Handbuch des Strafrechts

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa
II. Die Änderungen bis Mitte 1935

1. Allgemeine Änderungen

40

Bereits kurz nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurde das Strafverfahrensrecht – zunächst noch durch Notverordnungen des Reichspräsidenten auf Grundlage von Art. 48 Abs. 2 WRV – als Waffe gegen die Opposition in Stellung gebracht. Die VO zum Schutz des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 stellte nicht nur die Teilnahme an nicht-genehmigten öffentlichen Versammlungen und das Verbreiten von Druckschriften, „deren Inhalt geeignet ist, die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zu gefährden“, unter Strafe, sondern erstreckte das Schnellverfahren gem. § 212 RStPO auf die neuen Straftatbestände und allgemein auf alle zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehörenden Strafsachen, „die an öffentlichen Orten, in Versammlungen oder durch Verbreitung oder Anschlag von Schriften, Abbildungen oder Darstellungen begangen worden sind.“[120] Die VO des Reichspräsidenten vom 28. Februar 1933 zum Schutz von Volk und Staat (sog. ReichstagsbrandVO) setzte die ohnehin schwachen Grundrechte der WRV außer Kraft und erlaubte ausdrücklich Beschränkungen der persönlichen Freiheit und der Unverletzlichkeit der Wohnung auch „außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen“.[121] Eine weitere VO vom selben Tag richtete sich gegen den „Verrat am Deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe“, verschärfte dazu die bestehenden Strafandrohungen und schuf neue Tatbestände, für die erstinstanzlich das Reichsgericht zuständig wurde, wobei zur Verfahrensbeschleunigung die Voruntersuchung entfallen konnte.[122] Das Gesetz gegen Verrat der Deutschen Volkswirtschaft vom 12. Juni 1933 führte die strafbewehrte Pflicht ein, im Ausland befindliche Vermögenswerte den Reichsfinanzbehörden anzuzeigen. Zuständig für die Aburteilung waren die neu geschaffenen Sondergerichte, die auch auf das Abwesenheitsverfahren nach §§ 276, 278 ff. RStPO zurückgreifen konnten.[123]

41

Mit dem sog. Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 wurde das zweispurige Sanktionensystem im Strafrecht eingeführt.[124] Diese Novelle beruhte nicht auf originär nationalsozialistischem Gedankengut. Sonderregelungen zur „Behandlung der gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ wurden seit Jahrzehnten – nicht nur in Deutschland – diskutiert[125] und die einzelnen Paragraphen folgten teilweise wortgleich dem Radbruch-Entwurf von 1922 bzw. den Regierungsentwürfen aus den Jahren 1929/1930.[126] Im halbamtlichen Schrifttum wurde das Gesetz als erster großer „Markstein“ der Erneuerung der Strafrechtspflege gefeiert. Endlich habe der Schutz der Volksgemeinschaft „unbedingten Vorrang vor den Belangen des Individuums, insbesondere des verbrecherischen und minderwertigen Rechtsbrechers“ erhalten.[127] Das Ausführungsgesetz zum Gewohnheitsverbrechergesetz vom selben Tag[128] enthielt zahlreiche Änderungen der RStPO zur verfahrensrechtlichen Umsetzung des „Sicherungsstrafrechts“, aber auch eigenständige Regelungen, die zum großen Teil inhaltlich noch heute gelten. Zu nennen sind Vorschriften für körperliche Untersuchungen und erkennungsdienstliche Behandlungen in §§ 81a, b RStPO, für die Unterbringungshaft (§ 126a RStPO), für die Begutachtung des Beschuldigten im Hinblick auf die Maßregelanordnung, für das eigenständige Sicherungsverfahren, wenn ein Strafverfahren wegen Zurechnungsunfähigkeit nicht durchgeführt werden kann, und Sondervorschriften für die Maßregelvollstreckung. Zum Schutz des Beschuldigten war die Verteidigung für solche Fälle notwendig, in denen die Anordnung einer Maßregel zu erwarten war. Auch war eine Maßregelanordnung in Verhandlungen gegen einen abwesenden Angeklagten unzulässig.

42

Neben dem „politischen“ Strafverfahrensrecht gab es auch „unverdächtige“ Änderungen. Die VO vom 17. Juni 1933 erleichterte die Zustellung von Schriftstücken.[129] Mit Gesetz vom 24. November 1933[130] wurden die §§ 57 bis 66 RStPO neu gefasst, um die Eidesleistungen einzuschränken, denn es hatte sich seit längerem gezeigt, dass die umfassende Eidespflicht zu einer Vielzahl von Meineidsverfahren geführt hatte.[131] Der Voreid wurde durch den Nacheid ersetzt, die Vereidigungsverbote wurden ausgedehnt und das Gericht konnte nach seinem Ermessen im größeren Umfang von der Vereidigung absehen.

43

Das Gesetz vom 16. Februar 1934[132] regelte die Überleitung der Rechtspflege auf das Reich und gab dem Reichspräsidenten neben dem Begnadigungsrecht auch das Recht, anhängige Strafsachen niederzuschlagen. Nachdem Hitler nach dem Tod von Hindenburgs im August 1934 die Befugnisse des Reichspräsidenten übernommen hatte, machte er in Verfahren gegen Nationalsozialisten nach eigenem Ermessen vom Niederschlagungsrecht Gebrauch und schwächte damit das Legalitätsprinzip.[133]

2. Sondergerichtsverfahren

44

Die schon in der Weimarer Republik für bestimmte Straftaten bestehenden Sondergerichte wurden durch die VO über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933[134] auf eine neue Grundlage gestellt. In jedem Oberlandesgerichtsbezirk wurde ein Sondergericht mit einem eng begrenzten Zuständigkeitsbereich für staatsgefährdende Straftaten errichtet, soweit nicht die Zuständigkeit des Reichsgerichts oder der Oberlandesgerichte gegeben war. Durch eine „schnelle und nachdrückliche Ausübung der Strafgewalt“ sollten Staatsfeinde beseitigt bzw. abgeschreckt werden, um den „reibungslosen Gang der Staatsmaschine“ nicht zu stören.[135] Dazu wurden die Zuständigkeiten schon kurze Zeit später auf weitere Strafsachen, wie Sprengstoffverbrechen, Gewalttaten gegen Justizangehörige und weitere neu geschaffene Tatbestände zur Bekämpfung von Gegnern des NS-Regimes ausgedehnt.[136]

45

Auch wenn sich das Verfahren vor den Sondergerichten im Grundsatz nach der RStPO und dem GVG richtete, gab es im Interesse der Verfahrensbeschleunigung einige Sonderregelungen, die im Wesentlichen dem schon aus der Weimarer Zeit bekannten sondergerichtlichen Verfahren folgten (vgl. Rn. 4 f., 31). Weiterhin wurden Richter und Staatsanwälte durch Äußerungen aus der Ministerialverwaltung nachdrücklich dazu aufgerufen, die Rechtspraxis dem Charakter des sondergerichtlichen Verfahrens als Notbehelf anzupassen, um staatsgefährdende Verbrechen „schnell und gründlich aus[zu]rotten“.[137] Die gerichtliche Voruntersuchung sowie der Eröffnungsbeschluss wurden abgeschafft und die Ladungsfristen verkürzt. Eine mündliche Verhandlung über den Haftbefehl fand nicht statt. Auch wenn dem unverteidigten Beschuldigten bei Anordnung der Hauptverhandlung zunächst stets ein Pflichtverteidiger bestellt werden musste, waren seine Verteidigungsmöglichkeiten dadurch eingeschränkt, dass das Sondergericht eine Beweiserhebung ablehnen konnte, wenn es überzeugt war, dass diese für die Wahrheitsermittlung nicht erforderlich war. Eine effektive Kontrolle der Entscheidungen der Sondergerichte war ausgeschlossen, da es keine Rechtsmittel gab. Es bestand lediglich die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeantrags, der zugunsten des Verurteilten auch eingelegt werden konnte, „wenn Umstände vorliegen, die es notwendig erscheinen lassen, die Sache im ordentlichen Verfahren nachzuprüfen“.[138]

3. Errichtung des Volksgerichtshofes

46

Der Sicherung der nationalsozialistischen Herrschaft diente auch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24. April 1934.[139] Es verschärfte die Vorschriften zum Hoch- und Landesverrat, da „der Treubruch des Volksgenossen gegenüber der Volksgemeinschaft“ zukünftig die „Ausmerzung des Schuldigen aus der Volksgemeinschaft“ bedeuten müsse.[140] Zur prozessualen Umsetzung dieses Ziels wurde als besonderes Gericht für Hochverrats- und Landesverratssachen der Volksgerichtshof errichtet, der die erstinstanzliche Zuständigkeit des Reichsgerichts für derartige Taten übernahm. Die Verfahrensordnung des Volksgerichtshofes basierte zunächst, abgesehen von einigen Spezialvorschriften, auf den bisherigen Regelungen über das Verfahren vor dem Reichsgericht in erster Instanz. Der Beschuldigte konnte einen Verteidiger jedoch nur mit Zustimmung des Vorsitzenden wählen, um sicherzustellen, dass die Hauptverhandlung vor dem Volksgerichtshof nicht zur „Plattform politischer Brandreden oder anwaltlicher Lärmpropaganda“ gemacht wurde.[141] Die Voruntersuchung entfiel, wenn sie nach Ermessen der Anklagebehörde, also des Oberreichsanwalts, nicht erforderlich war. Der Eröffnungsbeschluss wurde durch die Anordnung der Hauptverhandlung des Vorsitzenden ersetzt. In § 433 RStPO wurde die Zulässigkeit der Vermögensbeschlagnahme beim Verdacht des Hoch- oder Landesverrats erweitert.

47

Zugleich wurde das 1926 eingeführte kontradiktorische Haftprüfungsverfahren (vgl. Rn. 19) für alle Strafverfahren abgeschafft, da es sich als unerträgliche Behinderung der Strafjustiz erwiesen habe.[142] Allerdings war jederzeit von Amts wegen zu prüfen, ob die Fortdauer der Haft zulässig und notwendig war; auch die Haftbeschwerde als Rechtsbehelf des Verhafteten blieb bestehen.[143]

48

Mit Gesetz vom 18. April 1936 wurde der Volksgerichtshof dann zu einem ordentlichen Gericht erhoben und die personelle Zusammensetzung seiner Richterschaft neu organisiert.[144]

4. Das Änderungsgesetz vom 28. Juni 1935

49

 

Den Abschluss der ersten Phase der strafverfahrensrechtlichen Entwicklung bildete das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935.[145] Das Gesetz stand unter dem Leitmotiv „Überordnung der materiellen Gerechtigkeit über die formale Gerechtigkeit und zu diesem Zweck Auflockerung der Strafrechtspflege und freiere Stellung des Richters und des Staatsanwaltes“.[146] Es führte einige der verstreuten Änderungen der Jahre 1933/34 zusammen und schwächte durchweg die Position des Beschuldigten. Nach der amtlichen Begründung betrafen die Änderungen besonders dringliche Fragen, die unabhängig von der geplanten Gesamtreform des Strafverfahrens einer „Vorwegregelung“ bedurften.[147]

50

Die Aufhebung des Verbots strafbegründender Analogie durch die Neufassung des § 2 RStGB wurde durch §§ 170a, 267a RStPO in die Praxis umgesetzt, wonach Staatsanwaltschaft und Gericht bei Strafbarkeitslücken prüfen mussten, ob durch die Anwendung des § 2 RStGB „der Gerechtigkeit zum Siege verholfen werden kann“. Um eine einheitliche Rechtsanwendung zu sichern und einen Missbrauch der analogen Strafbegründung zu verhindern, wurde durch einen Antrag der Staatsanwaltschaft das Reichsgericht statt des Oberlandesgerichts für eine Revisionsentscheidung zuständig, wenn im angefochtenen Urteil eine entsprechende Anwendung des Strafgesetzes im Raum stand (§ 347a RStPO).[148] § 267b RStPO diente zur strafprozessualen Umsetzung der materiellen Neuregelung der Wahlfeststellung in § 2b RStGB. Um einen übertriebenen Gebrauch der Wahlfeststellung zu Lasten einer sorgfältigen Ermittlung der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen und eine missbräuchliche Anwendung der Wahlfeststellung auszuschließen, mussten nach § 267b Abs. 2 RStPO die alternativ verwirklichten Tatbestände und die diese Tatbestände ausfüllenden Tatsachen benannt werden.[149]

51

Das Beweisantragsrecht wurde wesentlich umgestaltet. Unbedenklich war die Kodifizierung der bisherigen Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Ablehnung von Beweisanträgen in § 245 Abs. 2 RStPO.[150] Allerdings wurde das autonome Beweisvorführungsrecht des Beschuldigten durchgängig abgeschafft, so dass in allen Verfahren präsente Beweismittel nicht mehr zugelassen werden mussten. Jedenfalls formell wurde die Pflicht zur Wahrheitsermittlung durch das Gericht nicht in Frage gestellt und der Beschuldigte hatte weiterhin das Recht, Beweisanträge zu stellen, die nur mittels eines für das Revisionsgericht nachvollziehbar begründeten Beschlusses abgelehnt werden konnten.[151] Jedoch konnte in Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht in der Berufungsinstanz das Gericht einen Beweisantrag ablehnen, „wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält.“ Hintergrund war – ähnlich wie beim Erlass der EmmingerVO – die Vorstellung, dass im Verfahren mit zwei Tatsacheninstanzen dem Gericht eine freiere Handhabung der Beweisantragsablehnung eingeräumt werden könne, da die Wahrscheinlichkeit einer sachlich unbegründeten Ablehnung eines Beweisantrags in beiden Instanzen gering sei (vgl. Rn. 15).[152] Neu war weiterhin, dass der Vorsitzende einem Beweisantrag ohne Entscheidung des Gerichts stattgeben konnte, was der Umsetzung des Führerprinzips bei den Kollegialgerichten dienen sollte.[153]

52

Das Verbot der reformatio in peius wurde als eine Bindung des Richters zum Schutz des Angeklagten verstanden, die gegen das Gebot der materiellen Gerechtigkeit streitet, und daher beseitigt. Zudem konnte nun auch gegen Geflüchtete[154] die Hauptverhandlung durchgeführt werden, „wenn das Rechtsempfinden des Volkes die alsbaldige Verurteilung verlangt“ (§ 276 Abs. 1 RStPO), wobei Sonderregelungen für Abwesende, die sich der Wehrpflicht entzogen hatten, galten (siehe §§ 434 ff. RStPO).[155]

53

Da nach der nationalsozialistischen Auffassung das Strafrecht und damit auch das Strafverfahrensrecht nicht nur vergelten, sondern auch die Volksgemeinschaft vor weiteren Angriffen schützen sollten,[156] wurden die Haftgründe ausgeweitet. Nunmehr genügte auch die Gefahr, dass der Beschuldigte „die Freiheit zu neuen strafbaren Handlungen mißbrauchen werde oder wenn es mit Rücksicht auf die Schwere der Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung in der Öffentlichkeit nicht erträglich wäre, den Angeschuldigten in Freiheit zu lassen“. Die Entwertung der Rechtsposition des Beschuldigten zeigte sich weniger im Gesetzestext, als vielmehr in den halbamtlichen Erläuterungen zum Haftgrund der Erregung der Öffentlichkeit. Dort wurde unverblümt davon gesprochen, dass bei bestimmten schweren Taten der „Täter“ sofort in Haft genommen werden müsse, auch wenn keine Fluchtgefahr usw. bestand, und eine Parallele zur „Schutzhaft“ gezogen.[157]

54

Die freiere Stellung der Staatsanwaltschaft und ihr Bedeutungszuwachs im Vorverfahren spiegelte sich in den Einschränkungen der Voruntersuchung wider, durch die „Doppelarbeit“ und eine Verschwendung der justiziellen Ressourcen vermieden werden sollten.[158] Bei einer erstinstanzlichen Zuständigkeit des Volksgerichtshofes, der Oberlandesgerichte oder der Schwurgerichte war eine Voruntersuchung nur durchzuführen, wenn die Staatsanwaltschaft dies nach pflichtgemäßem Ermessen für erforderlich hielt. Auch in den übrigen Strafsachen war die Voruntersuchung von einem Antrag der Staatsanwaltschaft abhängig, der nur gestellt werden sollte, wenn „außergewöhnliche Umstände die Führung der Voruntersuchung durch einen Richter gebieten“ (§ 178 Abs. 2 S. 2 RStPO). Zur Beschleunigung der Voruntersuchungen konnte auf „Hilfsuntersuchungsrichter“ zurückgegriffen werden. Das Legalitätsprinzip wurde weiter eingeschränkt durch die Möglichkeit, Strafverfahren gegen Opfer von Erpressungen, die vom Erpresser mit der Offenbarung der Begehung einer Straftat bedroht worden sind, einzustellen (§ 154b RStPO). Auch hier zeigte sich der Machtzuwachs der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren, indem die Verfahrenseinstellung keiner richterlichen Zustimmung bedurfte.[159] Weiterhin ging es um die „allerschärfste Bekämpfung“ von Erpressern, die als „besonders gemeiner Verbrechertyp“ galten und daher auch unter Mitwirkung des Opfers überführt werden sollten.[160]

55

Zur Sicherung einer reichseinheitlichen Rechtsprechung trat an die Stelle der Vereinigten Strafsenate der Große Senat für Strafsachen beim Reichsgericht (§ 131a GVG a.F.). Neu war dabei vor allem, dass ein erkennender Senat eine Entscheidung des Großen Senats herbeiführen konnte, wenn dies nach seiner Auffassung die „Fortbildung des Rechts oder Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern“ (§ 137 GVG a.F.), wobei auch der Oberreichsanwalt in diesen Fällen die Sache vor den Großen Senat bringen konnte.[161] Hintergrund war, dass die Tätigkeit der Vereinigten Strafsenate sich als zu schwerfällig erwiesen hatte, so dass häufig von einer Klärung strittiger Rechtsfragen abgesehen worden war.[162]

III. Pläne zur Gesamtreform des Strafverfahrensrechts

56

Reichsjustizminister Gürtner setzte bereits 1933 die „Kleine Strafprozeßkommission“ ein, die nach ihren Worten daran arbeitete, „ein Strafverfahren zu schaffen, das eine straffe und schnellarbeitende Strafjustiz gewährleistet, eine gerechte Rechtsprechung sichert und in Aufbau und Durchführung volkstümlich ist“.[163] Diese Kommission legte am 27. Februar 1936 den – streng vertraulichen – Entwurf einer Strafverfahrensordnung sowie weiterer Verfahrensregelungen vor.[164] Anschließend beriet die „Große Strafprozeßkommission“ auf Grundlage des Entwurfs vom 27. Februar 1936 und legte im April 1938 ihren Abschlussbericht „Das kommende deutsche Strafverfahren“ vor.[165] Im Mai 1939 waren die Reformarbeiten mit dem „Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung“ vom 1. Mai 1939 eigentlich beendet,[166] jedoch traten diese Regelungen aufgrund des Kriegsausbruchs und des Desinteresses der NS-Führung an den Reformbemühungen niemals geschlossen in Kraft. Jedoch wurden zahlreiche Einzelregelungen des Entwurfs während der Kriegszeit durch Verordnungen umgesetzt.

57

Nach der amtlichen Begründung stellte der Entwurf der Strafverfahrensordnung im Sinne der nationalsozialistischen Überzeugungen das „Schutz- und Sühnebedürfnis der Volksgemeinschaft“ über die „möglichste ‚Freiheit‚ des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt“. Wesentlich seien daneben die „Vereinfachung des Gangs der Strafrechtspflege“, vor allem durch eine Beschränkung des Rechtsmittelzugs, und die „Auflockerung der Verfahrensvorschriften“, also die Beseitigung von Formvorschriften, die der „Verwirklichung wahrer Gerechtigkeit“ entgegenstehen.[167] Gleichwohl ist festzuhalten, dass der Entwurf nicht den nationalsozialistischen Extrempositionen folgte, sondern eher auf einer autoritären, national-konservativen Grundhaltung beruhte.[168] Damit griff der Entwurf teilweise Tendenzen auf, die bereits in der Weimarer Republik unter den Prämissen Verfahrensvereinfachung und Kostenersparnis das legislative Handeln geprägt hatten.[169] Die Verfahrensprinzipien der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der Hauptverhandlung, der Öffentlichkeitsgrundsatz, die Wahrheitsermittlung von Amts wegen und das rechtliche Gehör sowie angemessene Verteidigungsrechte sollten beibehalten werden.[170]

IV. Entwicklung nach Beginn des Zweiten Weltkrieges

58

Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 markierte zugleich den Beginn einer Vielzahl von strafverfahrensrechtlichen Änderungen, die in ihrer Gesamtheit ein neues „Kriegsstrafprozessrecht“ schufen.[171] Die Normsetzung erfolgte hauptsächlich in Form von mehreren sog. Vereinfachungsverordnungen, die teilweise auf den Vorarbeiten zur Gesamtreform des Strafverfahrensrechts beruhten, wie z.B. die Abschaffung des Eröffnungsbeschlusses und des Klageerzwingungsverfahrens, und damit nicht nur für die Kriegszeit gedacht waren.[172]

1. Die „Vereinfachung“ des Strafverfahrensrechts

59

Unmittelbar nach Kriegsbeginn wurde zur „Mobilmachung der Rechtspflege“[173] die VO über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege[174] (im Folgenden 1. VVO) verkündet. Zum einen ging es um eine Flexibilisierung der Gerichtsverfassung und eine Absenkung der Richterzahl innerhalb der Spruchkörper, u.a. durch die Abschaffung der Schöffen,[175] zum anderen sollte der Verfahrensgang gestrafft werden. Dazu war gegen Urteile des Amtsrichters nur noch die Berufung statthaft und die Revision gegen Berufungsurteile ausgeschlossen.[176] Das Schnellverfahren nach § 212 RStPO war stets zulässig, wenn der Sachverhalt einfach und die sofortige Aburteilung aus besonderen Gründen erforderlich war, und der zulässige Rahmen der Freiheitsstrafe im Strafbefehlsverfahren wurde auf sechs Monate verdoppelt. Die Fälle der notwendigen Verteidigung wurden erheblich eingeschränkt. Nach § 24 der 1. VVO konnten alle Gerichte Beweisanträge nach freiem Ermessen ablehnen, wenn sie die Beweiserhebung nicht für die Wahrheitsfindung für erforderlich hielten. Die ZuständigkeitsVO vom 21. Februar 1940 regelte die sachliche Zuständigkeit der Strafgerichte neu und fasste die Verfahrensvorschriften für die Sondergerichte zusammen. Strafsachen von minderer Bedeutung für die Staatssicherheit oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung konnten an die ordentlichen Gerichte abgegeben werden, um die „Schlagkraft“ der Sondergerichte nicht zu hemmen.[177] Nach der VO vom 6. Mai 1940 konnte die Staatsanwaltschaft davon absehen, im Ausland begangene Straftaten eines Inländers oder bestimmte Taten eines Ausländers zu verfolgen, wenn dies „vom Standpunkt der Volksgemeinschaft aus nicht geboten oder unverhältnismäßig schwierig wäre“.[178]

60

Die 2. VVO vom 13. August 1942[179] beseitigte flächendeckend den Eröffnungsbeschluss, der eine bloße Formalität darstelle und das Strafverfahren verzögere.[180] An Stelle des Eröffnungsbeschlusses entschied der Vorsitzende allein über die Anordnung der Hauptverhandlung. Die Strafgewalt des Amtsrichters und der Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens wurden ausgedehnt, das Kreuzverhör abgeschafft und das Legalitätsprinzip weiter eingeschränkt. Der Angeklagte konnte Berufung und Beschwerde nur noch nach einer besonderen Zulassung einlegen. Die (Nicht-)Zulassungsentscheidungen mussten nicht begründet werden und waren unanfechtbar. Die weitere Beschwerde wurde insgesamt für alle Verfahrensbeteiligten abgeschafft. Gleichzeitig wurde der Anwendungsbereich der Nichtigkeitsbeschwerde, die der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht gegen rechtskräftige Urteile einlegen konnte, erweitert, um eine reichseinheitliche Rechtsanwendung zu gewährleisten. Um das Justizpersonal zu entlasten, konnten Hauptverhandlungen ohne Anwesenheit eines Staatsanwalts oder eines Schriftführers stattfinden sowie Urteile in abgekürzter „volkstümlicher“ Form abgefasst werden. Die Position der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren wurde weiter ausgebaut. In allen Strafantragssachen konnte sie das Verfahren bei fehlendem öffentlichen Interesse trotz Strafantrags einstellen. Bei Vergehen musste das zuständige Gericht vor Anklageerhebung einer Verfahrenseinstellung nicht mehr zustimmen. Das Klageerzwingungsverfahren wurde gestrichen. Mit der 3. VVO vom 29. Mai 1943 wurde die Abfassung der Anklageschrift sowie das Verlesen von Niederschriften in der Hauptverhandlung erleichtert, die Abkürzung der Ladungsfrist generell ermöglicht und das Adhäsionsverfahren eingeführt.[181]

 

61

Spätestens mit der 4. VVO vom 13. Dezember 1944[182] hatte die Logik des „totalen Krieges“ auch das Strafverfahrensrecht voll erfasst. Eine „geordnete, schlagkräftige und gute Strafrechtspflege“ sollte ihren Teil dazu beitragen, den „Abwehrwillen […] des deutschen Volkes“ zu stärken. Dazu musste Personal aus der Strafrechtspflege der Wehrmacht zur Verfügung gestellt und das Strafverfahrensrecht allgemein von dem „im Krieg entbehrlichen Ballast“ befreit werden. Gleichwohl sollten die „kriegswichtigen Aufgaben der Strafrechtspflege“ gewährleistet werden.[183] Die Absenkung der Besetzung der Spruchkörper machte auch vor dem Reichsgericht nicht mehr halt, die Strafsenate waren in der Hauptverhandlung nur noch mit drei Berufsrichtern besetzt. Gleichzeitig verloren die Oberlandesgerichte fast sämtliche Zuständigkeiten im Strafrecht. Das Legalitätsprinzip wurde für alle Straftaten durchbrochen, wenn „die Verfolgung im Kriege zum Schutze des Volkes nicht erforderlich ist“, wobei dem Beschuldigten bestimmte Auflagen gemacht werden konnten. Die notwendige Verteidigung wurde noch weiter eingeschränkt und die Staatsanwaltschaft konnte im Ermittlungsverfahren selbstständig Haftbefehle sowie Beschlagnahme- und Durchsuchungsanordnungen erlassen. Eine gerichtliche Kontrolle dieser Anordnungen fand nicht mehr statt.[184] Entscheidend war zudem, dass nun auch die Revision einer besonderen Zulassung bedurfte. Das ordentliche Strafverfahren näherte sich damit immer mehr dem Sondergerichtsverfahren an, in dem dem Verurteilten schon längst die Rechtsmittel genommen worden waren.

62

Nur wenige Monate vor Kriegsende wurden durch VO vom 15. Februar 1945 Standgerichte in „feindbedrohten Reichsverteidigungsbezirken“ für alle Straftaten errichtet, durch die „die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit gefährdet wird.“[185] Formal galt im Standgerichtsverfahren die RStPO sinngemäß, wobei das Standgericht lediglich auf Todesstrafe, Freispruch oder Überweisung an die ordentlichen Gerichte entscheiden konnte.