Handbuch des Strafrechts

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RGSt 72, 91 (94 ff.).









Ausführlich dazu

Ladiges

, in: Oğlakcιoğlu/Schuhr/Rückert (Hrsg.), Axiome des internationalen Strafverfahrensrechts, S. 73 (79 ff.).









RGSt 74, 47 (50 f.).









Ein weiteres Beispiel neben dem in

Rn. 71

 genannten ist RGSt 76, 313 (316).









RGSt 68, 110.









RG JW 1939, 222; a.A. OLG Kiel DJ 1936, 1694 unter Anwendung des § 2 RStGB;

Stutzer

, DStrR 1939, 193.









RGSt 75, 11; siehe im Einzelnen zur Wahrheitsermittlungspflicht

Hartung/Niethammer

, Neues Strafverfahrensrecht, S. 118 ff.









RGSt 75, 11 (12 f.); siehe auch mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung

Hartung/Niethammer

, Neues Strafverfahrensrecht, S. 120 ff.









RGSt 76, 254 (255).









RGSt 70, 326 (327 f.); RG, JW 1939, 221.









Vgl. RGSt 72, 89 (90); 72, 161 (162 f.); RG JW 1938, 447. Andere Tendenzen allerdings in RGSt 71, 339 (341); 72, 109 (110 ff.).









RGSt 70, 20 (25).









RGSt 74, 304 (306 f.).









RGSt 71, 353 (354).









RGSt 77, 153 (156).









RGSt 72, 268 (271 f.).









Weiterführend

Ladiges

, in: Oğlakcιoğlu/Schuhr/Rückert (Hrsg.), Axiome des internationalen Strafverfahrensrechts, S. 73 (92 f.).









Vgl. RGSt 73, 355 bzw. RGSt 70, 241 (242).









So

Luber

, in: Effer-Uhe u.a. (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft?, 2016, S. 219 (232).









Vgl.

Gribbohm

, NJW 1988, 2842 (2849).









Vgl.

Kern

, Der Aufgabenkreis des Richters, 1939, S. 20 ff.;

Bader

, NJW 1949, 737.









Vgl. den Aufsatztitel von

Broszat

, VjZ 6 (1958), 390.









Best

, Kriminalistik 1938, 26 (27); siehe beispielhaft zur wissenschaftlichen „Absicherung“ des Führungsanspruchs der Nationalsozialisten gegenüber der Rechtsprechung

Henkel

, Die Unabhängigkeit des Richters in ihrem neuen Sinngehalt, 1934, S. 22 f.









Vgl.

Müller

, Furchtbare Juristen, 1989, S. 179 ff.;

Broszat

, VjZ 6 (1958), 390 ff.









Vgl. Löwe/Rosenberg-

Kühne

, Einl. Abschn. F Rn. 47.





2. Abschnitt: Entstehung des geltenden Strafprozessrechts

 › § 6 Entwicklungslinien im Strafprozessrecht der Bundesrepublik








Carl-Friedrich Stuckenberg





§ 6 Entwicklungslinien im Strafprozessrecht der Bundesrepublik



A.

Überblick

1 – 7



B.Reformphasen von 1950 bis 19878 – 33




I.

Konsolidierung: Wiederherstellung der Rechtseinheit (1950–1964)

8 – 10




II.

Die „kleine Strafprozessreform“ des StPÄG 1964

11 – 15




III.

Reformpause (1964–1974)

16 – 18




IV.

Gesamtreform in Teilgesetzen und Terrorismusbekämpfung (1974–1987)

19 – 33



C.

Die Zeit von 1987 bis heute

34 – 89




I.

Die Entwicklung von 1987 bis 1998

35 – 44




1.

Modernisierung

36 – 39




2.

Ermittlungsbefugnisse

40, 41



  3.Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten42 – 44




a)

Rechtsstellung des Beschuldigten

42




b)

Rechtsstellung von Zeugen und Verletzten

43, 44




II.

Die Entwicklung von 1998 bis 2005

45 – 59




1.

Modernisierung

46 – 48




2.

Ermittlungsbefugnisse

49 – 52



  3.Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten53 – 58




a)

Rechtsstellung des Beschuldigten

53




b)

Rechtsstellung des Zeugen

54, 55




c)

Rechtsstellung des Verletzten

56 – 58




4.

Internationales

59




III.

Die Entwicklung von 2005 bis 2013

60 – 77




1.

Modernisierung

61 – 65




2.

Ermittlungsbefugnisse

66, 67



  3.Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten68 – 77




a)

Rechtsstellung des Beschuldigten

68 – 72




b)

Rechtsstellung der Zeugen

73, 74




c)

Rechtsstellung des Verletzten

75 – 77




IV.

Die Entwicklung seit 2013

78 – 89




1.

Modernisierung

79 – 82




2.

Ermittlungsbefugnisse

83, 84



  3.Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten85 – 89




a)

Rechtsstellung des Beschuldigten

85 – 87




b)

Rechtsstellung von Zeugen und Verletzten

88, 89



D.

Rückblick

90 – 97

 




Ausgewählte Literatur






A. Überblick



1





Obwohl die Strafprozessordnung bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland schon fast 70 Jahre lang in Kraft war, ist die ganz überwiegende Zahl der Änderungen an ihr in den nicht ganz 70 Jahren seitdem erfolgt. In der Zeit des Kaiserreichs wurde sie nur viermal, in der Weimarer Republik 15-mal und bis 1949 28-mal geändert, in der Bundesrepublik bis zum Ende der 18. Legislaturperiode 2017 205-mal, insgesamt 233-mal. Viele Änderungen sind Folgeänderungen geringen Ausmaßes und ohne sachlichen Gehalt, dennoch sind auch die meisten inhaltlich bedeutsamen Modifikationen der StPO seit 1949 erfolgt. Allerdings ist die Gesamtreform, die schon kurz nach ihrem Inkrafttreten gefordert wurde, bis heute nicht verwirklicht worden, und es ist auch nicht absehbar, dass dies in näherer Zukunft geschehen könnte.



2








Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 wurde eine Justizverfassung errichtet, die weitgehend dem Zustand der Weimarer Republik entsprach. Justizhoheit und die Justizverwaltung stehen wieder den Ländern zu, während dem Bund nur wenige Kompetenzen zukommen, so die konkurrierende Gesetzgebung für „das gerichtliche Verfahren“ (

Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG

), also auch für das Strafverfahren, sowie für die Errichtung oberer Bundesgerichte (

Art. 96 GG

). Bedeutung für das Strafverfahren kommt neben den in

Art. 2 ff. GG

 gewährleisteten Grundrechten nunmehr insbesondere den verfassungskräftigen Justizgrundrechten (

Art. 101 bis 104 GG

) zu.



3





Die seitdem vom Bundesgesetzgeber entfaltete, zunehmend regere Tätigkeit kann in den ersten drei Jahrzehnten in zeitliche Phasen unterteilt werden. Danach lassen sich nur noch einige thematische Entwicklungslinien aufzeigen, die parallel und unverbunden verlaufen. Übergreifende Ansätze fehlen, auch in Aufgabenstellung und Resultat der 2014 vom zuständigen Bundesminister einberufenen Expertenkommission. Im Überblick:



4





Die vordringlichste Aufgabe nach Gründung der Bundesrepublik war die Wiederherstellung der während der Besatzungszeit zersplitterten Rechtseinheit und Erneuerung der rechtsstaatlichen Grundlagen des Strafprozesses, die mit dem VereinhG 1950 begann und bis in die 1960er Jahre hinein bewältigt wurde. Nach der Phase der Konsolidierung begann die Anpassung des einfachen Verfahrensrechts an die Anforderungen aus der Verfassung und der inzwischen ratifizierten EMRK, wofür vor allem die sog. „kleine“ Strafprozessreform des StPÄG 1964 steht. Es folgt die Phase der mit einem Ausdruck von

Baumann

sog. „Strafprozessreform in Raten“, d.h. dem Versuch einer Erneuerung des Verfahrensrechts durch mehrere umfangreiche Novellen, namentlich dem 1. StVRG, der sich bis in die 1980er Jahre hinzieht. In diesen Zeitraum fällt mit dem Ergänzungsgesetz 1974, dem Antiterrorismusgesetz 1976, dem Kontaktsperregesetz 1977 und dem StPÄG 1978 der Beginn der bis heute immer wieder aufscheinenden Entwicklungslinie der Terrorismusbekämpfung, die man mit

Rieß

 als parallel verlaufende Phase der „reaktiven Krisenbewältigung“ begreifen kann und die auch Spuren im Strafprozessrecht hinterlässt.



5





Anschließend beginnt ab 1979 eine bis heute andauernde Reihe von Novellen, die der Entlastung und Vereinfachung oder auch Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtrechtspflege dienen. Seit dem Ende der 1980er Jahre ist eine prägnante Einteilung der legislativen Aktivität in zeitliche Phasen kaum mehr möglich, vielmehr lassen sich einige wiederkehrende Themen benennen, wie flankierende Maßnahmen der Verbrechens„bekämpfungs“gesetzgebung durch Ausbau der Ermittlungseingriffe, Prozessökonomie (Entlastung, Vereinfachung, Beschleunigung), Berücksichtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und des Datenschutzes, Stärkung der Rechte des mutmaßlichen „Opfers“ nebst Wiedergutmachungsmaßnahmen, Zeugenschutz sowie der Verfahrensbeendigung mit Zustimmung des Beschuldigten oder Angeklagten.



6





Eine umfassende Reform der aus der Kaiserzeit stammenden Strafprozessordnung ist seit der Frühzeit der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre hinein von Politik und Wissenschaft durchaus befürwortet worden. Ansätze dazu verliefen aber rasch erfolglos, unvollendet blieb ebenso die stattdessen geplante schrittweise Reform durch mehrere große Novellen. Eine amtliche Strafprozesskommission wurde erst 2014 einberufen, freilich mit engen Zeitvorgaben und ohne den Auftrag einer Gesamtreform. Die Vorstellungen, was an die Stelle des aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Modells des reformierten Strafprozesses treten sollte, haben sich im Laufe der Zeit verändert. Dachte man anfangs an Annäherungen an den Parteiprozess anglo-amerikanischer Prägung mit einer Zweiteilung der Hauptverhandlung, so trat später eine Neugestaltung des Gerichtsaufbaus und des Rechtsmittelsystems in den Vordergrund, dann eine Neugestaltung des Ermittlungsverfahrens. An die Stelle von Gesamtkonzepten sind seit längerem einzelne Themengebiete getreten. Zugleich stellte sich heraus, dass das Geschehen in deutschen Gerichtssälen immer weniger durch das Strafverfahrensrecht als durch informelle Praktiken bestimmt wird. Der wohl tiefgreifendste Eingriff in das Gefüge der StPO ist durch das Verständigungsgesetz 2009, das diese Praktiken kanalisieren soll, erfolgt, ohne dass die Tragweite im Gesetzgebungsverfahren adäquat reflektiert worden wäre. Die legislative Umsetzung eines Teils der Vorschläge der Expertenkommission von 2015 ist inzwischen durch eine Vielzahl punktueller Änderungen erfolgt.



7





Im Folgenden wird ein zusammenfassender Abriss der einzelnen Phasen und wichtigsten Entwicklungslinien der Gesetzgebung gegeben. Eine umfassende Darstellung der Änderungsgeschichte der StPO im Detail wird nicht angestrebt; eine Einbeziehung der zahlreichen amtlichen und privaten Reformentwürfe würde den Rahmen eines Kapitels sprengen.





B. Reformphasen von 1950 bis 1987






I. Konsolidierung: Wiederherstellung der Rechtseinheit (1950–1964)



8





Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950 (VereinhG) stellte der Bundesgesetzgeber zum einen die Rechtseinheit auf dem Gebiet der neu gegründeten Bundesrepublik wieder her und konzentrierte zum anderen das Strafverfahrens- und zugehörige Gerichtsverfassungsrecht wieder vollständig in StPO und GVG, indem zahlreiche außerhalb dieser Gesetze stehende Vorschriften der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus aufgehoben wurden. GVG, ZPO und StPO wurden zugleich erstmals seit der Emminger-Reform 1924 neu bekannt gemacht. Das Ziel des Gesetzgebers war restaurativ; dem durchaus erkannten Reformbedarf, etwa der Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz für Schwerkriminalität, sollte später Rechnung getragen werden. Wiederhergestellt wurde im Wesentlichen der Rechtszustand vor 1933, wobei Regelungen aus der NS-Zeit, die auf frühere Vorarbeiten zurückgingen und sich bewährt hatten, beibehalten wurden wie z.B.

§§ 206a

,

251 StPO

. Wiedereingeführt wurden das 1942 abgeschaffte Eröffnungsverfahren sowie die gerichtliche Voruntersuchung. Zu den wenigen Neuerungen gehört u.a. der auf die Missbräuche in der NS-Zeit reagierende

§ 136a StPO

, die neuen

§§ 81a bis 81c StPO

 über körperliche Untersuchungen, die Integration des beschleunigten Verfahrens in die StPO (

§§ 212 bis 212b

), der Numerus clausus der Ablehnungsgründe in

§ 244 StPO

 des dadurch gestärkten Beweisantragsrechts in der Hauptverhandlung in allen Verfahren sowie das amtsrichterliche Strafverfügungsverfahren (§ 413 StPO a.F.), das das polizeiliche ersetzt. Das in Art. 96 Abs. 1 GG a.F. vorgesehene obere Bundesgericht erhielt die Bezeichnung „Bundesgerichtshof“ mit Sitz in Karlsruhe (

§ 123 GVG

). Neu geschaffen wurde die Pflicht der Oberlandesgerichte zur Divergenzvorlage in Strafsachen (

§ 121 Abs. 2 GVG

).



9








Die als erforderlich erachtete umfassende Reform des Strafprozessrechts sollte der Reform des StGB nachfolgen, für die 1954 die Große Strafrechtskommission eingerichtet wurde. Da sich die Strafrechtsreform viel länger hinzog als erwartet, begannen 1959 Vorarbeiten für ein Vorschaltgesetz zur Strafprozessreform, das in der 3. und 4. Legislaturperiode im Bundestag intensiv beraten, aber erst Ende 1964 verabschiedet werden sollte.



10





Bis Ende 1964 erfolgten nur wenige Änderungen, die aber zum Teil bis heute Bestand haben. So schuf das 1. StrÄndG vom 30. August 1951, das das Staatsschutzstrafrecht reformierte, mit der Staatsschutzkammer des

§ 74a GVG

 die erste Spezialkammer beim LG und den Ermittlungsrichter beim BGH (damals

§ 168a StPO

); eingefügt wurde ferner die Einstellungsmöglichkeit bei möglichem Absehen von Strafe (damals

§ 153a

, heute

§ 153b StPO

). Das Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19. Dezember 1952 schafft die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis,

§ 111a StPO

. Das 3. StrÄndG vom 4. August 1953 führt zur Entlastung des BGH das erweiterte Schöffengericht wieder ein,

§ 29 Abs. 2 GVG

, schreibt nun in

§ 35a StPO

 eine Rechtsbehelfsbelehrung bei befristeten Rechtsmitteln vor, erweitert die Zeugnisverweigerungsrechte der Berufsträger in

§§ 53

,

53a

,

97 StPO

 und präzisiert die Regelung des Klageerzwingungsverfahrens. Eingeführt wird auch in einem neuen

§ 467 Abs. 2 S. 2 StPO

 die kostenmäßige Unterscheidung zwischen Freisprüchen wegen erwiesener Unschuld und mangels Beweises, womit auch rechtlich ein „Freispruch zweiter Klasse“ entsteht. Der heutige

§ 153d StPO

 wurde durch das 4. StrÄndG eingefügt. Die bisher in

§§ 2 bis 9 GVG

 rudimentär geregelte Amtsstellung der Richter wurde, wie es

Art. 98 Abs. 1 GG

 verlangt, in einem eigenen Bundesgesetz, dem Deutschen Richtergesetz vom 8. September 1961, eingehend reglementiert. Von Bedeutung sind ferner das neue Jugendgerichtsgesetz von 1953 sowie die mit der VwGO von 1960 für die Anfechtung von Justizverwaltungsakten eingefügten

§§ 23 bis 30 EGGVG

, die als Übergangsregeln gedacht waren, sich aber bis heute erhalten haben. In der Zeit von 1953 bis 1960 wurden zudem die Justizverwaltungsanordnungen von den Ländern vereinheitlicht, so vor allem namentlich die Richtlinien für das Strafverfahren, die Strafvollstreckungsordnung und die Anordnung über die Mitteilungen in Strafsachen.






II. Die „kleine Strafprozessreform“ des StPÄG 1964



11





Das StPÄG vom 19. Dezember 1964, das am 1. April 1965 in Kraft trat, war als erste Etappe auf dem Weg zu einer neuen StPO gedacht. Die Entwurfsbegründung nannte die Reform des Strafverfahrensrechts „eine der wichtigsten rechtspolitischen Aufgaben“ und bekannte sich zum Ziel einer Gesamtreform. Bei der Verabschiedung des Gesetzes forderte der Bundestag den Bundesminister der Justiz einstimmig auf, zu diesem Zweck eine Große Strafverfahrenskommission einzuberufen, wozu es nicht kam. Das StPÄG sollte daher nur die dringendsten Reformforderungen verwirklichen, ohne die umfassende Reform zu präjudizieren. Die Bewertung des Gesetzes hat sich im Laufe der Zeit gewandelt; anfangs heftig umstritten und als „Verbrecherschutzgesetz“ diffamiert, erschien es vielen unter dem Eindruck der Anti-Terrorismusgesetzgebung der 1970er Jahre als „einsamer Höhepunkt liberaler Rechtsentwicklung“.

 



12





Wesentlicher Inhalt des StPÄG war die Verbesserung der Stellung des Beschuldigten unter Umsetzung der verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben, wobei z.T. auf Vorarbeiten der Entwürfe von 1909 und 1919 zurückgegriffen wurde. Neu geregelt wurde das Recht der Untersuchungshaft mit dem Ziel der Beschränkung von Häufigkeit und Dauer derselben durch Präzisierung der Haftgründe und Betonung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (

§ 112 Abs. 1 S. 2 StPO

); neu eingeführt wurde die halbjährliche besondere Haftprüfung vor dem OLG. Zugleich wurde aber auch die „haftgrundlose“ Haft bei bestimmten schweren Delikten (damals § 112 Abs. 4, heute

Abs. 3 StPO

) und der ebenfalls umstrittene Haftgrund der Wiederholungsgefahr (damals § 112 Abs. 3, heute

§ 112a StPO

) eingeführt.



13





Der besseren Gewährleistung des in

Art. 103 Abs. 1 GG

 garantierten rechtlichen Gehörs und der Wahrnehmung der Verteidigungsrechte dienen die neu eingefügten

§§ 33a

,

163a

,

257a StPO

 – mit

§ 163a Abs. 2 StPO

 erhält der Beschuldigte erstmals einen Beweiserhebungsanspruch im Vorverfahren – und die Änderung der

§§ 33

,

243

,

308

,

311

,

350

,

369 StPO

, die durch ausdrückliche Belehrungspflichten (

§§ 136 Abs. 1 S. 2

,

163a Abs. 4 S. 2

,

243 Abs. 4 S. 1 StPO

) über das Schweigerecht des Beschuldigten bzw. Angeklagten ergänzt werden. Das damit zusammenhängende Schlussgehör vor der Staatsanwaltschaft nach Abschluss der Ermittlungen und vor Anklageerhebung nach §§ 169a bis 169c StPO a.F. hat sich nicht bewährt und wurde zehn Jahre später durch das 1. StVRG wieder gestrichen. Ausgebaut wurde die Stellung des Verteidigers durch erstmalige gesetzliche Anerkennung des Akteneinsichtsrechts und die – bis zuletzt im Gesetzgebungsverfahren politisch hochumstrittene – Gewährleistung des uneingeschränkten mündlichen und schriftlichen Verkehrs mit dem Beschuldigten. Erstmals seit 1877 erhält nun auch der Angeklagte vor dem Amtsrichter als Einzelrichter die Anklageschrift zugestellt (

§ 201 StPO

). Die Neugestaltung des Eröffnungsverfahrens, die mit Rücksicht auf die nun allmählich in das Bewusstsein dringende Unschuldsvermutung nicht mehr die Tat beschreibt und dem Angeklagten bescheinigt, ihrer hinreichend verdächtig zu sein, sondern nur noch die Anklage zulässt, ohne das strukturelle Problem der Vorbefasstheit zu lösen, wurde seinerzeit schon als Etikettenschwindel oder bloße Kosmetik kritisiert.



14





Daneben enthielt das StPÄG 1964 noch eine Vielzahl weiterer Änderungen, von denen nur die bedeutendsten hervorgehoben seien: Zur Stärkung des Vertrauens in die Unvoreingenommenheit des Richters wurden Ausschließungs- und Ablehnungsgründe neu geregelt und in der Revision die Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper angeordnet. Das Legalitätsprinzip wurde weiter eingeschränkt durch Einfügung der Beschränkung der Strafverfolgung in

§ 154a StPO

 und Erweiterung des

§ 153 StPO

, der bisher auf unbedeutende Tatfolgen beschränkt war. Für die Hauptverhandlung wurde eine erweiterte wörtliche Protokollierung vorgesehen, wonach in das Protokoll stets die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen aufzunehmen sind (

§ 273 Abs. 2 StPO

); diese Regelung wird später wieder gestrichen werden. Im Revisionsrecht wurde die Revisionsbegründungsfrist (

§ 345 StPO

) auf die noch heute gültige Monatsfrist verlängert, ferner die Beschlussverwerfung offensichtlich unbegründeter Revisionen (

§ 349 Abs. 2 StPO

) eingeführt, die bis heute zahlenmäßig von immenser Bedeutung ist. Die kostenmäßige Unterscheidung zwischen Freisprüchen erster und zweiter Klasse wurde gemildert, weil der Kostenausspruch nicht mehr im Urteil, sondern in einem gesonderten Beschluss verkündet wird.



15








Im GVG wird erstmals das Verbot der Ton-, Film- und Fernsehaufnahmen zum Zweck der öffentlichen Vorführung in

§ 169 S. 2

 verankert und die Verpflichtung zur kammerinternen Geschäftsverteilung (damals § 69, heute

§ 21g GVG

) geschaffen.






III. Reformpause (1964–1974)



16





In den nächsten ungefähr zehn Jahren blieben große Reformen aus, die Änderungen der StPO, obwohl zahlreich, waren inhaltlich eher punktuell. Das EGOWiG vom 24. Mai 1968 erneuert die Regelung der Nebenbeteiligten (

§§ 430 ff. StPO

), reformiert das Kostenrecht (

§§ 464a ff. StPO

) und beseitigt insbesondere die kostenmäßige Differenzierung zwischen Freispruch wegen erwiesener Unschuld und mangels Beweises wieder. Das 8. StrÄndG vom 25. Juni 1968 ordnet die Staatsschutzdelikte neu, ändert und erweitert die Einstellungsmöglichkeiten der heutigen

§§ 153c bis 153e StPO

. Das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13. August 1968 führt mit den neuen

§§ 100a

,

100b StPO

 die zentralen Ermächtigungsgrundlagen für die Fernmeldeüberwachung ein, deren Straftatenkatalog seitdem ständig erweitert wurde. Die vom StPÄG 1964 verengten Haftgründe wurden vom StPÄG 1972 wieder gelockert und durch den seither umstrittenen selbstständigen Haftgrund der Wiederholungsgefahr (

§ 112a StPO

) ergänzt.



17





Im Gerichtsverfassungsrecht wurde durch Gesetz vom 8. September 1969 die bisherige erst- und zugleich letztinstanzliche Zuständigkeit des BGH, die nach dem Vorbild des RG in § 134 GVG a.F. fortbestand, beseitigt. Ein zweiter Rechtszug in Staatsschutzsachen wurde eingeführt, indem die erstinstanzliche Zuständigkeit den Oberlandesgerichten übertragen wurde, die dann im Wege der Organleihe Gerichtsbarkeit des Bundes ausüben (so der geänderte

Art. 96 Abs. 5 GG

) und auf diese Weise das weitere Tätigwerden des Generalbundesanwalts erlauben. Änderungen im GVG betrafen die Möglichkeit der Einrichtung von Wirtschaftsstrafkammern in

§ 74c GVG

, die Einführung der jetzigen Präsidialverfassung (

§§ 21a ff. GVG

), die Änderung der Dienstbezeichnungen der Richter – „Richter am Amtsgericht“ statt „Amtsrichter“, „Vorsitzender Richter am Landgericht/Oberlandesgericht“ sta