Handbuch des Strafrechts

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C. Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und den materiellen Grundrechten abgeleitete Prozessmaximen

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Aus einer Zusammenschau des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) und verschiedener materieller Grundrechte leitet das BVerfG eine Reihe verfassungsrechtlich fundierter Prozessmaximen ab, die gleichsam eine „Zwischendecke“[201] zwischen den Ebenen des spezifischen Verfassungsrechts und des einfachen Gesetzesrechts bilden und den durch die materiellen Grundrechte, die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) sowie die Justizgrundrechte (Art. 101 ff. GG) gewährleisteten Schutz gegen hoheitliche Eingriffe auf einer „mittleren Abstraktionshöhe“[202] vervollständigen. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Maximen ihre Grundlage zumindest auch im objektiv-rechtlich geprägten Rechtsstaatsprinzip finden,[203] ist anerkannt, dass der Beschuldigte einen subjektiv-rechtlichen Anspruch auf ihre Beachtung hat;[204] sie sind vom Gesetzgeber bei der Konkretisierung des Verfassungsrechts und von den Gerichten bei der Auslegung und Anwendung bereits existierender gesetzlicher Normen zu berücksichtigen.[205] Durch die Anerkennung der Prozessmaximen schließt das BVerfG nicht zuletzt jene Lücke, die das deutsche Grundgesetz im Vergleich zur EMRK und deren Interpretation durch den EGMR im Bereich der prozeduralen Garantien aufweist.[206]

I. Recht auf ein faires Verfahren

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Das Recht auf ein faires Verfahren soll sicherstellen, dass dem Angeklagten ein „Mindestbestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen“[207] zur Verfügung steht; es gewährleistet dem Betroffenen, „prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde wahrnehmen und Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können“.[208] Aus dem Fairnessgrundsatz hat das BVerfG des Weiteren die Forderung nach der Gewährleistung einer gewissen „Waffengleichheit“ von Strafverfolgungsbehörden und Beschuldigtem im Strafprozess abgeleitet,[209] diese jedoch sogleich dahingehend relativiert, dass nicht alle verfahrensspezifischen Unterschiede in der Rollenverteilung ausgeglichen werden müssten.[210] Selbst wenn man die Umsetzungschancen des Konzeptes der „Waffengleichheit“ unter den durch Macht- und Informationsasymmetrien sowie unterschiedliche Rollenzuweisungen geprägten Bedingungen des Strafprozesses eher zurückhaltend beurteilt, erscheint eine stärkere Beachtung vor allem im traditionell durch die Strafverfolgungsbehörden dominierten Ermittlungsverfahren durchaus wünschenswert.[211]

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Während das Recht auf ein faires Verfahren in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ausdrücklich normiert ist, findet es im deutschen Grundgesetz keine explizite Erwähnung. Nach der Rechtsprechung des BVerfG wurzelt es im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und in Art. 2 Abs. 1 GG; darüber hinaus werden Verbindungen zu den verfahrenstypischen Bedrohungen des Rechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) sowie zur Menschenwürdegarantie aufgezeigt.[212] Am Recht auf ein faires Verfahren werden Beschränkungen Verfahrensbeteiligter gemessen, die von den speziellen Gewährleistungen nicht erfasst werden.[213] Dabei hebt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung hervor, dass dem Fairnessgrundsatz keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote zu entnehmen sind; vielmehr sei seine Konkretisierung Aufgabe des Gesetzgebers und – in den vom Gesetz gezogenen Grenzen – auch der mit der Rechtsauslegung und -anwendung betrauten Gerichte.[214] Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nimmt das Gericht erst an, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte – ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben worden ist.[215] Dass im Rahmen dieser Gesamtschau nach Ansicht des BVerfG die „Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege“ eine Art Gegenpol zu den Rechten des Beschuldigten bilden sollen,[216] wurde bereits im Rahmen der Einführung (Rn. 4) kritisiert.

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Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist beispielsweise das Recht auf eine vertrauliche Kommunikation zwischen dem Strafverteidiger und seinem Mandanten im Recht auf ein faires Verfahren verankert. Danach dürfen Mandanten nicht durch die Gefahr eines unbeschränkten Informationszugriffs der Strafverfolgungsbehörden an einer offenen, rückhaltlosen und vertrauensvollen Kommunikation mit ihren Verteidigern gehindert werden.[217] Eine Verletzung des Fairnessgrundsatzes liegt nach Ansicht des Gerichtes auch vor, wenn eine Verfahrensverbindung dazu führt, dass der Beschuldigte im Hinblick auf das Verbot der Mehrfachverteidigung den Verteidiger seines Vertrauens verliert.[218] Aus dem Recht auf ein faires Verfahren (und nicht aus dem als weniger sachnah bewerteten allgemeinen Willkürverbot) leitet das BVerfG darüber hinaus auch verfassungsrechtliche Anforderungen an die strafrichterliche Sachaufklärung und Beweiswürdigung her;[219] Gleiches gilt für das Recht des Angeklagten, durch die Stellung von Beweisanträgen aktiv an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken.[220] Eine Verständigung i.S.d. § 257c StPO ist regelmäßig nur dann mit dem Fairnessgrundsatz zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen nach § 257c Abs. 5 StPO über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist.[221] Einem Rückgriff des Tatgerichts auf das Beweismittel des Zeugen vom „Hörensagen“ soll das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren hingegen nicht grundsätzlich entgegenstehen; es gelten jedoch besonders strenge Anforderungen an die Beweiswürdigung und an die Begründung der tatrichterlichen Entscheidung.[222] Die Billigung des BVerfG haben auch die in der Rechtsprechung des BGH entwickelten Leitlinien zum Konfrontationsrecht des Beschuldigten und zur Verwertbarkeit nicht konfrontierter Aussagen von Belastungszeugen bei der Urteilsfindung gefunden.[223]

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Noch nicht abschließend geklärt ist, wie sich das Recht auf ein faires Verfahren auf die Folgen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation auswirkt.[224] Fraglich ist vor allem, wie mit Erkenntnissen umgegangen werden soll, die im Rahmen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation[225] gewonnen wurden. Der BGH vertrat in der Vergangenheit mit Billigung des BVerfG[226] die sog. Strafzumessungslösung, nach welcher die rechtsstaatswidrige Tatprovokation lediglich bei der Rechtsfolgenbestimmung zu berücksichtigen ist.[227] In der Entscheidung zur Rechtssache Furcht gegen Deutschland aus dem Jahr 2014 konstatierte jedoch der EGMR, der schon in der Vergangenheit in vergleichbaren Fällen die Annahme eines umfassenden Beweisverwertungsverbotes favorisiert hatte,[228] dass die Vorgehensweise der deutschen Gerichte dem in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK garantierten Recht auf ein faires Verfahren nicht gerecht werde und daher konventionswidrig sei.[229] Auch das Schrifttum kritisiert seit längerem die Haltung von BGH und BVerfG.[230] Der 2. Strafsenat des BGH hat die Forderung des EGMR in einer Entscheidung aus dem Jahr 2015 aufgegriffen, dabei jedoch hervorgehoben, dass ein umfassendes Beweisverwertungsverbot i.S.d. Rechtsprechung des EGMR in Widerspruch zu grundlegenden Wertungen des deutschen Strafrechtssystems – das insbesondere keine Fernwirkung anerkennt[231] – geraten würde. Stattdessen sei in Fällen rechtsstaatswidriger Tatprovokation regelmäßig ein Verfahrenshindernis anzunehmen.[232] Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Rechtsprechungswandel auch bei den anderen Senaten durchsetzen wird.

II. Prozessuale Fürsorgepflicht der Gerichte und Strafverfolgungsbehörden

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Es ist allgemein anerkannt, dass auch das Gericht in Strafsachen eine prozessuale Fürsorgepflicht gegenüber den Verfahrensbeteiligten trifft, denen eine sachgerechte Wahrnehmung ihrer prozessualen Befugnisse zu ermöglichen ist.[233] Zur Begründung wird neben dem Fairnessgrundsatz[234] auch auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG)[235] rekurriert; dabei gilt das Verhältnis des Fürsorgegrundsatzes zum Recht auf ein faires Verfahren nach wie vor als unklar.[236] Nach Ansicht von Roxin und Schünemann bildet die prozessuale Fürsorgepflicht „das wichtigste Regulativ für eine fair gehandhabte Inquisitionsmaxime“.[237] Die Pflicht besteht nicht nur gegenüber dem Beschuldigten, sondern auch gegenüber anderen Verfahrensbeteiligten wie z.B. Zeugen;[238] sie bindet neben dem Gericht auch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren.[239]

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Bedeutsame einfachgesetzliche Konkretisierungen der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichtes finden sich in den Hinweispflichten (§ 265 Abs. 1 und 2 StPO) sowie in der Pflicht, den Verfahrensbeteiligten eine angemessene Vorbereitung auf eine veränderte Sachlage zu gewähren (§§ 145 Abs. 3, 265 Abs. 3 und 4 StPO).[240] Im Privatklageverfahren hat das Gericht die Objektivität der Verhandlungsführung zu gewährleisten; es hat Benachteiligungen des Privatbeklagten entgegenzuwirken[241] und muss gerade dann in besonderem Maße auf Ausgleich bedacht sein, wenn nur auf einer Seite ein Rechtsbeistand auftritt.[242] Aus der prozessualen Fürsorgepflicht ergibt sich des Weiteren eine Pflicht der Gerichte, im Falle offensichtlicher eigener Unzuständigkeit den fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Hingegen besteht keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit für eine Rechtsmittelschrift bei deren Eingang.[243] Keine Grundlage bildet die prozessuale Fürsorgepflicht für aufgedrängte Fürsorge: So können etwa Eingriffe in das Verteidigungsverhältnis nicht mit dem Fürsorgegedanken gerechtfertigt werden.[244]

 

III. Schuldgrundsatz

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Das deutsche Strafrecht wird auch als „Schuldstrafrecht“ bezeichnet, da es maßgeblich durch den Schuldgrundsatz (nulla poena sine culpa) geprägt wird.[245] Die Schuld bildet neben der Tatbestandsmäßigkeit und der Rechtswidrigkeit die dritte Wertungsstufe für strafrechtlich relevantes Verhalten; ihr kommt jedoch nicht nur strafbegründende, sondern auch straflimitierende Funktion – im Sinne einer Begrenzung des Umfangs der Bestrafung – zu.[246] Nach der Rechtsprechung des BVerfG setzt der Schuldgrundsatz „die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann“. Danach liegt dem in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten Menschenwürdeschutz „die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten“.[247] In der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wird dem Schuldgrundsatz mithin Verfassungsrang zuerkannt; seine Wurzeln werden in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) sowie im Rechtsstaatsprinzip gesehen.[248] Aufgrund seiner partiellen Fundierung in Art. 1 Abs. 1 GG gehört der Schuldgrundsatz schließlich auch zu der durch Art. 79 Abs. 3 GG für unverfügbar erklärten Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.[249] Der Schuldgrundsatz ist daher auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verurteilten ergangenen Strafurteils zu wahren.[250]

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Während die primäre Bedeutung des Schuldgrundsatzes im Bereich des materiellen Rechts liegt, entnimmt das BVerfG ihm auch Anforderungen an die Ermittlung des Sachverhalts.[251] Mit Blick auf die Ausgestaltung verfahrensbeendender Absprachen schließt es das Schuldprinzip etwa aus, die Wahrheitserforschung, die rechtliche Subsumtion oder die Strafzumessung zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen. Staatsanwaltschaft und Gericht dürfen sich nicht auf einen „Vergleich“ im Gewande des Urteils, auf einen „Handel mit der Gerechtigkeit“ einlassen.[252] Bedauerlicherweise hat das Gericht die durch den von ihm beauftragten Sachverständigen Altenhain aufgezeigten Defizite in der Anwendungspraxis des § 257c StPO[253] nicht zum Anlass genommen, den Gesetzgeber zu einer grundlegenden Reform der rechtlichen Rahmenbedingungen konsensbedingt abgekürzter Verfahren aufzufordern.[254]

IV. Unschuldsvermutung

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Die Unschuldsvermutung findet im Grundgesetz[255] keine grundsätzliche und ausdrückliche Erwähnung; sie ist lediglich einfachrechtlich in Art. 6 Abs. 2 EMRK sowie in Art. 14 Abs. 2 IPpbR im Rang eines Bundesgesetzes normiert. Die Rechtsprechung des BVerfG billigt der Unschuldsvermutung gleichwohl Verfassungsrang zu und sieht in ihr eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG);[256] darüber hinaus werden Verbindungslinien zum Grundsatz des fairen Verfahrens und zur Menschenwürdegarantie gezogen.[257] Zur Begründung des zu der objektiv-rechtsstaatlichen Dimension hinzutretenden subjektiv-grundrechtlichen Charakters der Unschuldsvermutung greift das Gericht zusätzlich auf Art. 2 Abs. 1 GG zurück.[258] Da die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR als Auslegungshilfen bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind,[259] lässt sich der Inhalt der Unschuldsvermutung in Anlehnung an den Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EMRK dahingehend konkretisieren, dass jede Person, die einer Straftat beschuldigt wird, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig gilt und entsprechend zu behandeln ist.[260] Damit wird zunächst deutlich, dass die Unschuldsvermutung eine zeitliche Dimension aufweist, die wiederum eng mit dem im vorangegangenen Abschnitt erörterten Prinzip verknüpft ist, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf. Ein „gesetzlicher Nachweis der Schuld“ i.S.d. Art. 6 Abs. 2 EMRK ist überdies nur möglich, wenn dem Beschuldigten ein justizförmig geordnetes Verfahren gewährt wird, in dem die Wahrung seiner Grundrechte wirksam sichergestellt wird.[261] Zugleich wird der Gehalt der Unschuldsvermutung als Abwehrrecht des Beschuldigten betont, dem das Recht zusteht, sich in einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren gegen die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu verteidigen.[262] Berührungspunkte weist die Unschuldsvermutung auch zum Zweifelssatz („in dubio pro reo“) auf, der jedoch – anders als die Unschuldsvermutung – nicht auf das gesamte Strafverfahren ausstrahlt, sondern erst nach dem Abschluss der tatrichterlichen Beweiswürdigung zur Anwendung gelangt.[263] Mit dem vorstehend skizzierten Charakter eines das gesamte Strafverfahren prägenden Ordnungsprinzips ist es im Übrigen nicht vereinbar, Relativierungen des Geltungsgrades in Abhängigkeit von der Schwere des Tatverdachts zuzulassen[264] – die Unschuldsvermutung ist stets und in vollem Umfang zu beachten, solange der staatliche Strafanspruch noch nicht durch die rechtskräftige Feststellung der Täterschaft entstanden ist.[265] Ihre Geltung endet erst mit dem Eintritt der Rechtskraft der Verurteilung.[266]

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Nach einer in der Rechtsprechung des BVerfG gebräuchlichen Formulierung schützt die Unschuldsvermutung den Beschuldigten vor Nachteilen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches prozessordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung vorausgegangen ist.[267] Darüber hinaus weist das Gericht darauf hin, dass die Unschuldsvermutung den rechtskräftigen Nachweis der Schuld verlangt, bevor dem Verurteilten diese im Rechtsverkehr wirksam entgegen gehalten werden darf.[268] Jenseits dieser eher allgemein gehaltenen Aussagen ist die inhaltliche Bedeutung der Unschuldsvermutung für das Strafverfahren allerdings nach wie vor umstritten.[269] Überzeugend ist es, ihr eine „normative Grenze der Belastbarkeit des Beschuldigten“[270] zu entnehmen, deren Verlauf deutlich wird, wenn man sich vor Augen führt, dass die verfahrensbezogenen Eingriffe auch gegenüber dem später rechtskräftig Freigesprochenen zu legitimieren sein müssen. Sie dürfen „nur soweit gehen und müssen so ausgestaltet sein, dass man sie gegenüber einem Verdächtigen, der in Wahrheit unschuldig ist, noch verantworten kann.“[271]

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Konsequenzen ergeben sich aus einer so verstandenen Unschuldsvermutung beispielsweise für die Öffentlichkeitsarbeit der Strafverfolgungsbehörden,[272] die vor allem in Verfahren mit politischem Hintergrund sowie in Korruptions- und Wirtschaftsstrafverfahren zunehmend offensiv und proaktiv verläuft und nicht selten zu einer frühzeitigen Bloßstellung und Vorverurteilung des Beschuldigten in der Öffentlichkeit führt.[273] Bei der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und Grenzen der Zusammenarbeit zwischen Strafverfolgungsbehörden und Presseorganen ist die dreipolige Struktur der durch entsprechende Kontakte tangierten Rechtsbeziehungen zu berücksichtigen: Während das Verhältnis zwischen den Strafverfolgungsbehörden und dem Beschuldigten insofern klassisch-abwehrrechtlich geprägt ist, als die Herausgabe von Informationen hier an der Unschuldsvermutung und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) zu messen ist,[274] gelangt im Verhältnis zwischen den Strafverfolgungsbehörden und den Medien die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) in ihrer Leistungsdimension zur Anwendung.[275] Führt man sich vor Augen, dass viele Strafverfahren heute bereits vor Erreichen der Hauptverhandlung im Wege der §§ 153a, 407 ff. StPO erledigt werden, und dass auch in den übrigen Verfahren die im Ermittlungsverfahren gewonnenen Erkenntnisse häufig verfahrensdeterminierende Wirkung entfalten,[276] so liegt es nahe, das Wächteramt der Medien ausdrücklich auch auf diesen Verfahrensabschnitt und nicht erst auf das Geschehen in der öffentlichen Hauptverhandlung[277] zu beziehen; dies bringt es jedoch mit sich, dass die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich auch schon im Ermittlungsverfahren befugt sein müssen, Informationen zum Verfahrensstand an Vertreter der Medien herauszugeben.[278] Aus der angesprochenen Dreipoligkeit der Rechtsbeziehungen resultiert jedoch eine Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden zu möglichst grundrechtsschonendem Vorgehen: Sobald relevante Informationen in die Hände der Medien und damit in die Öffentlichkeit gelangen, besteht die Gefahr der Entwicklung einer Eigendynamik, die dazu führen kann, dass sich der Beschuldigte irreversibel und unabhängig von einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens mit einem Schuldvorwurf in der Öffentlichkeit konfrontiert sieht.[279] Die Strafverfolgungsbehörden haben daher nicht nur eine einseitige Überbetonung von Verdachtsmomenten und den Gebrauch von Formulierungen zu vermeiden, die eine Schuld des nicht rechtskräftig Verurteilten auch nur nahelegen,[280] sondern auch besondere Zurückhaltung bei der Offenlegung der Identität des Beschuldigten zu üben.[281] Der Subjektstatus des Beschuldigten gebietet darüber hinaus, diesem durch eine frühzeitige Information über eine bevorstehende (identifizierende) Presseerklärung die Gelegenheit einzuräumen, zu den von den Strafverfolgungsbehörden geplanten Ausführungen Stellung zu nehmen.[282] Medienkontakte ziehen schließlich eine Folgeverantwortung der Strafverfolgungsbehörden nach sich, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Behörden unzutreffender oder vorverurteilender Berichterstattung, die unter Bezugnahme auf das im Gespräch Mitgeteilte erfolgt, öffentlich entgegenzutreten haben.[283]

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Besondere Bedeutung kommt der Unschuldsvermutung naturgemäß auch für die Untersuchungshaft zu, bei der es sich um die wohl einschneidendste unter den verfahrenssichernden Maßnahmen handelt.[284] Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft, die durch die Freiheitsrechte des Betroffenen, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Unschuldsvermutung geprägt werden,[285] sind Gegenstand eines eigenen Abschnittes im Kapitel über die Prozessgrundrechte (vgl. → StPO Bd. 7: Lindemann, § 3 Rn. 67 f.). An dieser Stelle soll daher ausschließlich auf Implikationen der Unschuldsvermutung für die Ausgestaltung des (einfachgesetzlichen) Rechts der Untersuchungshaft eingegangen werden.[286] Im strafprozessualen Schrifttum ist die Unschuldsvermutung vor allem gegen die in den §§ 112 f. StPO normierten Haftgründe ins Feld geführt worden. So ist beispielsweise die mangelnde Bestimmtheit des Haftgrundes der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) kritisiert worden, die einen Missbrauch zur Kaschierung sog. „apokrypher Haftgründe“– wie etwa der Hoffnung auf die Erlangung eines Geständnisses des Beschuldigten unter dem Eindruck der Haftbedingungen[287] – ermögliche.[288] Die Forderung nach einer Abschaffung des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) hat Frister damit begründet, dass dieser die Anordnung der Untersuchungshaft ausschließlich gegenüber dem Beschuldigten, nicht jedoch gegenüber nichtverdächtigen Dritten ermöglicht, die der Vornahme von Verdunkelungshandlungen verdächtig sind. Diese Differenzierung sei mit dem aus der Unschuldsvermutung folgenden Benachteiligungsverbot nicht vereinbar.[289] Kritik hat schließlich auch der Haftgrund der Wiederholungsgefahr auf sich gezogen, der aufgrund seiner ausschließlich präventiv-polizeilichen Zielsetzung einen Fremdkörper im Recht der Untersuchungshaft bildet und sowohl in seinem retrospektiven als auch in seinem prognostischen Element letztlich an einen unbewiesenen Verdacht anknüpft.[290] Das BVerfG hat jedoch die Vorschrift des § 112a StPO trotz dieser Bedenken für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt.[291]

 

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Einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung hat das BVerfG darin gesehen, dass das Tatgericht bei einer Einstellung des Privatklageverfahrens nach § 383 Abs. 2 StPO in den Gründen des Einstellungsbeschlusses von der Schuld des Beschuldigten ausgegangen war, ohne dass zuvor die Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden wäre.[292] Unbedenklich sei hingegen die Feststellung der geringen Schuld i.S.d. § 383 Abs. 2 StPO in einer Einstellungsentscheidung, wenn die Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife gelangt sei.[293] Nach der Rechtsprechung des BVerfG schließt es die Unschuldsvermutung ebenfalls nicht aus, im Falle einer Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen (§ 153 StPO, § 45 JGG) oder wegen des Vorliegens eines Verfahrenshindernisses einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten und diesen bei der Kostenentscheidung nach § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 bzw. Abs. 4 StPO zu berücksichtigen.[294] In der Begründung muss dann allerdings deutlich gemacht werden, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung oder -zuweisung, sondern lediglich um die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage handelt.[295] Aus einem Einstellungsbeschluss nach § 153a Abs. 2 StPO und der in diesem Zusammenhang abgegebenen Zustimmungserklärung des Beschuldigten darf schließlich in einem im Anschluss an die Verfahrenseinstellung durchgeführten Verwaltungsverfahren (etwa wegen der Entziehung der Approbation als Arzt) nicht geschlossen werden, dass die dem Beschuldigten in der Anklageschrift zur Last gelegte Tat diesem nachgewiesen worden wäre.[296] Die Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 2 StPO steht allerdings einer eigenständigen Bewertung der im Strafverfahren gewonnenen Erkenntnisse durch Verwaltungsbehörden und Gerichte nicht entgegen.[297]