Handbuch des Strafrechts

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2. Sanktionen nach allgemeinen Strafgesetzen

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Das in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Verbot der Doppelbestrafung betrifft lediglich die wiederholte Bestrafung aufgrund „allgemeiner Strafgesetze“. Mit dieser Formulierung zielte der historische Verfassungsgeber ausschließlich auf das Kriminalstrafrecht – d.h. das Kern- und Nebenstrafrecht – ab,[233] nicht hingegen auf das Berufsstraf- und Standesrecht[234] sowie das Dienst-, Ordnungs- und Polizeistrafrecht.[235] Auch die Verhängung von Jugendarrest wegen Verstoßes gegen eine Bewährungsauflage ist danach keine Sanktion aufgrund eines „allgemeinen Strafgesetzes“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG.[236] Präventive Maßnahmen der Verwaltung wie der Entzug der Fahrerlaubnis mögen zwar unter Umständen ähnlich intensiv in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreifen wie die Kriminalstrafe, verfolgen jedoch andere Zwecke und unterfallen infolgedessen ebenfalls nicht dem Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG.[237]

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Keine „Strafgesetze“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG sind nach der Rechtsprechung des BVerfG auch die Tatbestände des Ordnungswidrigkeitenrechts.[238] Eine verbreitete Schrifttumsansicht hält dem zu Recht entgegen, dass die Zuordnung zum Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht durch den Gesetzgeber häufig eher zufällig erfolgt, und dass viele Tatbestände des Ordnungswidrigkeitenrechts bei der Entstehung des Grundgesetzes noch Strafgesetze waren; Art. 103 Abs. 3 GG soll daher zumindest analog auch im Ordnungswidrigkeitenrecht anzuwenden sein (vgl. einfachgesetzlich auch §§ 56 Abs. 4, 84, 85 OWiG).[239] Grundsätzliche Zustimmung verdient die Feststellung, dass disziplinarrechtliche Sanktionen nicht in den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG fallen;[240] zu beachten ist jedoch, dass sich auch aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) allgemeine Grenzen einer doppelten Sanktionierung ergeben können.[241] Nach zutreffender Ansicht ist daher eine wegen „derselben Tat“ bereits verhängte Disziplinarmaßnahme im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen.[242]

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Nicht erfasst werden von Art. 103 Abs. 3 GG schließlich nach herrschender Meinung auch die Maßregeln der Besserung und Sicherung.[243] Über die Einordnung der Sicherungsverwahrung ist allerdings zuletzt aus Anlass des nachträglichen Wegfalls der 10-Jahres-Höchstgrenze bei erstmalig angeordneter Sicherungsverwahrung und der Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung Streit entstanden. Während der EGMR mit Blick auf die Garantien des Gesetzlichkeitsprinzips aus Art. 7 Abs. 1 EMRK einen autonomen, nicht an die Wertungen des mitgliedsstaatlichen Rechts gebundenen Strafbegriff vertritt,[244] hält das BVerfG an der formalen Zweispurigkeit des deutschen Sanktionensystems fest und spricht der Sicherungsverwahrung konsequent den Strafcharakter i.S.d. Art. 103 GG ab.[245] Unter dem Eindruck der Rechtsprechung des EGMR hat das Gericht jedoch Maßnahmen zur Sicherung des Abstandsgebotes angemahnt und dem Gesetzgeber das Programm eines freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzuges diktiert (vgl. dazu nunmehr § 66c Abs. 1 StGB).[246]

3. „Mehrfache Bestrafung“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG

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Wie bereits eingangs dargelegt, begründet Art. 103 Abs. 3 GG ein Verfahrenshindernis und schließt damit nicht nur die mehrfache Bestrafung, sondern bereits die erneute Einleitung eines Strafverfahrens aus.[247] Die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten bereitet wegen ihres ausschließlich begünstigenden Charakters keine Probleme; jedoch ist auch die Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten unter den engen, in § 362 StPO normierten Voraussetzungen mit Art. 103 Abs. 3 GG vereinbar.[248] Eine Erweiterung der bestehenden Wiederaufnahmegründe wird allerdings zu Recht für unzulässig erachtet.[249]

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Für die Auslösung der Sperrwirkung des Art. 103 Abs. 3 GG ist ausschlaggebend, dass der staatliche Strafanspruch in der vorausgegangenen Entscheidung ein Mindestmaß an substantieller und prozessualer Klärung erfahren hat.[250] Dies ist zunächst unstreitig sowohl beim verurteilenden als auch beim freisprechenden Sachurteil der Fall[251] und gilt auch für den Strafbefehl (vgl. § 373a StPO).[252] Keine eingehende Sachprüfung liegt hingegen schon seiner Natur nach dem auf Einstellung des Verfahrens nach § 260 Abs. 3 StPO lautenden Prozessurteil zugrunde, welches daher auch keinen Strafklageverbrauch bewirkt.[253] Gerichtliche Einstellungsbeschlüsse gem. § 153 Abs. 2 StPO und § 153a Abs. 2 StPO sowie Nichteröffnungsbeschlüsse gem. § 211 StPO lösen ebenfalls nicht die Rechtsfolge des Art. 103 Abs. 3 GG, sondern lediglich eine eingeschränkte Sperrwirkung aus.[254] Auch Opportunitätseinstellungen der Staatsanwaltschaft bewirken nur im einfachgesetzlich normierten Ausnahmefall (vgl. § 153a Abs. 1 S. 5 StPO) einen begrenzten Strafklageverbrauch.[255]

4. Europarechtliche Dimension des Strafklageverbrauchs

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Der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG ist schließlich nach vorherrschender Lesart auf Entscheidungen deutscher Gerichte beschränkt.[256] Eine Regelung für grenzüberschreitende Sachverhalte findet sich jedoch in Art. 54 SDÜ, der bestimmt, dass, wer durch eine Vertragspartei des Schengener Durchführungsübereinkommens rechtskräftig abgeurteilt worden ist, durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat[257] nicht verfolgt werden darf, wenn im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. Der Begriff der „rechtskräftigen Aburteilung“ i.S.d. Art. 54 SDÜ hat eine extensive Auslegung durch den EuGH erfahren; dieser hat hierunter beispielsweise auch einen Vergleich zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten nach niederländischem Recht (sog. transactie) sowie die staatsanwaltschaftliche Einstellungsentscheidung nach § 153a Abs. 1 StPO subsumiert.[258] „Bereits vollstreckt“ i.S.d. Art. 54 SDÜ ist die Sanktion beispielsweise nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe, nach Zahlung einer Geldstrafe oder nach der Erfüllung von Auflagen.[259] Eine Bewährungsstrafe wird „gerade vollstreckt“, sobald die Strafe vollstreckbar geworden ist und die Bewährungszeit andauert; nach Ablauf der Bewährungszeit gilt die Strafe als „bereits vollstreckt“.[260] Gründe, aus denen eine Sanktion „nicht mehr vollstreckt werden kann“, sind zum Beispiel Verjährung, Amnestie, Begnadigung oder auch der Erlass einer Bewährungsstrafe.[261] Wenn die Vollstreckung der Sanktion dagegen aus tatsächlichen Gründen (etwa Flüchtigkeit oder unbekannter Aufenthalt des Beschuldigten) nicht möglich ist, tritt kein Strafklageverbrauch gem. Art. 54 SDÜ ein.[262] Die Sanktion gilt auch dann als „nicht mehr vollstreckbar“, wenn sie nach dem nationalen Verfahrensrecht des erstverfolgenden Staates zu keinem Zeitpunkt vollstreckbar war.[263]

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Eine weitere Vorschrift zum transnationalen Strafklageverbrauch findet sich nunmehr in Art. 50 GRC, der auf das in Art. 54 SDÜ enthaltene „Vollstreckungselement“ verzichtet: Danach darf niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.[264] Während ein Teil des Schrifttums nach dem Inkrafttreten der Grundrechte-Charta von einer Verdrängung des Art. 54 SDÜ durch Art. 50 GRC ausging, die eine Prüfung des Standes der Strafverfolgung obsolet machen würde,[265] sieht die deutsche und europäische Rechtsprechung in Art. 54 SDÜ eine Schranke des Art. 50 GRC, weshalb das „Vollstreckungselement“ weiter zu beachten sei. Zur Begründung wird auf die Materialien der Charta sowie auf Art. 52 GRC Bezug genommen; diesem komme in grundrechtsdogmatischer Hinsicht die Funktion einer Schranken-Schranke zu, was wiederum die Möglichkeit von Grundrechtsschranken impliziere.[266]

 

V. Rechtsgarantien bei Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen (Art. 104 GG)

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Art. 104 GG regelt die formellen Rechtsgarantien bei Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen. In der Vorschrift, die auf eine lange Grundrechtstradition zurückblicken kann,[267] sind verschiedene Garantien zusammengefasst: Während Art. 104 Abs. 1 GG für alle Freiheitsbeschränkungen ein förmliches Gesetz als Befugnisnorm verlangt (Satz 1) und ein Verbot der seelischen und körperlichen Misshandlung festgehaltener Personen ausspricht (Satz 2), verlangt Art. 104 Abs. 2, 3 GG für Freiheitsentziehungen (zu denen die in Absatz 3 erwähnte vorläufige Festnahme lediglich einen Unterfall darstellt[268]) grundsätzlich eine richterliche Entscheidung, von der gem. Art. 104 Abs. 3 GG unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen ist.

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Die in Art. 104 GG normierten Gewährleistungen der Freiheit stehen in engem Zusammenhang mit der materiellen Freiheitsgarantie aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG[269] und ergänzen diese um Elemente der Grundrechtssicherung durch Verfahren.[270] Wie bei Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG umfasst der personelle Schutzbereich des Art. 104 GG alle natürlichen Personen.[271] Auch der sachliche Schutzbereich des Art. 104 GG ist identisch mit dem des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; eine Ausnahme bildet insoweit nur das in Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG normierte Misshandlungsverbot, welches das Grundrecht auf körperliche Integrität (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) verstärkt.[272] Die übrigen Gewährleistungen des Art. 104 GG bezwecken wie Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG den Schutz der körperlichen Bewegungsfreiheit vor Beeinträchtigungen durch unmittelbaren Zwang.[273]

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Zwischen der Freiheitsbeschränkung i.S.d. Art. 104 Abs. 1 GG und der Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 104 Abs. 2–4 GG besteht nach einhelliger Auffassung ein Stufenverhältnis, wobei die Freiheitsentziehung den schwersten Fall der Freiheitsbeschränkung bildet und die Begriffe nach der Intensität des Eingriffes abzugrenzen sind.[274] Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist von einer Freiheitsbeschränkung immer schon dann auszugehen, „wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist“, während die Annahme einer Freiheitsentziehung voraussetzt, dass „die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird“.[275] Ausschlaggebend für die Einordnung als Freiheitsentziehung ist allein der Erfolg, der darin besteht, dass eine Person durch öffentliche Gewalt am Verlassen eines Ortes gehindert wird; hingegen kommt es nicht darauf an, ob dieser Erfolg mit mechanischen, chemisch wirkenden oder sonstigen Mitteln erreicht wird.[276] Neben der Straf- und Untersuchungshaft, der einstweiligen Unterbringung gem. § 126a StPO sowie der Unterbringung in einer Maßregel der Besserung und Sicherung gem. §§ 63 ff. StGB[277] ist etwa auch das mehrstündige Festhalten einer Person in einer polizeilichen Gewahrsamszelle zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen als Freiheitsentziehung i.S.d. Art 104 Abs. 2 GG qualifiziert worden.[278] Mit Urteil vom 24. Juli 2018 hat der Zweite Senat des BVerfG entschieden, dass jedenfalls die nicht nur kurzfristige 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung eines öffentlich-rechtlich untergebrachten Patienten, bei der sämtliche Gliedmaßen des Betroffenen mit Gurten am Bett festgebunden werden, eine (zu der Unterbringung hinzutretende) Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 104 Abs. 2 GG darstellt, die nur zulässig ist, wenn eine spezielle gesetzliche Grundlage hierfür gegeben ist, die den Vorgaben des Art. 104 Abs. 2 GG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.[279] Als Beispiel für eine bloße Freiheitsbeschränkung i.S.d. Art. 104 Abs. 1 GG werden auf § 56c StGB bzw. § 10 JGG gestützte Aufenthalts- und Betretensverbote genannt; bloße Handlungspflichten wie die Pflicht des Angeklagten zur Teilnahme an der Hauptverhandlung gem. §§ 230 ff. StPO tangieren demgegenüber lediglich die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG).[280]

1. Vorbehalt des förmlichen Gesetzes

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Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG stellt Freiheitsbeschränkungen unter den Vorbehalt eines förmlichen Gesetzes und der Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen. Die Vorschrift greift damit den schon in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG normierten Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn dergestalt, dass die Einhaltung der Formvorschriften des freiheitsbeschränkenden Gesetzes zum Verfassungsgebot erhoben wird. Ihre Verletzung stellt mithin einen Verfassungsverstoß dar, gegen den der Betroffene mit der Verfassungsbeschwerde vorgehen kann.[281] Dies trifft nach einer Kammerentscheidung des BVerfG beispielsweise auch auf das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot zu, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben.[282]

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Die durch Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG statuierten Bestimmtheitsanforderungen entsprechen denen aus Art. 103 Abs. 2 GG; daher gilt auch bei der Begründung von Freiheitsbeschränkungen i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ein strenges Analogieverbot und ein Verbot des Rückgriffs auf Gewohnheitsrecht.[283] Infolge der Aufwertung von Verstößen gegen einfachgesetzliche Verfahrensgarantien zu Verfassungsverstößen unterbleibt die sonst übliche Beschränkung des verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabes auf Verletzungen „spezifischen Verfassungsrechts“.[284] Eine vertretbare Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts durch die Fachgerichte, die das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG hinreichend beachtet und seine Mindestanforderungen nicht verkennt, hat das BVerfG allerdings auch in diesem Zusammenhang hinzunehmen.[285]

2. Misshandlungsverbot

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Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG verbietet die seelische und körperliche Misshandlung festgehaltener Personen und normiert damit Anforderungen an die Art und Weise des Vollzuges von Freiheitsbeschränkungen, die insbesondere als Konkretisierung der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zu sehen sind.[286] Die Vorschrift stellt eine Reaktion auf den Befund dar, dass vor allem Freiheitsentziehungen das Misshandlungsrisiko erfahrungsgemäß steigern, und zwar auch dann, wenn sie hoheitlich veranlasst sind.[287] Art. 104 Abs. 1 S. 2 gilt vorbehaltlos, d.h. das Misshandlungsverbot ist einer Abwägung mit konfligierenden Interessen nicht zugänglich.[288] Hervorhebung verdient weiter die normative Feststellung, dass der Schutz vor Misshandlungen in Justizvollzugsanstalten nicht geringer ist als außerhalb.[289] Bei Verletzungen, die während des Polizeigewahrsams entstanden sind, trägt nach der Rechtsprechung des EMGR zu Art. 3 Abs. 1 EMRK der Staat die Beweislast dafür, dass sie nicht durch polizeiliche Misshandlung entstanden sind.[290]

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Von einem „Festhalten“ i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG ist nach zutreffender, am Sinn und Zweck der Norm ausgerichteter Ansicht immer dann auszugehen, wenn der Betroffene der Misshandlung nicht dadurch entgehen kann, dass er sich entfernt, was beispielsweise auch bei einer Vernehmung oder bei einer ein Weggehen verhindernden Einkreisung der Fall sein kann.[291] Als „körperliche Misshandlung“ wird in Anlehnung an das zu § 223 StGB entwickelte Begriffsverständnis jede üble und unangemessene Behandlung angesehen, welche das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt.[292] Eine seelische Misshandlung liegt in jeder entehrenden und entwürdigenden Behandlung, die beispielsweise in einer schweren Beleidigung oder in der Durchführung eines unnötigen psychologischen Tests zu sehen sein kann.[293]

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Angesichts des vorbehaltlosen Charakters des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG wird allerdings im Schrifttum verschiedentlich hervorgehoben, dass nicht bereits jede im Zusammenhang mit einer Freiheitsbeschränkung stehende Beeinträchtigung der körperlichen Integrität oder der freien Willensbestimmung als Misshandlung angesehen werden könne.[294] Ergänzend wird daher das Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gefordert, wie sie auch von Art. 3 EMRK verboten wird.[295] In der Konsequenz dieser Ansicht liegt es, die in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK entwickelten Maßstäbe auch für die Auslegung des Misshandlungsverbotes aus Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG entsprechend heranzuziehen.[296] Die Regelung verbotener Vernehmungsmethoden in § 136a StPO ist – jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale – mit Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar und geht sogar über dessen Gewährleistungsgehalt hinaus, indem sie etwa auch Täuschungen erfasst.[297]

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Unzweifelhaft von Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG erfasst ist nach alldem jede Form staatlicher Folter, die aufgrund der Abwägungsfestigkeit der Garantie auch nicht in Form der sog. „Rettungsfolter“ zulässig ist.[298] Auch die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln zur Beweisgewinnung, in welcher der EGMR im Fall Jalloh gegen Deutschland einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK gesehen hat, ist als Misshandlung i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG anzusehen.[299] Hingegen soll die mit der Intention der Lebensrettung erfolgende Zwangsernährung des in einem Hungerstreik befindlichen Strafgefangenen zumindest dann keine Misshandlung darstellen, wenn der Betroffene nicht mehr selbstbestimmt handeln kann.[300] Diese Ansicht beruht jedoch auf einem veralteten paternalistischen Konzept, das spätestens seit der Kodifikation der Patientenverfügung in § 1901a BGB[301] und der restriktiven Entscheidungen des BVerfG zur Zwangsbehandlung im psychiatrischen Maßregelvollzug[302] nicht mehr haltbar erscheint. Das Anstaltspersonal hat die in freier Selbstbestimmung ausgeübte Nahrungsverweigerung eines Gefangenen daher auch dann zu akzeptieren, wenn der Betroffene zu versterben droht.[303] Bedenken begegnet schließlich auch, dass das BVerfG in einer Kontaktsperre nach den §§ 31 ff. EGGVG keine Verletzung des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG gesehen hat; hier legt die mit der Intensität und Dauer der Sperre verbundene Inhibierung von Außenkontakten die Annahme eines Verfassungsverstoßes nahe.[304]

 

3. Richtervorbehalt

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Für die Freiheitsentziehung als schwersten Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem in Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG normierten Gesetzesvorbehalt den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht.[305] Nach Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG darf eine Freiheitsentziehung grundsätzlich nur auf der Grundlage einer vorherigen richterlichen Anordnung erfolgen. Liegt der Freiheitsentziehung ausnahmsweise keine solche Anordnung zugrunde, so ist die richterliche Anordnung gem. Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG unverzüglich – d.h. „ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt“[306] – herbeizuführen. Als unvermeidbar gelten beispielsweise „Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt sind“; hingegen wird die mangelnde Erreichbarkeit eines Richters nicht ohne Weiteres als unvermeidbares Hindernis für die unverzügliche Nachholung der richterlichen Entscheidung angesehen.[307] Die Inanspruchnahme der in Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG vorgesehenen Eilkompetenz muss nach den Art. 104 GG zugrunde liegenden verfassungsrechtlichen Wertungen grundsätzlich der Ausnahmefall bleiben;[308] sie kommt nach der Rechtsprechung des BVerfG nur in Betracht, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte Zweck anders nicht erreichbar wäre.[309] Letzteres wird allerdings – worauf das BVerfG in der bereits erwähnten (Rn. 56) Entscheidung zur Fixierung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung zu Recht hingewiesen hat, regelmäßig der Fall sein, wenn die Maßnahme zur Abwehr einer von dem Betroffenen ausgehenden akuten Selbst- oder Fremdgefährdung erfolgt.[310] Zum Begriff der Entscheidung i.S.d. Art. 104 Abs. 2 GG gehört, dass der Richter in vollem Umfang die Verantwortung für die Maßnahme zu übernehmen hat.[311] Hieraus ergeben sich im Wege der Vor- und Nachwirkung Ermittlungs-, Anhörungs- und Begründungspflichten,[312] deren Details Gegenstand einer ausgedehnten bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur sind (dazu für die Untersuchungshaft sogleich bei Rn. 67 f.).[313]

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Die staatlichen Organe trifft eine Pflicht zur Effektivierung des Richtervorbehalts. Sie haben die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters zu gewährleisten und diesem eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben zu ermöglichen.[314] Nach der Rechtsprechung des BVerfG muss ein Haftrichter „jedenfalls zur Tageszeit“ verfügbar sein;[315] darüber hinaus ist jedoch auch außerhalb der regelmäßigen Dienstzeiten – d.h. an Wochenenden und Feiertagen[316] sowie nach zutreffender Ansicht bei einem über den Ausnahmefall hinausgehenden praktischen Bedarf auch zur Nachtzeit[317] – ein richterlicher Bereitschaftsdienst einzurichten. Mit Blick auf die Einhaltung des Richtervorbehaltes gem. Art. 104 Abs. 2 GG bei Fixierungen hat der Zweite Senat des BVerfG jüngst die Einrichtung „eines täglichen richterlichen Bereitschaftsdienstes“ verlangt, „der – in Orientierung an § 758a Abs. 4 S. 2 ZPO – den Zeitraum von 6 bis 21 Uhr abdeckt“.[318] In Abweichung von § 104 Abs. 3 StPO ist dieser Zeitraum auch im Hinblick auf strafprozessuale Durchsuchungen als Tageszeit anzusehen.[319]

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Für polizeiliche Ingewahrsamnahmen „aus eigener Machtvollkommenheit“, die nicht zum Zwecke der Strafverfolgung erfolgen,[320] statuiert Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG als Höchstgrenze das Ende des auf die Ergreifung folgenden Tages.[321] Die in Satz 2 normierte Pflicht, eine richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen, wird durch diese Frist allerdings nicht suspendiert.[322] Erfolgte die Freiheitsentziehung wegen des Verdachts einer Straftat, so ist der Betroffene nach Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG spätestens am Tage nach der Festnahme[323] dem Richter vorzuführen, der ihm die Gründe für die Festnahme mitzuteilen und ihm rechtliches Gehör zu gewähren hat. Auch insofern besteht die Pflicht zur Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes.[324] Nach Art. 104 Abs. 3 S. 2 GG hat der Richter unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen. Eine unter Missachtung der Vorgaben aus Art. 104 Abs. 2, 3 GG durchgeführte Freiheitsentziehung ist rechtswidrig und daher geeignet, eine Strafbarkeit der beteiligten staatlichen Akteure wegen Freiheitsberaubung zu begründen.[325]