Handbuch des Strafrechts

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3. Erneute Reformdiskussion ab 1928

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1928 beriet der 35. Deutsche Juristentag in Salzburg erneut über eine Strafprozessreform und belebte dabei die Forderungen nach einem Ausbau des kontradiktorischen Elements, insbesondere im Zusammenhang mit der Beweisaufnahme.[70] Allerdings stieß schon ein Jahr später auf der Breslauer Tagung der Deutschen Landesgruppe der IKV die Ausdehnung des Kreuzverhörs auf überwiegende Ablehnung.[71] Es zeigte sich, dass sich mit der Wendung zum zweckorientierten Täterstrafrecht die Forderung „Soziales Strafrecht – liberaler Strafprozess“ praktisch nicht verwirklichen ließ. Vielmehr begründete das zweckorientierte Täterstrafrecht stets zumindest die Gefahr, das Interesse an der Bekämpfung des Rechtsbrechers[72] über die rechtsstaatlichen Garantien im Strafverfahren zu stellen.[73]

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Einen letzten großen Reformversuch brachte die Reichsregierung am 20. Mai 1930 im Reichsrat ein mit dem Ziel einer strafrechtlichen Gesamtreform, einschließlich des Strafvollzugsgesetzes.[74] Die strafverfahrensrechtlichen Vorschläge bauten auf den durch die EmmingerVO geschaffenen Rechtszustand auf. Hervorzuheben sind die Einschränkung der Zuständigkeit des Amtsrichters als Einzelrichter, die weitere Auflockerung des Verfolgungszwangs,[75] die Beschränkung der richterlichen Voruntersuchung bei gleichzeitigem Bedeutungszuwachs der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren, strengere Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft, die Erweiterung des Wiederaufnahmeverfahrens und die Einführung eines Adhäsionsverfahrens. Diese Überlegungen waren aber angesichts der massiven politischen Brüche in den letzten Jahren der Weimarer Republik zum Scheitern verurteilt.

V. Endphase der Weimarer Republik

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Die Weltwirtschaftskrise verschärfte ab Ende 1929 die finanziellen Probleme des Reiches und der Länder,[76] so dass sich der Einsparungsdruck auf die Justiz nochmals erhöhte. Der Reichstag wurde unter dem Einfluss extremistischer Parteien zunehmend handlungsunfähig, eine kontinuierliche Staatsleitung war aufgrund der Regierungswechsel in kurzen Abständen kaum möglich. Einzige Konstante in diesen chaotischen Zeiten war das Amt des Reichspräsidenten.[77] Reichspräsident von Hindenburg erließ auf Grundlage von Art. 48 Abs. 2 WRV zahlreiche Ausnahmeverordnungen, deren strafverfahrensrechtliche Sonderregelungen den Text der RStPO überlagerten.[78] Dabei ging es zum einen „unter der Diktatur der Armut“[79] um Vorschriften zur Verfahrensvereinfachung sowie zur Beschleunigung von Strafverfahren und zum anderen um die Einrichtung von Sondergerichten, um der stark wachsenden Kriminalität Herr zu werden.[80]

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Die VO des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 28. März 1931[81] schuf neue Straftatbestände im Zusammenhang mit unerlaubten Versammlungen, wobei diese Taten im Schnellverfahren abgeurteilt werden konnten, auch wenn die Voraussetzungen von § 212 RStPO nicht vorlagen.

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Die 2. AusnahmeVO vom 6. Oktober 1931[82] führte die erstinstanzliche Zuständigkeit der großen Strafkammer auf Antrag der Staatsanwaltschaft wieder ein, wenn eine Voruntersuchung stattgefunden hatte. Die Staatsanwaltschaft sollte den Antrag nur stellen, wenn mehr als sechs Hauptverhandlungstage zu erwarten waren. Damit sollte die Berufung in den vielfach kritisierten „Monstre-Prozessen“ vermieden werden.[83] Der Verfahrensbeschleunigung diente die Abkürzung der Ladungsfrist im Schnellverfahren auf drei Tage bzw. 24 Stunden. Das Legalitätsprinzip wurde weiter eingeschränkt, indem Übertretungen allgemein nur verfolgt werden sollten, wenn es das öffentliche Interesse erforderte. Weiterhin konnte die Staatsanwaltschaft zur Klärung von zivil- oder verwaltungsrechtlichen Vorfragen eine Frist setzen und nach fruchtlosem Fristablauf das Verfahren einstellen (jetzt § 154d StPO).[84] Von großer praktischer Bedeutung war die Möglichkeit des Gerichts, Privatklageverfahren einzustellen, wenn die Schuld des Täters gering und die Folgen der Tat unbedeutend waren, denn das Privatklageverfahren hatte damals eine ungleich höhere Bedeutung als heute.[85] Das Gericht entschied allein über die Einstellung, die allerdings mit sofortiger Beschwerde angefochten werden konnte. Im Privatklageverfahren wurde zudem der Rechtsmittelzug verkürzt, indem die Berufungseinlegung die anschließende Revision sperrte. Als dauerhafte Veränderung erhielten die Oberlandesgerichte die Befugnis, Revisionen durch einstimmigen Beschluss als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Für die zukünftige Entwicklung war die Ermächtigung der Reichsregierung entscheidend, Sondergerichte zur Aburteilung bestimmter Straftaten in Gerichtsbezirken zu errichten, in denen ein Bedürfnis dafür bestand. Die Regierung konnte dazu auch Sonderregelungen zum Verfahren erlassen.

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Die 3. AusnahmeVO vom 8. Dezember 1931[86] regelte zur „Verstärkung des Ehrenschutzes“, dass die Gerichte in Beleidigungssachen den Umfang der Beweisaufnahme bestimmen und stets im Schnellverfahren verhandeln konnten, wenn die Staatsanwaltschaft die Verfolgung übernommen hatte.

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Die 4. AusnahmeVO vom 14. Juni 1932[87] beruhte in Teilen auf dem 1930 gescheiterten Entwurf der Reichsregierung über das Einführungsgesetz zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz (vgl. Rn. 23). Die 4. AusnahmeVO machte wesentliche Punkte der EmmingerVO und damit das „Übermaß der Rechtsmittel“[88] rückgängig, indem sie das erweiterte Schöffengericht beseitigte und dessen erstinstanzliche Zuständigkeit im Wesentlichen auf die große Strafkammer übertrug. Weiterhin bekam die Staatsanwaltschaft ein Wahlrecht, bedeutende oder umfangreiche Sachen zur großen Strafkammer statt zum Schöffengericht anzuklagen (heute § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG).[89] Damit wurde die Möglichkeit von Berufungsverfahren, die zu erheblichen Verfahrensverlängerungen in der ohnehin überlasteten Strafrechtspflege geführt hatte, eingeschränkt und zugleich die Revision aufgewertet. Die Berufung gegen Urteile des Amtsgerichts blieb grundsätzlich bestehen, jedoch schloss die Einlegung der Berufung bzw. der (Sprung-)Revision das jeweils andere Rechtsmittel aus, so dass grundsätzlich eine Rechtsmittelinstanz wegfiel.[90]

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Aus Sicht der Justizpraxis bedeuteten die Anforderungen, die das Reichsgericht zur zulässigen Ablehnung eines Beweisantrags entwickelt hatte, häufig ein „Hindernis einer raschen Justiz“, indem sie zur „Ausdehnung der Hauptverhandlung, zu unnötigen Vertagungen, evtl. zu Aufhebungen sachlich richtiger Entscheidungen aus formellen Gründen“ führten.[91] In allen Strafsachen, in denen zwei Tatsacheninstanzen eröffnet waren, also in Verfahren vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht als Berufungsinstanz, galt nun das freie Ermessen des Gerichts hinsichtlich der Beweisaufnahme. Dies entband allerdings nicht von der Pflicht, Beweisanträge zu bescheiden und die Wahrheit von Amts wegen zu ermitteln, so dass die Gerichte vor allem von der unbedingten Pflicht zur Berücksichtigung präsenter Beweismittel entbunden wurden.[92] Hintergrund der Regelung, die in ähnlicher Form in der EmmingerVO bestanden hatte (vgl. Rn. 15), war die Überzeugung, dass bei der Eröffnung von zwei Tatsacheninstanzen der tatsächliche Sachverhalt auch ohne besondere Regeln zur Ablehnung von Beweisanträgen hinreichend zuverlässig ermittelt werden würde.[93] Auch konnten Revisionen gegen bereits ergangene Urteile nicht mehr auf die fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags gestützt werden, wenn eine Ablehnung nach neuem Recht zulässig gewesen wäre. In erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht galt das freie richterliche Ermessen hinsichtlich der Beweisaufnahme allerdings nicht, da dann keine zweite Tatsacheninstanz vorgesehen war.

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Eine gewisse Abmilderung der Ausdehnung des Schnellverfahrens nach § 212 RStPO brachten das Recht des Verteidigers zur Akteneinsicht ab dem Zeitpunkt des Antrags auf Anberaumung der Hauptverhandlung und die Zulässigkeit des einfacheren Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem ab diesem Zeitpunkt. Die zulässige Dauer der Unterbrechung der Hauptverhandlung wurde von drei auf zehn Tage erhöht, um den Gerichten eine größere Flexibilität bei der Organisation und dem Abschluss längerer Verfahren zu geben und so das Risiko einer erneuten Hauptverhandlung wegen Überschreitung der Unterbrechungsfrist zu reduzieren. Das Strafbefehlsverfahren und das Verfahren der gerichtlichen Überprüfung einer polizeilichen Strafverfügung wurden angeglichen, indem nun auch im letzteren Fall der Antrag ohne Beweisaufnahme verworfen werden konnte, wenn der Angeklagte der Hauptverhandlung fernblieb.

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Die VO des Reichspräsidenten gegen politischen Terror vom 9. August 1932[94] verschärfte die Strafrahmen für Straftaten aus politischen Beweggründen in erheblichem Maße. Mit der VO über die Bildung von Sondergerichten vom selben Tag[95] errichtete die Reichsregierung Sondergerichte in einer Vielzahl von Gerichtsbezirken. Diese Sondergerichte waren im Wesentlichen für politisch motivierte Straftaten und sonstige Taten, die gegen die Staatsgewalt oder die öffentliche Ordnung gerichtet waren, zuständig, soweit nicht eine Zuständigkeit der Oberlandesgerichte oder des Reichsgerichts bestand. Die Sondergerichte blieben in der Regel selbst dann zuständig, wenn sich in der Hauptverhandlung die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte ergab. Für das Sondergerichtsverfahren galten die üblichen Abweichungen (vgl. Rn. 4 f.). Voruntersuchung und Eröffnungsbeschluss fielen weg, die Ladungsfristen waren verkürzt. Eine mündliche Verhandlung über den Haftbefehl, den auch der Vorsitzende des Sondergerichts erlassen konnte, fand nicht mehr statt. Das Sondergericht konnte Beweisanträge ablehnen, „wenn es die Überzeugung gewonnen hat, daß die Beweiserhebung für die Aufklärung der Sache nicht erforderlich ist“. Damit wurde die Beweisantizipation in größerem Umfang zulässig und die Beweisaufnahme noch stärker in das (sonder-)gerichtliche Ermessen gestellt.[96] Das Recht zur Richterablehnung wurde eingeschränkt. Rechtsmittel waren gänzlich ausgeschlossen, die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten vor dem zuständigen ordentlichen Gericht hingegen erleichtert. Während frühere Vorschriften für das Sondergerichtsverfahren wenigstens die notwendige Verteidigung ausgeweitet hatten, galt diese nun – abgesehen vom Sonderfall des stummen oder tauben Beschuldigten – nur, wenn nach allgemeinen Vorschriften die Schwurgerichte zuständig wären. Zwar wurden diese Sondergerichte schon im Dezember 1932 wieder aufgehoben,[97] die Verfahrensregeln dienten jedoch als Vorbild der im März 1933 neu gebildeten Sondergerichte (vgl. Rn. 44).

 

VI. Zusammenfassung

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Nachdem im Deutschen Kaiserreich die wiederholten Initiativen, das Strafverfahrensrecht zu modernisieren, am fehlenden Konsens der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten gescheitert waren, wurden in der Weimarer Republik die entscheidenden Weichen für die Rechtsentwicklung im 20. Jahrhundert gestellt, auch wenn diese Änderungen häufig keine wirkliche demokratische Legitimation hatten. Anstelle der Entwicklung eines konsistenten Verfahrensmodells stand der Einsparungs- und Vereinfachungsbedarf im Vordergrund, der zugleich zu einer Beliebigkeit der Rechtssetzung führte. Dieser Entwicklung setzte die Rechtsprechung angesichts der Zurückhaltung bei der Normprüfung keinen Widerstand entgegen. Das Bedürfnis nach einer schnellen und effektiven Arbeit der Strafjustiz verschlechterte die Rechtsposition des Beschuldigten nicht nur in den Verfahren vor den Sondergerichten. Zugleich erweiterte es die Macht der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren und legte damit einen Grundstein für Normsetzung und Rechtspraxis in den Folgejahren.

B. Entwicklung im Nationalsozialismus

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Während der nationalsozialistischen Herrschaft kam es zu grundlegenden Änderungen im Strafverfahrensrecht, obwohl die RStPO in ihrem Kern nicht geändert wurde, sondern weiterhin formale Grundlage des Strafverfahrens blieb. Dennoch konnte sich das Strafverfahrensrecht der radikalen Neuorientierung des materiellen Strafrechts, das ganz in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie treten sollte,[98] nicht entziehen. Die Entwicklung lässt sich grob in drei zeitliche Abschnitte unterteilen.[99] In der Anfangszeit bis etwa Mitte 1935 dienten die Gesetzesänderungen und NotVO vor allem dem Zweck, die Strafjustiz als ein Mittel der Bekämpfung des politischen Gegners zu nutzen und so die Machtstellung der Reichsregierung unter Hitler zu sichern. Nachdem sich die Position der Nationalsozialisten konsolidiert hatte und mit dem Gesetz vom 28. Juni 1935 eine Reihe zentraler strafverfahrensrechtlicher Forderungen aus der Reformdiskussion seit 1933 umgesetzt worden waren, standen die Jahre 1936 bis 1939 im Zeichen der Vorbereitung einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ging es dann zum einen um die Vereinfachung der Strafrechtspflege sowie eine Entlastung von weniger kriegswichtigen Aufgaben und zum anderen um die rücksichtslose und schnelle strafrechtliche Sanktionierung von sog. Volksschädlingen und anderen Straftaten, die sich gegen die Wehrkraft des deutschen Volkes richteten.

I. Grundlagen des nationalsozialistischen Strafverfahrensrechts

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Die Äußerungen aus den Jahren 1933 bis 1935 basierten auf der Grundüberlegung, dass das liberale Strafverfahrensrecht eine effektive Bekämpfung des Verbrechens einseitig erschwert habe. Damit war klar, dass die Interessen des Gemeinwesens, also der Volksgemeinschaft, Vorrang vor den Interessen des Einzelnen, namentlich des Beschuldigten, haben mussten.[100] Nicht nur nationalsozialistische Politiker forderten geeignete Mittel für die Strafjustiz, um härter und entschlossener gegen Straftäter vorgehen zu können. Zum Beispiel beklagte der Reichsgerichtsrat und prominente Strafrechts-Kommentator Otto Schwarz die allgemeine „Verweichlichung“ der Strafrechtspflege und begrüßte die strafrechtlichen Verschärfungen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten.[101] Auch auf einer Zusammenkunft deutscher Strafrechtslehrer im März 1934 in Leipzig wurde laut Henkel die Notwendigkeit der Erneuerung des Strafverfahrens unter „Überwindung des liberalen Prozeßgedankens“ allgemein anerkannt.[102] Selbst aus der Wissenschaft wurde unverhohlen gefordert, die Stellung des Beschuldigten müsse sich vom Prozesssubjekt „mehr zu der des Untersuchungsobjektes“ wandeln.[103] Die Notwendigkeit einer „straff zusammengefaßten zielsicheren Prozeßführung“ habe Vorrang „gegenüber der bisher üblichen peinlichsten Sorge um die Freiheitsrechte des Individuums.“[104] Jedenfalls dürfe die „übermäßige Rücksichtnahme auf den Einzelnen auf Kosten der Allgemeinheit“ nicht die Wahrheitsermittlung oder die Bestrafung eines Rechtsbrechers verhindern.[105]

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In den Mittelpunkt gestellt wurde das Ziel der „materiellen Gerechtigkeit“ unter „Auflockerung“ und Vereinfachung des geltenden Verfahrensrechts.[106] Alle Verfahrensregeln, die diesem Ziel widersprachen, wurden zur Überprüfung gestellt und viele dieser Regeln wurden in den folgenden Jahren erheblich eingeschränkt oder sogar vollständig abgeschafft. Schnell wurden die Beweisregeln, insbesondere die Pflicht zur Berücksichtigung von präsenten Beweismitteln durch das Gericht, als formalistisch gebrandmarkt, denn die Pflicht zur Wahrheitsermittlung von Amts wegen biete „ausreichende Sicherheit dafür, daß berechtigte Interessen des Angeklagten nicht übersehen“ werden würden.[107] Ähnlich meinte Schwarz, es komme nur darauf an, den wahren Sachverhalt „möglichst gründlich, möglichst schnell und mit geringstem Kostenaufwande“ zu ermitteln. Dabei sei gleichgültig, „ob es dem Angeklagten […] gut oder schlecht“ gehe.[108]

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Auch das Denken von der Volksgemeinschaft her prägte die Entwicklung des Strafverfahrensrechts. Der Einzelne konnte für sich genommen danach nur insoweit einen Eigenwert haben, als er als Volksgenosse für die Volksgemeinschaft von Nutzen war.[109] Beispielhaft kann hier auf die rechtsphilosophischen Arbeiten von Larenz verwiesen werden, der erheblichen Einfluss in der damaligen Diskussion hatte. Aus dem „Vorrang des Gemeininteresses vor dem Eigeninteresse“ folgte nach Larenz, dass subjektive Rechte dem Einzelnen nur „um der damit verbundenen Pflichten“ zustehen.[110] Maßgeblich für die Rechtsstellung des Einzelnen war damit „sein konkretes Gliedsein“ innerhalb der Gemeinschaft,[111] wodurch zumindest impliziert gesagt wurde, dass der Nicht-Volksgenosse kein Rechtsgenosse sein kann, sondern nur solche Gastrechte besitzt, die ihm die Volksgemeinschaft zugesteht.[112]

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Das Strafverfahren wurde von hochrangigen NS-Juristen als „Reinigungsverfahren“ verstanden. Es ging um die Wiederherstellung der gestörten Gemeinschaftsordnung in der Art, dass sich entweder die Unschuld des Beschuldigten ergibt oder dass „die Gemeinschaft von dem entarteten Genossen gereinigt“ wird.[113] In diesem Zusammenhang wurde vielfach auch das Modell eines „Gemeinschaftsverfahrens“ befürwortet, in dem sich nicht mehr verschiedene Prozessparteien gegenüberstehen, sondern die Prozessbeteiligten gemeinsam auf ein einheitliches Prozessziel hinwirken. Für die „Bereinigung einer Gemeinschaftsangelegenheit“ sei „ein Denken aus der Gemeinschaft heraus [erforderlich], das alle am Verfahren Beteiligten als Sachwalter der Gemeinschaft erkennt und ihre Aufgaben im Prozess danach bestimmt.“[114] Auch das Prinzip der „Waffengleichheit“ zwischen der Staatsanwaltschaft als Vertreterin der öffentlichen Anklage und dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger hatte im nationalsozialistischen Staat keinen Platz mehr. Der spätere Reichsjustizminister Thierack schrieb im Jahr 1935: „Staatsanwalt und der stets subjektiv eingestellte Beschuldigte sind darum niemals gleichwertige ‚Parteien‘, sie sind schlechthin unvergleichbar. Die früher häufig ausgesprochene Forderung nach Gleichheit dieser beiden ‚Parteien‘ kann vom Boden einer gerechten und wirksamen Rechtspflege aus niemals ernstlich erhoben werden.“[115]

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Dabei versuchte man allerdings, den Anschein der Einseitigkeit der Strafjustiz zu vermeiden. Eine zuverlässige Wahrheitsermittlung sei Grundvoraussetzung eines gerechten Strafurteils und der Beschuldigte müsse sich verteidigen können. Freisler führte dazu aus: Es sei eine „sittliche Selbstverständlichkeit“, dass „dem Beschuldigten Gehör und dem Angeklagten wiederum Gehör und die Möglichkeit der Stellungnahme zu jedem Beweismittel sowie der initiativen Teilnahme an der Wahrheitserforschung wie überhaupt der Verteidigung“ gegeben werden müsse.[116] Die Rechte des Beschuldigten gründeten in erster Linie allerdings nicht auf seiner Rechtsstellung als Person, sondern vielmehr auf der Überlegung, dass jedes „Glied der Gesamtheit“ bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung Volksgenosse bleibe.[117] Dies öffnete auch die Tür, die Beschuldigten in unterschiedliche Kategorien einzuteilen und nach dieser Einteilung ihre Rechte auszugestalten. Auf der einen Seite stand demnach der Volksgenosse als Rechtsgenosse und auf der anderen Seite der von Anfang an ehrlose vorbestrafte Gewohnheitsverbrecher.[118] Auch für sonst „Minderwertige“, zu denen Staatsfeinde, Triebtäter und nach der Rassenideologie der Nationalsozialisten auch Juden gehörten, konnten Verfahrensrechte daher nur eine Art freiwillige Wohltat des Staates sein. Wer von vornherein kein „vollwertiger Volksgenosse“ war, hatte natürlich auch keinen Anspruch auf ein ehrwahrendes Strafverfahren. Gleichwohl war diese Kategorisierung der Beschuldigten auch in der damaligen Literatur nicht unumstritten.[119]

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Außerhalb der Strafjustiz etablierten die Nationalsozialisten weitreichende staatliche Strukturen und Maßnahmen zur Bekämpfung von nicht-deutschen Personengruppen oder politischen Gegnern, die hier jedoch nicht behandelt werden, da diese Ausübung willkürlicher staatlicher Macht ohnehin nicht dem Strafverfahrensrecht unterlag, selbst wenn eine Straftat den Anlass zur staatlichen Reaktion bildete.