigkeiten von oben nach unten, von der Strafkammer auf die Amtsgerichte, vom BGH auf die Oberlandesgerichte, unter gleichzeitiger Ausdünnung des Kollegialprinzips z.B. bei den fünfköpfigen Spruchkörpern, die am LG im Regelfall nur noch in Viererbesetzung entscheiden. Spezialstrafkammern sind nun gesetzlich verankert, Schwerpunktstaatsanwaltschaften indes nicht, sieht man vom Generalbundesanwalt einmal ab.

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Diese Änderungen dienen primär der Justizentlastung durch Beschleunigung und Vereinfachung wie viele andere Maßnahmen auch, die mit einem gewandelten, eher „funktionalen“ als prinzipienorientierten Verständnis[189] tradierte Prozessmaximen stromlinienförmiger trimmen, etwa durch die stets erweiterten Unterbrechungsfristen, Verlesungs- und Selbstlesemöglichkeiten und erst recht durch die Verständigung, die im besten Fall eine Hauptverhandlung fast ganz erspart. Die eigentliche Entlastung findet aber außerhalb der Gerichtssäle statt, wo das Gros aller nicht nach § 170 Abs. 2 StPO einstellbaren Fälle erledigt wird durch Strafbefehl oder Einstellung vor allem nach §§ 153, 153a StPO und dies in beträchtlichem Umfang durch die Staatsanwaltschaft allein. Der strenge Anklage- und Verfolgungszwang, an dem §§ 152, 170 StPO verbal festhalten, ist durch die Vielzahl der Ausnahmen längst einem gebundenen Opportunitätsprinzip gewichen.

 

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Die heutige StPO ist in vielem ein besseres Gesetz als die von 1950, aber auch ein viel unübersichtlicheres und unausgewogeneres. Über 140 Jahre nach ihrer Verabschiedung stellt sich wohl weniger die Frage nach einer Gesamtreform, die ein gänzlich anderes Verfahrenskonzept verfolgt,[190] als nach einer Generalrevision, die die vielen Unwuchten, die durch unablässige Novellengesetzgebung mit ihrer bekanntlich begrenzten Leistungsfähigkeit[191] entstanden sind, behebt. Auch bildet der Gesetzestext die Rechtspraxis mitunter schon längst nicht mehr ab wie bei der Protokollberichtigung oder erweiterten Revision. Freilich wäre dies ein langfristiges Projekt, das in einer Legislaturperiode nicht zu bewältigen ist.

Ausgewählte Literatur


Baumann, Jürgen Strafprozeßreform in Raten, ZRP 1975, 38.
Engelhard, Hans A. Ist eine große Strafprozeßreform notwendig?, Rebmann-FS, 1989, S. 45.
Rieß, Peter Gesamtreform des Strafverfahrensrechts – eine lösbare Aufgabe?, ZRP 1977, 67.
Rieß, Peter Der Beschuldigte als Subjekt des Strafverfahrens in Entwicklung und Reform der Strafprozeßordnung, FS zum 100jährigen Gründungstag des Reichsjustizamts am 1. Januar 1877, 1977, S. 373.
Rieß, Peter Prolegomena zu einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts, Schäfer-FS, 1980, S. 155.
Rieß, Peter Über die Beziehungen zwischen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung im heutigen Strafprozeßrecht, ZStW 95 (1983), 529.
Rieß, Peter 15 Jahre Strafprozeß in Raten – Rückblick und Bilanz, Pfeiffer-FS, 1988, S. 155.
Rieß, Peter Gesamtreform des Strafprozesses – Chance oder Utopia?, Friebertshäuser-FG, 1997, S. 103.
Rieß, Peter Zur aktuellen Entwicklung des Strafverfahrensrecht, StraFo 2006, 4.
Rieß, Peter Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950, ZIS 2009, 466.
Schreiber, Hans-Ludwig Die Entwicklung der Reformdebatte – Strafprozeßreform ohne Gesamtperspektive, in: ders. (Hrsg.), Gesamtreform des Strafverfahrens, 1986, S. 7.
Weigend, Thomas Strukturelle Probleme im deutschen Strafprozess, StraFo 2013, 45.
Wolter, Jürgen Strafverfahrensrecht und Strafprozeßreform, GA 1985, 49.
Wolter, Jürgen Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007, 1991.