Handbuch des Strafrechts

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2. Gehörsgewährung als Funktion der Beschuldigtenvernehmung

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Für den Beschuldigten findet sich die wohl bedeutsamste einfachgesetzliche Ausprägung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in § 136 Abs. 2 StPO,[161] demzufolge die Vernehmung dem Beschuldigten Gelegenheit geben soll, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen.[162] Die Vorschrift, die lediglich für die richterliche Beschuldigtenvernehmung im Ermittlungsverfahren unmittelbare Geltung beansprucht, ist auf Vernehmungen des Beschuldigten durch Polizei und Staatsanwaltschaft gem. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO entsprechend anzuwenden. Dass dem Angeklagten in der Hauptverhandlung die Gelegenheit zur Einlassung zu geben ist, ergibt sich aus § 243 Abs. 5 S. 2 StPO, der ebenfalls auf § 136 Abs. 2 StPO verweist.

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Umstritten ist, in welchem Verhältnis die ausdrücklich in § 136 Abs. 2 StPO normierte Funktion der Gehörsgewährung zu den Zwecken der Sachverhaltsaufklärung und der Überführung des Schuldigen steht. Betrachtet man die Rechtswirklichkeit der Beschuldigtenvernehmungen, die nach wie vor durch den Einsatz kriminalistischer List und geständnisorientierter Vernehmungstechniken dominiert zu werden scheint,[163] so wird deutlich, dass die mit der Durchführung der Vernehmungen befassten Ermittlungspersonen ihre Aufgabe keineswegs ausschließlich und wohl nicht einmal primär in der Verwirklichung des Anspruches des Beschuldigten aus Art. 103 Abs. 1 GG sehen dürften. Betrachtet man den historischen Kontext und die Entwicklung des § 136 Abs. 2 StPO, so war es die Intention des Gesetzgebers, mit der StPO den Inquisitionsprozess zu überwinden und diesen durch ein eigenständiges, um Prinzipien des Anklageverfahrens ergänztes Prozessmodell zu ersetzen,[164] in welchem der Beschuldigte nicht mehr Untersuchungsobjekt, sondern Verfahrenssubjekt sein sollte.[165] Nach überwiegender Ansicht liegt der Zweck der Beschuldigtenvernehmung gleichwohl nicht lediglich in der (üblicherweise auf den Begriff der Verteidigungsfunktion gebrachten) Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern darüber hinaus auch in der Ermöglichung der Sachverhaltsaufklärung und der Beweissicherung (sog. Inquisitionsfunktion).[166] Dieser Doppelcharakter der Vernehmung sei „Folge der ambivalenten Stellung des Beschuldigten im Strafprozess“,[167] der eben nicht nur Prozesssubjekt, sondern (nach wie vor) auch Beweismittel sei.

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Tatsächlich handelt es sich bei der Einlassung des Beschuldigten zumindest um ein Beweismittel im weiteren Sinne, das nicht nur von den Strafverfolgungsbehörden zum Ausgangspunkt weiterer Nachforschungen sowie zur Grundlage der Entscheidung über die Anklageerhebung gemacht werden kann, sondern auch einen möglichen Gegenstand der tatrichterlichen Beweiswürdigung bildet und letztlich auch eine Verurteilung tragen kann.[168] Ungeachtet dessen ist mit der im Schrifttum vertretenen Gegenansicht davon auszugehen, dass die Überführung des Beschuldigten keinen eigenständigen Zweck der Beschuldigtenvernehmung bildet und diese ausschließlich am Zweck der Gewährung rechtlichen Gehörs auszurichten ist.[169] Hierfür spricht neben dem Wortlaut des § 136 Abs. 2 StPO, der lediglich die Funktion der Gehörsgewährung benennt,[170] der aus den Materialien ersichtliche eindeutige Wille des historischen Gesetzgebers.[171] Hinzu kommt, dass das in der Rechtswirklichkeit verbreitete, primär geständnisorientierte Vorgehen der Ermittlungsbehörden von der rechtspsychologischen Forschung als maßgebliche Fehlerquelle im Strafprozess identifiziert worden ist.[172] Um dem Beschuldigten eine effektive Wahrnehmung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör zu ermöglichen, sind ihm mithin bereits zu Beginn der ersten verantwortlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe grundsätzlich vollständig offenzulegen (vgl. auch § 115 Abs. 3 StPO für die Vorführung vor den Haftrichter).[173] Fangfragen, mithilfe derer der Beschuldigte dazu veranlasst werden soll, sich ungewollt selbst zu belasten, sind als unzulässig anzusehen.[174] Eine Befugnis zur Vorenthaltung besteht nur hinsichtlich solcher Informationen, deren Bekanntwerden dazu führen würde, dass bevorstehende Untersuchungshandlungen scheitern (vgl. § 147 Abs. 2 StPO).[175] Richtigerweise wird aus der vorstehend skizzierten Funktion der Beschuldigtenvernehmung schließlich auch abgeleitet, dass der Beschuldigte nur vernommen werden darf, wenn er psychisch und physisch zu einer sachgemäßen Verteidigung imstande ist. Dies entspricht der Verhandlungsfähigkeit, die daher auch für Vernehmungen außerhalb der Hauptverhandlung zu fordern ist.[176]

3. Fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen letztinstanzliche Gehörsverletzungen

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Nach der Plenarentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2003 zählt zu den aus Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. dem Justizgewährungsanspruch abgeleiteten rechtsstaatlichen Mindeststandards, die der Gesetzgeber zu gewährleisten hat, insbesondere die gesetzlich normierte Möglichkeit, gegen letztinstanzliche entscheidungserhebliche Gehörsverletzungen vor den Fachgerichten um Abhilfe nachzusuchen.[177] Dieser Verpflichtung ist der Gesetzgeber mit dem Anhörungsrügengesetz vom 9. Dezember 2004[178] nachgekommen, mit dem der Anwendungsbereich des § 33a StPO – der zuvor auf Fälle des § 33 Abs. 3 StPO beschränkt gewesen war – auf alle Gehörsverletzungen im Beschlussverfahren ausgeweitet wurde und daneben für das Revisionsverfahren eine eigenständige Rügemöglichkeit in § 356a StPO geschaffen wurde. Schon zuvor hatte mit § 311a StPO eine bereichsspezifische Regelung für das Beschwerdeverfahren bestanden, welche die nachträgliche Anhörung des Beschwerdegegners im Rahmen eines Nachverfahrens vorsieht.[179]

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Aus dem Gebot der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) ergibt sich für den Beschwerdeführer, dass die Beanstandung einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör mit der Verfassungsbeschwerde erst nach der erfolglosen Erhebung einer Anhörungsrüge vor den Fachgerichten möglich ist.[180] Unterlässt der Beschwerdeführer in einem solchen Fall die Erhebung einer Anhörungsrüge, obwohl diese statthaft und nicht offensichtlich unzulässig wäre, so wird die Verfassungsbeschwerde nicht nur in Bezug auf die behauptete Verletzung der Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG, sondern insgesamt unzulässig, sofern die mit der Verfassungsbeschwerde gerügten Grundrechtsverletzungen denselben Streitgegenstand[181] betreffen wie der geltend gemachte Gehörsverstoß.[182] Wird die Rüge einer Gehörsverletzung hingegen weder ausdrücklich noch der Sache nach zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht oder wird eine zunächst erhobene Rüge einer Gehörsverletzung wieder zurückgenommen, hängt die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Rechtswegerschöpfung nicht von der vorherigen Durchführung eines fachgerichtlichen Anhörungsrügeverfahrens ab.[183] Das BVerfG entnimmt der Regelung des § 90 Abs. 2 BVerfGG allerdings in ständiger Rechtsprechung einen über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinn hinausgehenden Subsidiaritätsgrundsatz, der besagt, „dass Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen (müssen), um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen“.[184] In konsequenter Anwendung dieses Subsidiaritätsgrundsatzes kann daher auch einem Beschwerdeführer, der mit seiner Verfassungsbeschwerde keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör rügen möchte, die Nichterhebung der Anhörungsrüge entgegengehalten werden, wenn bei deren Erfolg die Möglichkeit bestanden hätte, dass die Fachgerichte auch andere (nunmehr mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachte) Grundrechtsverletzungen beseitigt hätten.[185] In den in Rede stehenden Fällen soll die Erhebung einer Anhörungsrüge allerdings nach einer neueren Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG nur dann geboten sein, „wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten wäre, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden“.[186]

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Während unter Subsidiaritätsgesichtspunkten mithin auf die Perspektive eines „vernünftigen Verfahrensbeteiligten“ abzustellen und zu prüfen sein soll, ob die Annahme eines Gehörsverstoßes nahe lag, ist mit Blick auf das Gebot der Rechtswegerschöpfung auch weiterhin zu beachten, dass der Beschwerdeführer nicht auf die Einlegung völlig aussichtsloser bzw. offensichtlich unzulässiger Rechtsbehelfe verwiesen werden kann.[187] Die Kehrseite dieser in der Rechtsprechung des BVerfG seit langem gebräuchlichen Formel[188] liegt darin, dass die Einlegung eines aussichtslosen bzw. offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfs nicht fristwahrend im Hinblick auf die einmonatige Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) wirkt, wenn der Grund für die fehlende Erfolgsaussicht für den Beschwerdeführer erkennbar war.[189] Die danach erforderliche Beurteilung der Erfolgsaussichten aus der ex ante-Perspektive ist für den Beschwerdeführer mit einigen Schwierigkeiten verbunden; so hat dieser u.a. zu berücksichtigen, dass die Anhörungsrüge nach der neueren bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nur statthaft ist, wenn dem letztinstanzlich entscheidenden Gericht ein originärer Gehörsverstoß und nicht lediglich das Nichtbeheben eines vorinstanzlichen Gehörsverstoßes angelastet wird.[190] Auch darf der verfassungsrechtliche Anspruch, vor Gericht gehört zu werden, nicht mit einem Anspruch, erhört zu werden, verwechselt werden – eine Unterscheidung, die insbesondere juristischen Laien regelmäßig schwer fällt.[191] Als offensichtlich aussichtslos im vorerwähnten Sinn gilt die Anhörungsrüge schließlich auch, wenn der nach Ansicht des Beschwerdeführers übergangene Vortrag bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung, die die angefochtene Entscheidung trägt, offensichtlich nicht rechtlich erheblich war.[192]

 

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Die höchstrichterliche Rechtsprechung, die bei der Ausdifferenzierung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Rechtswegerschöpfung und der Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes in bedeutendem Maße auf unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgreift, belastet den Beschwerdeführer nach alldem mit dem Risiko einer unzutreffenden Einschätzung der Erfolgsaussichten der Anhörungsrüge; er steht vor dem Dilemma, mit seiner Verfassungsbeschwerde entweder wegen Verfristung oder wegen Subsidiarität abgewiesen zu werden.[193] Im Schrifttum wird als Ausweg ein zweigleisiges Vorgehen dergestalt empfohlen, dass neben der Anhörungsrüge innerhalb der Monatsfrist gem. § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG auch eine Verfassungsbeschwerde erhoben wird, in der auf die noch anhängige Anhörungsrüge verwiesen wird.[194]

III. Nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG)

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Nach Art. 103 Abs. 2 GG darf eine Person nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (vgl. auch § 1 StGB). Untergliedert wird diese Garantiefunktion des Strafrechts durch vier Aspekte: Davon umfasst ist zunächst das Bestimmtheitsgebot (nulla poena sine lege certa). Ergänzt wird dieses durch das Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege praevia), das Analogieverbot (nulla poena sine lege stricta) sowie das Verbot strafbegründenden oder strafschärfenden Gewohnheitsrechts (nulla poena sine lege scripta).[195] Die in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Garantiefunktion stellt eine Konkretisierung allgemeiner rechtsstaatlicher Anforderungen für den Bereich des Strafrechts dar;[196] sie soll den Bürger vor der willkürlichen Ausübung staatlicher Strafgewalt schützen[197] und diesem ermöglichen, zu erkennen, welche Handlungen strafrechtlich sanktioniert sind, damit er seine Tätigkeiten danach ausrichten kann.[198]

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Eine nähere Behandlung des Grundsatzes im vorliegenden Zusammenhang erübrigt sich, da ihm ausschließlich Anforderungen an die Ausgestaltung und Anwendung des materiellen Strafrechts zu entnehmen sind; für Vorschriften des Strafverfahrensrechts beansprucht er hingegen grundsätzlich keine Geltung.[199] Die Anforderungen an Normenklarheit und Tatbestandsbestimmtheit ergeben sich für diese Vorschriften aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).[200] Auch verfahrensrechtliche Regelungen können danach allerdings ihrer Bedeutung und ihres Gewichts wegen ausnahmsweise in gleichem Maße schutzwürdig sein wie die von Art. 103 Abs. 2 GG erfassten Positionen des materiellen Rechts.[201]

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Den Gegenstand eines durch den 2. Strafsenat des BGH initiierten Vorlageverfahrens vor dem Großen Senat für Strafsachen bildete die Frage, ob es sich bei dem richterrechtlich entwickelten Institut der echten Wahlfeststellung (oder auch: gesetzesalternativen Verurteilung, im konkreten Fall wegen gewerbsmäßig begangenen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei) lediglich um eine den Zweifelssatz einschränkende „prozessuale Entscheidungsregel“[202] handelt, die nicht an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen ist, oder (zumindest auch) um eine materiell-rechtliche Bestimmung der „Strafbarkeit“ i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG.[203] Mit Beschluss vom 8. Mai 2017 hat der Große Senat entschieden, dass die gesetzesalternative Verurteilung wegen (gewerbsmäßig begangenen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei entsprechend den zum Rechtsinstitut der Wahlfeststellung durch den BGH entwickelten Grundsätzen auch weiterhin zulässig ist.[204] Die gegen die anschließende Verwerfung der zugrunde liegenden Revisionen[205] gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde von der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen.[206] Die besseren Gründe hätten allerdings dafür gesprochen, mit dem 2. Strafsenat und Teilen des Schrifttums[207] einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG anzunehmen: Zunächst ist festzuhalten, dass die von der herrschenden Meinung zur Begründung angeführten Erwägungen materieller Gerechtigkeit und kriminalpolitischer Notwendigkeit prinzipiell ungeeignet sind, Abstriche bei der Bestimmung des Gewährleistungsgehaltes des (abwägungsfesten) Gesetzlichkeitsprinzips aus Art. 103 Abs. 2 GG zu rechtfertigen. Der Verfassungsgeber hat den in den hier in Rede stehenden Sachverhaltskonstellationen virulenten Konflikt zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit bereits eindeutig entschieden und einer Relativierung der von Verfassungs wegen zu beachtenden Anforderungen im Wege richterlicher Rechtsfortbildung eine Absage erteilt.[208] Die Lösung der damit aufgeworfenen Legitimitätsfrage ist mit Frister aus der Aufgabe staatlichen Strafens zu entwickeln, die mit der Theorie der positiven Generalprävention in der Wiederherstellung der durch die Straftat infrage gestellten Normgeltung zu sehen ist.[209] Für die Erfüllung dieser Aufgabe reicht jedoch die mit der gesetzesalternativen Verurteilung getroffene Feststellung, dass der Angeklagte irgendeine Norm verletzt habe, nicht aus; vielmehr bedarf es zur Symbolisierung der Normgeltung der Feststellung der Verletzung einer bestimmten Norm.[210] Indem die gesetzesalternative Verurteilung diese Konkretisierung schuldig bleibt, verfehlt sie mithin die Aufgabe staatlichen Strafens.

IV. Ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG)

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Nach Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden. Das potentielle Spannungsverhältnis zwischen den rechtsstaatlich verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit[211] wird durch den in Art. 103 Abs. 3 GG verkörperten Grundsatz „ne bis in idem“ zugunsten der Rechtssicherheit aufgelöst.[212] Der Einzelne soll davor bewahrt werden, sich nach einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Entscheidung erneut verantworten zu müssen.[213] Die Vorschrift bietet nach einhelliger Auffassung nicht nur Schutz vor Doppelbestrafung, sondern auch vor doppelter Strafverfolgung;[214] sie untersagt über ihren Wortlaut hinaus jede mehr als einmalige Strafverfolgungsmaßnahme und begründet das von Amts wegen zu beachtende Verfahrenshindernis des Strafklageverbrauchs.[215] Bei Art. 103 Abs. 3 GG handelt es sich demnach um eine prozedurale Garantie,[216] deren Anwendungsvoraussetzungen im vorliegenden Zusammenhang näher zu erörtern sind.

1. Begriff der Tat

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Eine erneute Strafverfolgung schließt Art. 103 Abs. 3 GG nur wegen „derselben Tat“ aus. Ausschlaggebend für die Einordnung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG „der geschichtliche Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll“; es soll auf den „nach natürlicher Auffassung zu beurteilenden einheitlichen Lebensvorgang“ abzustellen sein.[217] Das Gericht orientiert sich damit im Ausgangspunkt[218] am (vorkonstitutionell herausgebildeten[219]) strafprozessualen Tatbegriff, der auch den §§ 155, 264 StPO zugrunde liegt und nicht deckungsgleich mit dem materiell-rechtlichen Tatbegriff i.S.d. §§ 52, 53 StGB ist.[220]

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Die durch das BVerfG favorisierte natürliche Betrachtungsweise belässt naturgemäß Auslegungsspielräume, die Inkonsistenzen in der Rechtsprechung des Gerichts zum Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG begünstigt haben.[221] So soll beispielsweise die wiederholte Nichtbefolgung der Einberufung zum zivilen Ersatzdienst als „eine Tat“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG anzusehen sein, wenn ihr eine fortdauernde und ernsthafte, an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Gewissensentscheidung des Täters zugrunde lag.[222] In einem gewissen Kontrast zu dieser eher großzügigen Interpretation stehen Judikate, in denen der Tatbegriff tendenziell restriktiver ausgelegt wurde: Zur Annahme mehrerer prozessualer Taten gelangte das BVerfG etwa bzgl. der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) und der in Verfolgung der Ziele dieser Vereinigung verwirklichten Verbrechen (konkret: Mord bzw. Beihilfe zum Mord)[223] sowie bzgl. der wiederholten Entziehung der Kinder von der Schulpflicht (§ 182 Abs. 1 des Hessischen Schulgesetzes).[224] Nach Ansicht des Gerichts soll einerseits im Falle der Ersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen – trotz des Vorliegens von Tatmehrheit gem. § 53 StGB – „dieselbe Tat“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG anzunehmen sein; andererseits sollen beim Zusammentreffen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und der Verwirklichung von Verbrechenstatbeständen – ungeachtet der Annahme von Tateinheit gem. § 52 StGB[225] – mehrere Taten i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG gegeben sein.[226] Zur Rechtfertigung dieses mäandernden Kurses weist das BVerfG darauf hin, dass die Rechtsbegriffe der Tateinheit und der Tatidentität unterschiedliche Zwecke verfolgen: Während die §§ 52 ff. StGB die Bildung des Schuld- und Strafausspruches behandelten und auf das Ziel bestmöglicher Verwirklichung materieller Gerechtigkeit ausgerichtet seien, bezwecke der Begriff der Tatidentität i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG ausschließlich, die Grenzen der materiellen Rechtskraft abzustecken.[227] In der Entscheidung zur Ersatzdienstverweigerung konstatierte das Gericht darüber hinaus, die von Art. 103 Abs. 3 GG ausgehende Sperrwirkung sei nur erträglich, „wenn der Umfang des prozessualen Tatbegriffs nicht über jedes Maß hinaus ausgedehnt wird“.[228]

 

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Dass die Ablösung des verfassungsrechtlichen Tatbegriffes von den Wertungen des materiellen Rechts damit vor allem auf Gerechtigkeitserwägungen gestützt wird, erscheint bedenklich, wenn man sich erneut vor Augen führt, dass der Verfassungsgeber den allfälligen Konflikt zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit in Art. 103 Abs. 3 GG eindeutig und ausnahmslos zugunsten ersterer aufgelöst hat.[229] Ungeachtet dessen wurde die Asynchronität von Tateinheit und Tatidentität (sog. prozessrechtliche Lösung) in der Folgezeit von der fachgerichtlichen Rechtsprechung auch auf das Zusammentreffen von unerlaubtem Waffenbesitz und Kapitaldelikt übertragen,[230] bevor der BGH schließlich in derartigen Fällen zur Annahme von Tatmehrheit gem. § 53 StGB (und auf dieser Grundlage zur Bejahung zweier Taten im prozessualen Sinn) gelangte (sog. materiellrechtliche Lösung).[231] Mit Beschluss vom 9. Juli 2015 hat der 3. Strafsenat des BGH nunmehr für alle im Rahmen einer kriminellen Vereinigung erbrachten mitgliedschaftlichen Beteiligungsakte, die zugleich andere Strafgesetze verletzen, Tatmehrheit gem. § 53 StGB und (gleichlaufend) selbstständige prozessuale Taten angenommen.[232]