Handbuch des Strafrechts

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II. Reformdiskussion: Neuer Staat – neues Strafverfahren?

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Mit der Gründung einer demokratischen Republik wurde unter dem Schlagwort „demokratischer Staat – demokratisches Strafverfahren“ eine Gesamtreform des Strafverfahrensrechts in Angriff genommen. Franz von Liszt erneute 1918 seine Forderungen, die Reste des inquisitorischen Prinzips müssten konsequent beseitigt werden, um ein „volkstümliches Strafverfahren“ mit einer „kontradiktorischen Hauptverhandlung“ eines echten Anklageprozesses zu schaffen.[17] Der Ende 1919 vom Reichsjustizminister Schiffer im Reichsrat eingebrachte „Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen“[18] befand sich ganz auf der Linie dieser Forderung. Die RStPO wurde als Teil des untergegangenen kaiserlichen Obrigkeitsstaates abgelehnt. Stattdessen knüpfte Goldschmidt, der einer der Hauptverfasser des Entwurfs war,[19] an die Reformgedanken der Aufklärungsbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an und forderte die Implementierung eines Parteiprozesses nach englischem Vorbild. Die Rechtsstellung des Beschuldigten sollte dafür grundlegend verbessert werden. Der Beschuldigte, der strukturell schwächer sei als die Vertreter der staatlichen Gewalt, müsse durch das Strafverfahrensrecht so geschützt werden, dass er nicht „im Parteikampf wegen Ungleichheit der Kräfte zu Unrecht unterliege“.[20] Dazu sollten die gerichtliche Voruntersuchung und der Eröffnungsbeschluss abgeschafft, die Anforderungen an den Erlass eines Haftbefehls wesentlich verschärft und ein eigenständiges Beweisaufnahmeverfahren mit einem Beweisantragsrecht schon vor der Hauptverhandlung eingeführt werden. Zentral war auch die Forderung, den Beschuldigten schon im Ermittlungsverfahren über sein Schweigerecht zu belehren.[21] Zusammen mit diesen Vorschlägen wurde der „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes“[22] eingebracht, der die verfassungsrechtlichen Vorgaben umsetzen und die Amtsgerichte als Schwerpunkt der erstinstanzlichen Zuständigkeit zu Lasten der bisherigen Zuständigkeit der Strafkammern an den Landgerichten ausgestalten sollte. Gleichwohl hielt der Entwurf beim Schwurgericht an der sehr umstrittenen Trennung zwischen Berufsrichtern und Geschworenen fest. Es zeigte sich bereits eine Linie, die auch viele spätere Gesetzesvorhaben in der Weimarer Zeit bestimmen sollte, nämlich das Ziel, angesichts der prekären Staatsfinanzen Ressourcen bei der Strafjustiz zu sparen. Dazu sollte die Richterzahl in den Spruchkörpern reduziert und durch eine Vereinfachung des Verfahrens, insbesondere durch eine Einschränkung der Rechtsmittel, die Dauer von Strafverfahren insgesamt verkürzt werden. Beide Gesetzesentwürfe stießen jedoch auf entschiedenen Widerstand der preußischen Regierung, so dass sich selbst Reichsjustizminister Schiffer im Herbst 1920 von den Entwürfen distanzierte.[23] Dennoch haben die Vorschläge zur Neugestaltung der sachlichen Zuständigkeit der Strafgerichte die kurze Zeit später in Kraft tretenden Regelungen der EmmingerVO maßgeblich beeinflusst.

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Ein kleiner Teil der von Goldschmidt/Schiffer vorgeschlagenen Änderungen trat durch das Gesetz zur Entlastung der Gerichte vom 11. März 1921 in Kraft,[24] das die erstinstanzliche Zuständigkeit des Schöffengerichts zu Lasten der Strafkammern ausdehnte, indem die Staatsanwaltschaft bei Vergehen und bestimmten Verbrechen ein Wahlrecht zur Anklage zum Schöffengericht hatte, auch wenn eigentlich die Zuständigkeit der Strafkammer begründet war. Das Abfassen der Urteilsgründe wurde erleichtert, da bei einem allseitigen Rechtsmittelverzicht abgekürzte Urteilsgründe zulässig waren (§ 266 Abs. 4 RStPO) und die Urteilsabsetzungsfrist auf sieben Tage verlängert wurde. Durch eine erhebliche Erweiterung des Privatklageverfahrens, das bis dahin nur bei Beleidigungen oder Körperverletzungen zulässig war, konnte die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten mit geringerem Gewicht Ressourcen einsparen.[25] Das Gesetz zur weiteren Entlastung der Gerichte vom 8. Juli 1922[26] gab dem Reichsgericht die Möglichkeit, Revisionen durch einstimmigen Beschluss ohne Hauptverhandlung als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Für das Reichsgericht bedeutete dies tatsächlich eine spürbare Entlastung, da zuvor nur unzulässige Revisionen durch Beschluss verworfen werden konnten. Weiterhin wurde die Zulässigkeit der Widerklage im Privatklageverfahren erweitert, um eine sonst erforderliche weitere Privatklage zu vermeiden. Die damals heftig umstrittene, aber verfassungsrechtlich gem. Art. 109 Abs. 2 WRV geforderte, Öffnung des Schöffen- und Geschworenenamtes für Frauen wurde durch Gesetz vom 25. April 1922 umgesetzt, wobei zumindest ein Schöffe bei der jeweiligen Gerichtsbesetzung männlich sein musste.[27]

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Als weitere wichtige Änderungen, die dem Grunde nach teilweise bis heute gelten, sind die Einführung der strafverfahrensrechtlichen Vorschriften der Reichsabgabenordnung vom 19. Dezember 1919,[28] das Gesetz über die beschränkte Auskunft aus dem Strafregister und die Tilgung von Strafvermerken vom 9. April 1920[29] und das Jugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 1923 zu nennen.[30] Letzteres führte die Jugendgerichte als Schöffengerichte ein und modifizierte die grundsätzlich geltenden allgemeinen verfahrensrechtlichen Regelungen in Strafsachen gegen Jugendliche.

III. Die EmmingerVO

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Kurz nach dem Scheitern der Goldschmidt/Schiffer-Entwürfe bemühte sich die Reichsregierung, wenigstens einen Teil der gerichtsverfassungsrechtlichen Änderungsvorschläge in Kraft treten zu lassen. Die diesbezüglichen Entwürfe der Reichsjustizminister Radbruch (1922) und Heinze (1923) verliefen zwar im Sande,[31] beeinflussten aber das kurz darauf folgende wichtigste Reformwerk während der Weimarer Republik,[32] die VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924.[33] Dass dieses Regelungswerk, nach dem Reichsjustizminister Emminger allgemein als EmmingerVO bezeichnet, anders als seine Vorgänger tatsächlich in Kraft treten konnte, lag vor allem daran, dass es nicht im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren beschlossen wurde. Es beruhte auf dem Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923, das die Reichsregierung ermächtigte, „die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend erachtet“.[34] Hintergrund der Änderungen waren die finanziellen Probleme des Reiches, die Kosteneinsparungen bei der Justiz erforderten, so dass es nahelag, durch gerichtsverfassungsrechtliche Reformen die Zahl der mit einer Sache befassten Berufsrichter zu reduzieren, Verfahren allgemein kürzer zu gestalten und durch den Abschied vom strikten Legalitätsprinzip „nutzlose Strafverfahren […] ganz und gar zu vermeiden“.[35] In konsequenter Umsetzung dieses Ziels regelte die EmmingerVO als besondere Notmaßnahmen für eine Dauer von drei Monaten den vollständigen Verzicht auf Schöffen und Geschworene, das Ruhen aller Privatklagen und Beschränkungen bei der Berufung. Die Rationalisierung der Justiz blieb dann auch bis 1932 Leitbild der meisten Änderungen im Strafverfahrensrecht, zumal sich die Verfahrensbelastung der Strafjustiz angesichts der wirtschaftlichen Rezession und des Anstiegs der – auch strafrechtlich relevanten – Auseinandersetzungen zwischen den politischen Gegnern noch erhöhte. Auch wenn die Kritik der Zeitgenossen gegen die Änderungen teilweise vernichtend ausfiel,[36] kodifizierte die EmmingerVO doch zahlreiche Gedanken, die auch im geltenden Strafverfahrensrecht zumindest ähnlich zu finden sind, so dass es berechtigt ist, die EmmingerVO als „beachtlichen Schub, vielleicht sogar [als] den Wendepunkt der modernen Strafprozessentwicklung“ zu bezeichnen.[37] Die RStPO und das GVG wurden auf Grundlage von § 43 der EmmingerVO, welche die Gesetzestexte selbst nicht geändert hatte, am 22. März 1924 neu bekannt gemacht.[38]

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Der Schwerpunkt der EmmingerVO lag auf einer grundlegend neuen Organisation der erstinstanzlichen Zuständigkeit,[39] was zugleich wesentlich den Rechtsmittelzug und die anzuwendenden strafverfahrensrechtlichen Vorschriften beeinflusste. Die herkömmlichen Schwurgerichte, die auf einer Trennung von Richterbank und Geschworenen beruhten, wurden beseitigt und nur dem Namen nach beibehalten. Die erstinstanzliche Zuständigkeit wurde fast vollständig auf das Amtsgericht verlagert. Der Amtsrichter als Einzelrichter übernahm im Wesentlichen die Zuständigkeit des Schöffengerichts,[40] welches im Gegenzug nun für den überwiegenden Teil der Strafsachen, die vormals beim Landgericht angeklagt worden waren, zuständig wurde.[41] Das neue Schwurgericht, das mit drei Berufsrichtern und sechs Geschworenen besetzt war, war im Wesentlichen nur für die eigentlichen Kapitalverbrechen und Fälle des Meineides zuständig.[42] Dabei entfiel die Trennung der Entscheidung über Schuld- und Straffrage, über beides entschieden die Berufsrichter und Geschworenen gemeinschaftlich. Die Strafkammern der Landgerichte, bei denen nun in der Hauptverhandlung stets Schöffen mitwirkten, blieben nur noch für Berufungen und Beschwerden zuständig. Die kleine Strafkammer als Berufungskammer gegen Urteile des Einzelrichters war mit einem Berufsrichter und zwei Schöffen besetzt, die große Strafkammer als Berufungskammer gegen Urteile des Schöffengerichts mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen. Die Berufung stand als Rechtsmittel allgemein zur Verfügung, außer bei einer erstinstanzlichen Zuständigkeit eines Oberlandesgerichts oder des Reichsgerichts, in Schwurgerichtssachen oder bei einer Verurteilung zu einer Geldstrafe bei Übertretungen oder bestimmten Privatklagedelikten. In den letztgenannten Fällen war die Ersatzrevision statthaft, wobei im Wesentlichen nur die fehlerhafte Anwendung des materiellen Rechts gerügt werden konnte. Weiterhin wurde die Sprungrevision als Alternative zur Berufung eingeführt.

 

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Auch der Revisionszug wurde neu gestaltet.[43] Zuständig für Revisionen gegen Berufungsurteile der kleinen Strafkammern und die meisten Urteile der großen Strafkammern waren ausschließlich die Oberlandesgerichte. Das Reichsgericht war nur noch für Revisionen gegen Urteile der Schwurgerichte und gegen Berufungsurteile der großen Strafkammern, bei denen erstinstanzlich ausnahmsweise zwei Berufsrichter mitgewirkt hatten, zuständig, soweit die Revision nicht lediglich eine Verletzung von Landesrecht rügte. Angesichts der Partikularisierung der Revisionszuständigkeiten befürchteten viele eine Zersplitterung der Rechtsauslegung, zumal der Zuständigkeitszuwachs des Amtsgerichts die Oberlandesgerichte zu den neuen „Zentren der Revisionsgerichtsbarkeit“ machte und dadurch die Zuständigkeit des Reichsgerichts stark einschränkte.[44] Bei der Regelung der Revisionszuständigkeiten scheint der Gesetzgeber auch übersehen zu haben, dass nur das Reichsgericht, nicht aber die Oberlandesgerichte, nach dem Entlastungsgesetz vom 8. Juli 1922 die Befugnis hatte, Revisionen zur Vermeidung einer Hauptverhandlung durch einstimmigen Beschluss als unbegründet zu verwerfen. Der Entlastungseffekt auf Ebene des Reichsgerichts wurde damit durch ungleich höhere Belastungen der Oberlandesgerichte konterkariert.[45]

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Eine weitere wichtige Vereinfachungsmaßnahme betraf nicht die Organisation der Strafgerichte, sondern die weitreichenden Durchbrechungen des Legalitätsprinzips (§§ 23, 24 der EmmingerVO), die bereits zuvor contra legem Teil der Verfahrenspraxis waren[46] und die im Wesentlichen bis heute in §§ 153, 154 StPO überdauert haben. Übertretungen mussten nicht mehr verfolgt werden, „wenn die Schuld des Täters gering ist und die Folgen der Tat unbedeutend sind“, es sei denn, es bestand ein „öffentliches Interesse an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung“. Bei Vergehen konnte die Staatsanwaltschaft unter den gleichen Voraussetzungen mit Zustimmung des Amtsrichters von der Anklageerhebung absehen, wobei es auf das „öffentliche Interesse“ nicht ankam.[47] Das Gericht konnte mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft das Verfahren auch nach Anklageerhebung noch einstellen. Der Verfolgungszwang galt nur bei militärischen Vergehen uneingeschränkt fort. Auch bei unwesentlichen Straftaten, die neben einer schwereren Straftat nicht ins Gewicht fielen, konnte die Staatsanwaltschaft von der Anklageerhebung absehen. Auf die Gefahren dieser Opportunitätserledigungen für eine objektive und gerechte Strafverfahrenspraxis wurde schon 1924 hingewiesen,[48] auch wenn sich die Auffassung durchsetzte, in Strafsachen mit nur geringem Gewicht könne man auf „das vernünftige Befinden des pflichtbewußten Beamten“ der Staatsanwaltschaft vertrauen.[49] Aus Sicht des Beschuldigten war misslich, dass die Verfahrenseinstellung auch nach Anklageerhebung nicht seiner Zustimmung bedurfte und der Einstellungsbeschluss nicht zu einem Strafklageverbrauch führte.[50]

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Der schnelleren „Erledigung“ kleinerer Kriminalität diente auch die Erweiterung des Strafbefehlsverfahrens, das nun für alle Vergehen zulässig war, wobei Geldstrafe in unbeschränkter Höhe und bis zu drei Monate Freiheitsstrafe verhängt werden konnten.[51] Die Zuständigkeitskonzentration bei den Amtsgerichten bewirkte mittelbar auch eine Ausweitung des Schnellverfahrens gem. § 212 RStPO, das nunmehr in allen Verfahren möglich war, die nicht erstinstanzlich vor dem Schwurgericht, dem Oberlandesgericht oder dem Reichsgericht verhandelt wurden, wenn sich der Beschuldigte freiwillig stellte oder infolge einer vorläufigen Festnahme dem Gericht vorgeführt wurde. Das Schnellverfahren wurde damit in fast allen Strafsachen möglich.[52]

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Durch die Überbetonung der zügigen Erledigung von Strafsachen steigerte die EmmingerVO die Bedeutung der Staatsanwaltschaft und begründete zugleich nicht unwesentliche Nachteile für die Rechtsposition des Beschuldigten. Durch die Möglichkeit, auf die Zuständigkeit und Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts Einfluss zu nehmen, konnte die Staatsanwaltschaft zugleich den Rechtsmittelzug bestimmen.[53] Sie hatte es auch maßgeblich in der Hand, ob eine richterliche Voruntersuchung stattfand, wodurch – ebenso wie durch die Erweiterung der Opportunitätseinstellungen – ihr Einfluss im Vorverfahren stieg.[54] Weiterhin beeinflussten die Zuständigkeitsänderungen maßgeblich das Beweisantragsrecht. Die eigentlich als Ausnahmevorschrift gedachte Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme durch das Gericht, „ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein“ (§ 245 Abs. 2 RStPO in Fassung der Neuverkündung vom 22. März 1924, vorher § 244 Abs. 2 RStPO), galt durch die Konzentration der ersten Instanz beim Amtsgericht nun in fast allen erstinstanzlichen Verfahren.[55] Die freiere Hand des Gerichts hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme mag zuvor bei der Verhandlung von weniger bedeutsamen Strafsachen noch als Ausdruck eines strafprozessualen Bagatellprinzips gerechtfertigt gewesen sein.[56] Nun hatte der Beschuldigte aber auch bei schweren Tatvorwürfen keine Möglichkeit mehr, in der ersten Instanz die Beweisaufnahme durch die Pflicht zur Berücksichtigung präsenter Beweismittel in seinem Sinne zu beeinflussen. Eine gewisse Kompensation bestand darin, dass in der Berufungsinstanz die freie Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme nur bei Übertretungen galt.

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Ob die Rechnung der Reichsregierung, durch den schnelleren Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens Kosten einzusparen, tatsächlich aufging, bleibt zweifelhaft.[57] Die „Züchtung unvermeidbarer Berufungen“[58] durch die fehlende Gründlichkeit in der ersten Instanz dürfte vielmehr den gegenteiligen Effekt gehabt haben.[59] Jedenfalls hielten die Klagen über die sog. Riesen- oder Monstreprozesse, die durch die weitgehenden Berufungsmöglichkeiten noch verlängert wurden, in den folgenden Jahren an,[60] so dass die AusnahmeVO vom 14. Juni 1932 die erstinstanzliche Zuständigkeit der großen Strafkammern wieder einführte. Festzuhalten ist, dass die Möglichkeit der Berufung nur ein ungenügender Ersatz für die schwache Rechtsstellung des Beschuldigten im erstinstanzlichen Verfahren war.[61]

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Die Kritik gegen Inhalt und Zustandekommen der EmmingerVO beeindruckte das Reichsgericht jedoch nicht. Der 2. Strafsenat entschied am 24. März 1924, dass die EmmingerVO und die daran anschließende Neubekanntmachung der RStPO rechtsgültig waren. Die Reichsregierung könne nach dem Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923 auch Recht setzen, soweit sie es für erforderlich und dringend erachte. Diese Ermessensentscheidung sei „jeder Nachprüfung der Gerichte entzogen.“ Auch verstoße die Suspension der sachlichen Zuständigkeit des Schwurgerichts gem. § 44 Abs. 2 S. 2 der EmmingerVO nicht gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 105 S. 2 WRV, da die vorübergehend an die Stelle des Schwurgerichts tretende Strafkammer „klar“ kein unzulässiges Ausnahmegericht nach Art. 105 S. 1 WRV sei.[62] Die sehr knappen Urteilsgründe erwecken den Eindruck, dass das Reichsgericht die Prinzipien der Vereinfachung und Kostenersparnis bereits vollständig verinnerlicht und auf die Abfassung seiner Entscheidungen übertragen hatte.[63]

IV. Weitere Änderungen von 1924 bis 1930

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Nach der Neubekanntmachung der RStPO in der Fassung der Änderungen der EmmingerVO nahm die Zahl der legislativen Maßnahmen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ab. Von Bedeutung war zunächst das Änderungsgesetz vom 22. Dezember 1925, nach dem die Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme durch das Gericht bei allen Verfahren vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und den Landgerichten nur noch bei Übertretungen oder Privatklageverfahren galt.[64]

1. Die Haftrechtsnovelle vom 27. Dezember 1926 – „Lex Höfle“

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Der Tod des ehemaligen Reichspostministers Höfle in Untersuchungshaft war Auslöser einer Novelle des Untersuchungshaftrechts,[65] die sich teilweise auf die Entwürfe aus den Jahren 1909 und 1919 stützte. Ziel war eine deutliche Verkürzung der Haftdauer durch die Abschaffung der Haftfristsetzung während des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens, da sich gezeigt hatte, dass die Fristsetzung letztlich zu unnötigen Voruntersuchungen und einer Verlängerung der Haftdauer in der Praxis führte.[66] Der Verhaftete konnte nun ein Haftprüfungsverfahren mit mündlicher Verhandlung beantragen, wobei der Haftprüfungstermin im Regelfall binnen einer Woche stattfinden musste. Für eine bessere Vorbereitung der Verteidigung war maßgeblich, dass auch im amtsgerichtlichen Verfahren das wesentliche Ergebnis der Ermittlung in die Anklageschrift aufgenommen werden musste, wenn eine Voruntersuchung stattgefunden hatte.[67] Auch sonst war die Staatsanwaltschaft angehalten, bei Vergehen den Inhalt der Anklageschrift entsprechend zu gestalten. Weiterhin wurde die Überwachung des mündlichen Verkehrs zwischen dem Beschuldigten und dem Verteidiger eingeschränkt, indem nur noch eine richterliche Überwachung zulässig war.

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Neben den Änderungen zur Untersuchungshaft wurde § 53 Abs. 1 RStPO durch ein Zeugnisverweigerungsrecht für Presseangehörige hinsichtlich des Verfassers oder Einsenders einer Veröffentlichung strafbaren Inhalts ergänzt, soweit ein verantwortlicher Redakteur bestraft werden konnte. In § 245 Abs. 1 RStPO wurde die Möglichkeit der Zurückweisung von präsenten Beweismitteln kodifiziert, wenn die Beweiserhebung zur Prozessverschleppung dienen sollte.

2. Sonstige Änderungen

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Das Gesetz zur Vereinfachung des Militärstrafrechts vom 30. April 1926 hob §§ 435, 444 Abs. 2 S. 3 RStPO auf und führte damit zu einer vollständigen Trennung des militärischen Disziplinarrechts vom Militärstrafrecht.[68] Das Auslieferungsgesetz vom 23. Dezember 1929[69] schuf ein separates Regelungswerk über die Auslieferung von Ausländern auf Ersuchen eines anderen Staates und fügte die heute im Wesentlichen noch geltenden § 154b (damals § 154a), § 456a in die RStPO ein.