Handbuch des Strafrechts

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1. Abschnitt: Einordnung und Grundlagen › § 3 Prozessgrundrechte und ihre Bedeutung für das Strafverfahren

Michael Lindemann

§ 3 Prozessgrundrechte und ihre Bedeutung für das Strafverfahren

A.Einführung1

B.Die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) als „formelles Hauptgrundrecht“2 – 15

I.Der Begriff der „öffentlichen Gewalt“ i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG4 – 9

II.Richtervorbehalte und Handeln der Strafverfolgungsbehörden bei Gefahr im Verzug10 – 12

III.Rechtsschutz bei prozessualer Überholung13 – 15

C.Die Justizgrundrechte16 – 68

I.Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG)16 – 27

1.Bestimmtheitsgebot19 – 24

2.Sachlichkeitsgarantie25, 26

3.Pflicht zur Kompetenzbeachtung27

II.Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)28 – 39

1.Anwendungsbereich, Anspruchsberechtigte und Gewährleistungsgehalt29 – 32

2.Gehörsgewährung als Funktion der Beschuldigtenvernehmung33 – 35

3.Fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen letztinstanzliche Gehörsverletzungen36 – 39

III.Nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG)40 – 42

IV.Ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG)43 – 53

1.Begriff der Tat44 – 46

2.Sanktionen nach allgemeinen Strafgesetzen47 – 49

3.„Mehrfache Bestrafung“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG50, 51

4.Europarechtliche Dimension des Strafklageverbrauchs52, 53

V.Rechtsgarantien bei Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen (Art. 104 GG)54 – 68

1.Vorbehalt des förmlichen Gesetzes57, 58

2.Misshandlungsverbot59 – 62

3.Richtervorbehalt63 – 65

4.Benachrichtigungspflicht66

5.Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft67, 68

Ausgewählte Literatur

A. Einführung[1]

1

Neben den materiellen Grundrechten sowie den aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und den materiellen Grundrechten abgeleiteten Prozessmaximen, die im vorherigen Kapitel erörtert wurden, kennt das Grundgesetz eine Reihe sog. Prozess- bzw. Justizgrundrechte,[2] die sich am Ende des IX. Abschnittes über die Rechtsprechung finden (Art. 101 ff. GG). Von Bedeutung für das Strafverfahren sind das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG), der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), der Grundsatz „ne bis in idem“ (Art. 103 Abs. 3 GG) sowie die Rechtsgarantien bei Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen (Art. 104 GG). Hingegen kommt dem in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Grundsatz „nulla poena sine lege“ zentrale Bedeutung für das materielle Strafrecht zu. Vervollständigt wird der prozedurale Grundrechtsschutz durch die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG). Art. 101, 103 und 104 GG sind grundrechtsgleiche Rechte,[3] deren Verletzung – ebenso wie eine solche der Grundrechte, zu denen auch das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG gehört[4] – mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG).[5]

B. Die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) als „formelles Hauptgrundrecht“

2

Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm gem. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG der Rechtsweg offen. Die damit verbundene Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes gegen Akte der öffentlichen Gewalt gilt zu Recht als „wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaats“;[6] Art. 19 Abs. 4 GG wird daher auch als „formelles Hauptgrundrecht“ bezeichnet,[7] das nicht nur formal die Möglichkeit gewährleistet, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes gebietet.[8] Nach der Rechtsprechung des BVerfG hat der Bürger einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle. An der Verwirklichung dieses Anspruches hat der Gesetzgeber die Ausgestaltung des Rechtsweges auszurichten, und auch die Gerichte dürfen den Bürgern den Zugang zu den durch das Prozessrecht eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren.[9] Voraussetzung für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist weiter, dass die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen auf einer zureichenden Aufklärung des zugrunde liegenden Sachverhalts beruht.[10]

3

Aus der verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutzgarantie resultiert eine Verpflichtung der Gerichte, das Verfahrensrecht so anzuwenden, dass den erkennbaren Interessen des rechtsschutzsuchenden Bürgers bestmöglich Rechnung getragen wird.[11] Gleichwohl folgt aus dem Grundgesetz regelmäßig kein einklagbarer Anspruch auf die Strafverfolgung Dritter.[12] Ausnahmen von diesem Grundsatz werden mit dem Hinweis auf die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG begründet, die eine wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten gebiete.[13] So erkennt das BVerfG einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung in Fällen an, in denen „der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person – abzuwehren“, und in denen „ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann“.[14] Gleiches soll für Straftaten gegen Personen gelten, denen gegenüber der Staat (etwa aufgrund ihrer Inhaftierung im Strafvollzug oder der Unterbringung im Maßregelvollzug) besondere Fürsorge- und Obhutspflichten wahrzunehmen hat, sowie in Fällen, in denen der Vorwurf im Raume steht, ein Amtsträger habe in Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen.[15] Die (verfassungsrechtliche) Verpflichtung zu effektiver Strafverfolgung – deren Erfüllung der gerichtlichen Kontrolle gem. §§ 172 ff. StPO unterliegt – bezieht sich dann auf das Tätigwerden sämtlicher Strafverfolgungsorgane; diese haben „eine wirksame Anwendung der zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität, der sexuellen Selbstbestimmung und der Freiheit der Person erlassenen Strafvorschriften sicherzustellen“.[16]

 

I. Der Begriff der „öffentlichen Gewalt“ i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG

4

Da Art. 19 Abs. 4 GG lediglich unspezifisch von der „öffentlichen Gewalt“ spricht, besteht über seine genaue Reichweite Unklarheit. Öffentliche Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG ist zunächst nach tradiertem Verständnis ausschließlich die dem Grundgesetz unterworfene, inländische öffentliche Gewalt.[17] Außer Streit steht darüber hinaus, dass das Handeln der Exekutive der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG zuzuordnen ist.[18] Probleme können allerdings entstehen, wenn sich die Strafverfolgungsbehörden bei der Sachverhaltsaufklärung der Hilfe Privater bedienen. Die herrschende Meinung steht hier auf dem Standpunkt, dass das Handeln sog. agents provocateurs und V-Leute, die im Auftrag von Polizei und Staatsanwaltschaft tätig werden, dem Staat dann zuzurechnen ist, wenn die verdeckt ermittelnden Privatpersonen sich im Rahmen des ihnen erteilten Auftrages bewegen. Etwas anderes soll hingegen für Exzesse der in staatlichem Auftrag tätigen Ermittlungsgehilfen sowie für eigeninitiative Ermittlungen Privater gelten, die ihr Wissen den Strafverfolgungsbehörden als sog. Informanten zur Verfügung stellen.[19] Ausnahmsweise soll eine Zurechnung allerdings auch im letztgenannten Fall in Betracht kommen, wenn die besonderen Bedingungen der Untersuchungshaft zur Ausforschung eines Mithäftlings ausgenutzt wurden.[20]

5

Nach Ansicht des BVerfG begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Strafprozessordnung dem Beschuldigten grundsätzlich keinen Rechtsschutz gegen die Einleitung und Fortführung eines Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft gewährt.[21] Diese restriktive Position, die im Wesentlichen mit dem Hinweis auf den „regelmäßig weiterreichend(en) und umfassender(en)“ Rechtsschutz im Zwischen- und Hauptverfahren begründet wird, vermag angesichts des mit der Durchführung strafprozessualer Ermittlungen verbundenen, eigenständigen Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG – der weder durch die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens noch durch einen späteren Freispruch kompensiert werden kann – nicht zu überzeugen; der Gesetzgeber sollte daher die Schaffung eines Einstellungserzwingungsrechtsbehelfes in Erwägung ziehen.[22] Nach der Rechtsprechung des BVerfG unterliegen schließlich auch Gnadenentscheidungen der Exekutive keiner gerichtlichen Nachprüfung. In ihnen komme eine „Gestaltungsmacht besonderer Art“ zum Ausdruck; sie unterlägen daher „nicht den Sicherungen, den Gewaltenverschränkungen und -balancierungen [. . .], die gewährleisten sollen, daß Übergriffe der Exekutive durch Anrufung der Gerichte abgewehrt werden können“.[23]

6

Akte der Legislative werden von der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ebenfalls grundsätzlich nicht der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG zugeordnet. Begründet wird dies mit dem Hinweis auf den abschließenden Charakter der Vorschriften über die Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 4a, 100 Abs. 1 GG), welche die Überprüfung und Verwerfung von Gesetzen dem BVerfG vorbehalten.[24] Anderes soll für Rechtsakte der Exekutive (Verordnungen, Satzungen) gelten.[25] Demgegenüber befürwortet eine breite Strömung in der verfassungsrechtlichen Literatur die Einbeziehung auch der parlamentarischen Gesetzgebung in den Begriff der „öffentlichen Gewalt“.[26]

7

Obwohl auch die Gerichte nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden sind, zu denen Art. 19 Abs. 4 GG zählt, soll die Judikative nach überwiegender Ansicht nicht der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG zuzuordnen sein. In der Rechtsprechung des BVerfG wird dies regelmäßig mit der auf G. Dürig zurückgehenden Kurzformel zum Ausdruck gebracht, das Grundgesetz gewährleiste zwar den Rechtsschutz durch den Richter, nicht jedoch gegen den Richter.[27] Konsequenz dieser keineswegs unbestrittenen[28] Ansicht ist, dass Art. 19 Abs. 4 GG nicht die Eröffnung eines Instanzenzuges gebietet.[29] Dort, wo das Prozessrecht eine weitere Instanz eröffnet, soll Art. 19 Abs. 4 GG jedoch in dem gesetzlich vorgezeichneten Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleisten.[30] Das zur Entscheidung berufene Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ lassen.[31] Der Zugang zur Rechtsmittelinstanz darf nicht von Voraussetzungen abhängig gemacht werden, „die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist“;[32] Formerfordernisse dürfen nicht strenger ausgelegt werden, als dies durch ihren Zweck geboten ist.[33] Hieraus ergeben sich nach Ansicht des BVerfG allerdings keine grundsätzlichen Bedenken gegen die extensive Interpretation, welche die in § 344 Abs. 2 S. 2 StPO für die Verfahrensrüge (vgl. auch → StPO Bd. 7: Michael Lindemann, Materielle Grundrechtsgewährleistungen und ihre Bedeutung für das Strafverfahren, § 2 Rn. 39) oder in § 172 Abs. 3 S. 1 StPO für den Klageerzwingungsantrag normierten Darlegungsanforderungen durch die Fachgerichte erfahren haben.[34] Die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG wegen übersteigerter Darlegungsanforderungen bleibt danach Ausnahmefällen vorbehalten; so sollen beispielsweise die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen im Klageerzwingungsverfahren (erst) überschritten sein, wenn der Antragsteller „sich mit rechtlich Irrelevantem auseinandersetzen soll, wenn er sich Kenntnis von den Akten verschaffen soll, obwohl hierfür keine Veranlassung besteht, oder wenn er die staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen oder die Einlassungen des Beschuldigten auch in ihren irrelevanten Abschnitten oder gar zur Gänze wiedergeben soll, obwohl sich deren wesentlicher Inhalt aus der Antragsschrift ergibt.“[35]

8

Eine gewisse Kompensation der Herausnahme richterlicher Spruchtätigkeit aus dem Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG wird dadurch erreicht, dass der aus Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. den Freiheitsgrundrechten abgeleitete allgemeine Justizgewährungsanspruch Rechtsschutz auch in den von Art. 19 Abs. 4 GG nicht erfassten Fällen ermöglichen soll, soweit dies rechtsstaatlich geboten ist.[36] Nach Ansicht des BVerfG soll allerdings beispielsweise die Rechtsprechung des BGH zur sog. „Rügeverkümmerung“, gegen die im Schrifttum durchaus überzeugende Bedenken geäußert wurden,[37] mit der allgemeinen Rechtsschutzgarantie vereinbar sein.[38] Nach der Plenarentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2003 erstreckt sich der Gewährleistungsgehalt der allgemeinen Rechtsschutzgarantie insbesondere auf die Einhaltung der Verfahrensgrundrechte aus Art. 101 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG, da Verstöße durch die Fachgerichte ansonsten „ohne verfassungsrechtlich gesicherte Möglichkeit fachgerichtlicher Abhilfe“ blieben.[39] Im Hinblick auf Gehörsverletzungen folgt daraus nach Ansicht des Plenums eine Verpflichtung des Gesetzgebers, eine eigenständige gerichtliche Abhilfemöglichkeit vorzusehen.[40] Eine solche findet sich für den Strafprozess mittlerweile in den §§ 33a, 356a StPO (ausf. dazu Rn. 56 ff.).

9

Entnimmt man Art. 19 Abs. 4 GG mit einer überzeugend begründeten Literaturauffassung zumindest einen „sekundären Kontrollanspruch“ im Sinne eines Anspruchs auf effektive Überprüfung erstinstanzlicher Entscheidungen durch eine weitere richterliche Instanz,[41] so weckt vor allem der zweistufige Instanzenzug in Verfahren wegen besonders schwerwiegender Vorwürfe Bedenken im Hinblick auf die Einlösung dieses Anspruches. Eschelbach hat in diesem Zusammenhang zu Recht auf die unter Rechtsschutzgesichtspunkten prekäre Kumulation verschiedener Faktoren hingewiesen, zu denen u.a. Rechtsschutzdefizite im Ermittlungs- und Zwischenverfahren, die Reduktion der Strafkammerbesetzung außerhalb von Schwurgerichtssachen, die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung und Beschränkungen des revisionsgerichtlichen Rechtsschutzes zählen.[42]

II. Richtervorbehalte und Handeln der Strafverfolgungsbehörden bei Gefahr im Verzug

10

In Abweichung von der vorstehend (Rn. 7) skizzierten Grundposition werden Gerichte auch vom BVerfG dann der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG zugeordnet, „wenn sie außerhalb ihrer rechtsprechenden Tätigkeit auf Grund eines ausdrücklich normierten Richtervorbehalts tätig werden. In diesen Fällen handeln die Gerichte zwar in voller richterlicher Unabhängigkeit, aber nicht in ihrer typischen Funktion als neutrale Instanzen der Streitentscheidung. Vielmehr treffen sie Entscheidungen, die, auch soweit sie funktional Ausübung vollziehender Gewalt sind, im Interesse eines besonderen rechtsstaatlichen Schutzes nicht der Exekutive oder jedenfalls nicht ihr allein überlassen werden.“[43] Als prozedurale Schutzvorkehrungen sollen die in der Strafprozessordnung vorgesehenen Richtervorbehalte regelmäßig vor allem den Ausschluss rechtlichen Gehörs im Vorfeld der Anordnung von (heimlichen) Ermittlungsmaßnahmen kompensieren und gewährleisten, dass die Interessen des Betroffenen bei der Entscheidung über derartige Maßnahmen hinreichend berücksichtigt werden.[44] Hieraus ergeben sich Konsequenzen auch für die Ausgestaltung des richterlichen Bereitschaftsdienstes; dieser muss tagsüber – auch außerhalb der üblichen Dienststunden – uneingeschränkt erreichbar sein und nachts jedenfalls dann, wenn ein über den Ausnahmefall hinausgehender (konkreter) Bedarf besteht.[45] Die Rechtstatsachenforschung zeichnet allerdings ein eher ernüchterndes Bild von der Intensität, mit welcher die Ermittlungsrichter den ihnen (einfachgesetzlich, aber auch von Verfassungs wegen) zugewiesenen Prüfauftrag in der Rechtswirklichkeit wahrnehmen.[46]

 

11

Sehen die Strafverfolgungsbehörden wegen „Gefahr im Verzug“ von der vorherigen Befassung eines Richters ab und ordnen die Ermittlungsmaßnahme selbst an, so ergibt sich aus Art. 19 Abs. 4 GG i.V.m. dem betroffenen Freiheitsgrundrecht, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Eilkompetenz der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegen.[47] Der Begriff der „Gefahr im Verzug“ ist in diesem Zusammenhang restriktiv auszulegen, da dem Richtervorbehalt eine grundrechtssichernde Schutzfunktion zukommt und der Verzicht auf eine richterliche Anordnung die Ausnahme bilden sollte.[48] Gefahr im Verzug ist danach nur dann gegeben, wenn die vorherige Einholung der richterlichen Anordnung den Erfolg der Ermittlungsmaßnahme gefährden würde. Der Verzicht auf die Befassung des Ermittlungsrichters muss stets mit einzelfallbezogenen Tatsachen begründet werden und darf regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn die Strafverfolgungsbehörden bereits erfolglos versucht haben, eine richterliche Entscheidung herbeizuführen.[49] „Reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf kriminalistische Alltagserfahrung gestützte, fallunabhängige Vermutungen“ reichen zur Darlegung der Eilbedürftigkeit nicht aus.[50] Die Strafverfolgungsbehörden dürfen die Gefahr im Verzug auch nicht dadurch selbst herbeiführen, dass sie den Antrag an den Ermittlungsrichter so lange hinauszögern, bis die Gefahr eines Beweismittelverlustes eingetreten ist.[51] Wird der zuständige Ermittlungsrichter durch die Stellung eines Antrags auf Erlass einer Durchsuchungsanordnung mit der Sache befasst, so endet die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden; diese kann erst wieder aufleben, wenn sich nachträglich tatsächliche Umstände ergeben, die nicht auf die Prüfung des Falles durch den Ermittlungsrichter zurückgehen.[52] Ein Beweisverwertungsverbot stellt allerdings nach der – zu Recht kritisierten[53] – neueren Rechtsprechung des BVerfG „von Verfassungs wegen eine begründungsbedürftige Ausnahme dar“ (s.a. → StPO Bd. 7: Lindemann, § 2 Rn. 5, 27) und soll daher in den hier in Rede stehenden Fällen lediglich bei einer bewussten oder willkürlichen Missachtung des Richtervorbehalts in Betracht kommen.[54]

12

Für eine effektive ex post-Kontrolle von den Strafverfolgungsbehörden angeordneter Ermittlungsmaßnahmen sind die Gerichte auf eine möglichst umfassende Sachverhaltskenntnis angewiesen. Im Wege der Vorwirkung ergeben sich daher aus Art. 19 Abs. 4 GG Dokumentations- und Begründungspflichten für die handelnden Beamten; diese haben unter Bezeichnung des Tatverdachts und der gesuchten Beweismittel diejenigen Umstände darzulegen, auf die sie die Gefahr des Beweismittelverlusts stützen.[55] Nach der durch das BVerfG gebilligten fachgerichtlichen Rechtsprechung führt allerdings die fehlende Dokumentation allein nicht zu einem Beweisverwertungsverbot.[56]

III. Rechtsschutz bei prozessualer Überholung

13

Da eine vorherige Anhörung des Betroffenen den Zweck vieler strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen gefährden würde, sind diese regelmäßig bereits abgeschlossen, bevor sich der Betroffene gegen sie zur Wehr setzen kann.[57] Die höchstrichterliche Rechtsprechung stand gleichwohl lange auf dem Standpunkt, dass auf eine nachträgliche Überprüfung vollzogener Ermittlungsmaßnahmen gerichtete Beschwerden (§ 304 StPO) wegen prozessualer Überholung unzulässig seien.[58] Hiervon distanzierte sich der 2. Senat des BVerfG in einem Beschluss aus dem Jahr 1997, dem Verfassungsbeschwerden gegen die Versagung von Rechtsschutz in Fällen bereits vollzogener richterlicher Durchsuchungsanordnungen zugrunde lagen.[59] Nach der mit dieser Entscheidung begründeten ständigen Rechtsprechung des Gerichts ist es zwar mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar, die Befugnis zur Weiterverfolgung eines Rechtsschutzziels nach der Erledigung des Grundrechtseingriffes vom Bestehen eines besonderen Rechtsschutzbedürfnisses abhängig zu machen;[60] ein solches ist jedoch insbesondere in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe gegeben, die sich typischerweise erledigen, bevor der Betroffene präventiven Rechtsschutz erlangen kann.[61] Daneben kann sich das berechtigte Interesse an einer gerichtlichen Überprüfung bereits erledigter Ermittlungsmaßnahmen aus der Gefahr ihrer Wiederholung[62] oder aus einem Rehabilitationsinteresse aufgrund fortdauernder Diskriminierung ergeben (das freilich beim Beschuldigten regelmäßig mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer Rehabilitierung im weiteren Verlauf des Verfahrens verneint wird[63]). Als tiefgreifende Grundrechtseingriffe im vorerwähnten Sinn kommen vor allem unter Richtervorbehalt stehende Ermittlungsmaßnahmen in Frage; dies gilt insbesondere für die Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen, die schon von Verfassungs wegen (Art. 13 Abs. 2 GG) grundsätzlich das Vorliegen einer richterlichen Anordnung voraussetzt.[64]

14

Während eine Überprüfung richterlicher Anordnungen im Wege der Beschwerde gem. § 304 StPO erreicht werden kann, wird eine nachträgliche richterliche Kontrolle der Entscheidungen und des tatsächlichen Vorgehens von Beamten der Staatsanwaltschaft und des Polizeidienstes bei Ermittlungsmaßnahmen durch die (ggf. analog anzuwendende) Vorschrift des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO ermöglicht.[65] Wenngleich die (einfache) Beschwerde gem. § 304 StPO ebenso wie der Rechtsbehelf nach § 98 Abs. 2 S. 2 StPO keiner Frist unterliegt, kann das Rechtsschutzinteresse nach der Rechtsprechung des BVerfG entfallen, wenn die verspätete Erhebung des Rechtsbehelfs „gegen Treu und Glauben verstößt, etwa weil der Berechtigte sich verspätet auf das Recht beruft (Zeitmoment) und unter Verhältnissen untätig geblieben ist, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (Umstandsmoment).“[66]

15

Umstritten ist das Verhältnis der im Jahr 2008 in § 101 Abs. 7 S. 2 StPO geschaffenen Möglichkeit zur Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes gegen heimliche Ermittlungsmaßnahmen zu den vorstehend erörterten allgemeinen Rechtsbehelfen.[67] Die Frage ist deshalb nicht nur akademischer Natur, weil § 101 Abs. 7 S. 1 StPO Rechtsschutz einerseits großzügiger und andererseits unter strengeren Voraussetzungen als die allgemeinen Regeln gewährt: Die Vorschrift verzichtet auch in Fällen prozessualer Überholung auf die Darlegung eines besonderen Rechtsschutzbedürfnisses, setzt für den Antrag auf gerichtliche Überprüfung jedoch eine Frist von zwei Wochen, deren Lauf mit der Benachrichtigung des Betroffenen gem. § 101 Abs. 4 StPO beginnt. Teilweise wird vor diesem Hintergrund die Auffassung vertreten, dass es sich bei § 101 Abs. 7 S. 2 StPO lediglich um eine zusätzliche Rechtsschutzmöglichkeit handelt, welche die Zulässigkeit der allgemein statthaften Rechtsbehelfe unberührt lässt.[68] Da jedoch bei Anerkennung eines Wahlrechts die zweiwöchige Antragsfrist sowie die Ausgestaltung des Anschlussrechtsmittels als (ebenfalls fristgebundene) sofortige Beschwerde leer laufen würden, sprechen die besseren Gründe dafür, die Vorschrift mit der Gegenansicht in ihrem Anwendungsbereich als abschließende Sonderregelung des Rechtsschutzes gegen die in § 101 Abs. 7 StPO aufgeführten heimlichen Ermittlungsmaßnahmen einzuordnen, die insofern auch eine Sperrwirkung gegenüber den allgemeinen Rechtsbehelfen entfaltet.[69] Der Anwendungsbereich des § 101 Abs. 7 S. 2 StPO ist jedoch nach zutreffender Ansicht auf die Gewährung nachträglichen Rechtsschutzes beschränkt (vgl. auch § 101 Abs. 4 S. 2 StPO); die Sperrwirkung greift daher nicht in Fällen, in denen der Betroffene noch vor dem Abschluss der Ermittlungsmaßnahme Kenntnis von dritter Seite erlangt und Antrag auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme oder der Art und Weise ihres Vollzuges stellt.[70]