Handbuch des Strafrechts

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa
I. Freiheitsrechte

1. Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG)

9

Die Rechtsprechung des BVerfG ordnet die in Art. 1 Abs. 1 GG für unantastbar erklärte Menschenwürde als „tragendes Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes und oberste(n) Verfassungswert“ ein.[46] Danach ist mit der Menschenwürde der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen geschützt und Art. 1 Abs. 1 GG das Verbot zu entnehmen, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, durch welche seine Subjektqualität prinzipiell in Frage gestellt wird.[47] Für die Strafrechtspflege ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG insbesondere ein Verbot grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Strafen.[48] Der Täter darf nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung gemacht werden.[49] Darüber hinaus findet die Menschenwürdegarantie auch bei der Herleitung einiger der bereits erwähnten „Prinzipien mittlerer Abstraktionshöhe“ durch das BVerfG Erwähnung.[50] So hat das Gericht beispielsweise den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit als „notwendige(n) Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung“ bezeichnet.[51] Der Schuldgrundsatz wird ebenfalls maßgeblich auf die Menschenwürdegarantie zurückgeführt,[52] und auch das „prozessuale Urrecht“[53] des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gilt verbreitet als Ausprägung des Achtungsanspruchs aus Art. 1 Abs. 1 GG.[54]

10

Konkrete Bedeutung hat die Menschenwürdegarantie in der grundlegenden Entscheidung des BVerfG zur lebenslangen Freiheitsstrafe erlangt, in der das Gericht es für unvereinbar mit Art. 1 Abs. 1 GG erklärt hat, einen „Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne daß zumindest die Chance für ihn besteht, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können“.[55] Zur Begründung führte das Gericht aus, die Forderung nach Resozialisierung auch des in schwerwiegende Delikte verstrickten Rechtsbrechers entspreche verfassungsrechtlich dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, welche die Menschenwürde in den Mittelpunkt stelle und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet sei[56] – der in den Strafvollzugsgesetzen der Länder auch einfachrechtlich normierte Resozialisierungsauftrag[57] ist damit gleichermaßen Gegenstand eines subjektiven Rechts des Strafgefangenen wie Ausdruck eines objektiven Verfassungsgebots.[58] Aus dem Vorstehenden leitet das BVerfG eine Pflicht des Staates ab, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die für eine möglichst effektive Wiedereingliederung des verurteilten Straftäters in die Gesellschaft nach Verbüßung seiner Strafe erforderlich sind.[59] In der Kammerrechtsprechung des Gerichts ist in diesem Zusammenhang mahnend hervorgehoben worden, dass „verfassungsrechtliche Anforderungen [. . .] nicht nur nach Maßgabe dessen (gelten), was an Verwaltungs- oder Justizeinrichtungen tatsächlich oder üblicherweise vorhanden ist“.[60]

11

Im Erkenntnisverfahren haben die Strafverfolgungsbehörden bei der Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen die besonderen Anforderungen an den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu beachten, die sich nach der Rechtsprechung des BVerfG aus den jeweils betroffenen Grundrechten i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ergeben. Der hierdurch entstehende Kernbereichsschutz ist absolut; selbst überragende Interessen der Allgemeinheit vermögen einen Eingriff in den absolut geschützten Bereich privater Lebensgestaltung nicht zu rechtfertigen.[61] Für den Gesetzgeber ergibt sich aus dem Gesagten eine Pflicht zur Schaffung gesetzlicher Regelungen, die einen wirksamen Schutz gegen die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten gewährleisten; dabei sind erstens auf der Ebene der Datenerhebung Vorkehrungen gegen eine unbeabsichtigte Miterfassung von Kernbereichsinformationen zu treffen und zweitens auf der Ebene der nachgelagerten Auswertung und Verwertung die Folgen eines ungeachtet der getroffenen Schutzvorkehrungen erfolgten Kernbereichseingriffes zu minimieren (vgl. hierzu die einfachgesetzliche Regelung in § 100d StPO).[62] Eine nicht unerhebliche Relativierung erhält das skizzierte Schutzkonzept allerdings dadurch, dass das BVerfG die Kernbereichszugehörigkeit solcher Gesprächsinhalte verneint, die unmittelbar Straftaten zum Gegenstand haben (und damit in besonderem Maße das Interesse der Strafverfolgungsbehörden wecken dürften; vgl. auch Rn. 36).[63] Etwas anderes soll nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung allerdings für Selbstgespräche gelten, die auch ungeachtet eines Straftatbezuges stets dem absolut geschützten Kernbereich zugeordnet werden.[64] Im Übrigen gilt insbesondere § 136a StPO als einfachgesetzliche Ausprägung des Art. 1 Abs. 1 GG,[65] wenngleich nicht alle in der Vorschrift aufgeführten Vernehmungsmethoden einen Menschenwürdeverstoß begründen.[66]

2. Spezielle freiheitsrechtliche Gewährleistungen

a) Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG)

12

Das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verbürgte Recht auf körperliche Unversehrtheit wird im Strafverfahren naturgemäß vor allem durch körperliche Untersuchungen tangiert.[67] Streitbefangen sind hier insbesondere die Reichweite der in § 81a StPO normierten Rechtsgrundlage für körperliche Untersuchungen des Beschuldigten sowie die Verhältnismäßigkeit konkreter Eingriffsmaßnahmen. Das BVerfG hatte beispielsweise keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, § 81a StPO „dahin auszulegen, daß er die Rechtsgrundlage für die zwangsweise Veränderung der Haartracht und Barttracht eines Beschuldigten – bis hin zu Eingriffen in die Substanz seiner Haartracht und Barttracht – zum Zwecke seiner Identifizierung bildet“.[68] Dem ist mit Grünwald[69] zu widersprechen: Weder kann der Veränderung der Haar- und Barttracht die Eigenschaft als körperlicher Eingriff abgesprochen werden,[70] noch lässt sich der Vorschrift des § 81a StPO – die nach ihrem Wortlaut körperliche Untersuchungen regelt – eine Rechtsgrundlage für die Durchführung gänzlich anders gearteter Eingriffsmaßnahmen entnehmen.[71]

13

Umstritten ist auch die Zulässigkeit der Entnahme von Gehirn- oder Rückenmarksflüssigkeit (sog. Liquorentnahme) zur Feststellung von Erkrankungen des Zentralnervensystems. Der Eingriff gilt zwar bei einer Durchführung nach den Regeln der ärztlichen Kunst als ungefährlich,[72] zieht jedoch regelmäßig „Befindlichkeitsstörungen wie Übelkeit, Kopfschmerzen und andere Störungen des Allgemeinbefindens von kürzerer oder längerer Dauer“[73] nach sich. Die h.M. verlangt daher zu Recht das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts wegen einer schweren Straftat.[74] Gleiches soll für die zur Ermöglichung einer Röntgenaufnahme des Gehirns durchgeführte sog. Hirnkammerluftfüllung (Pneumoenzephalographie) gelten,[75] die allerdings heute durch die Möglichkeiten der Computertomographie obsolet geworden ist.

14

Die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln an Drogenhändler zum Zwecke der Exkorporation von Beweismitteln, in der teilweise sogar ein Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) gesehen worden ist,[76] ist nach inzwischen herrschender Auffassung wegen der mit ihr verbundenen erheblichen physischen und psychischen Beeinträchtigungen[77] und des massiven Eingriffs in die Intimsphäre der Betroffenen regelmäßig als unverhältnismäßiger Eingriff in die körperliche Unversehrtheit anzusehen.[78] Soweit schließlich der BerlVerfGH im Fall Honecker geurteilt hat, „daß es mit dem Gebot der Achtung der Würde des Menschen unvereinbar ist, einen Menschen, der von schwerer und unheilbarer Krankheit und von Todesnähe gekennzeichnet ist, weiter in Haft zu halten“,[79] dürfte das Recht auf körperliche Unversehrtheit ebenfalls einen passenderen Prüfungsmaßstab abgeben.[80] Gleiches gilt für die Frage, ob eine Hauptverhandlung wegen drohender schwerwiegender Schäden für die Gesundheit des Angeklagten abzubrechen ist.[81]

b) Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG)

15

In die durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG garantierte Freiheit der Person wird im Strafverfahren vor allem durch die Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO) eingegriffen. Insofern finden sich in Art. 104 GG formale Rechtsgarantien, die den materiell-rechtlichen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG bei Freiheitsentziehungen der hier in Rede stehenden Art um Elemente der Grundrechtssicherung durch Verfahren ergänzen.[82] Die aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG abzuleitenden Anforderungen an die Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft werden daher im folgenden, den Prozessgrundrechten gewidmeten Kapitel besprochen (vgl. → StPO Bd. 7: Lindemann, § 3 Rn. 54 ff.).

 

c) Religionsfreiheit (Art. 4 GG)

16

Ausdruck der verfassungsrechtlich verbürgten Religionsfreiheit (Art. 4 GG) ist zunächst das in § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO normierte Zeugnisverweigerungsrecht der Geistlichen, das sich auf alles erstreckt, was diesen „in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden oder bekanntgeworden ist“. Das BVerfG betont, dass der Schutz der Beichte oder der Gespräche mit Beichtcharakter zum verfassungsrechtlichen Menschenwürdegehalt der Religionsausübung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gehört.[83] In einer Kammerentscheidung hat das Gericht – das seit jeher den Ausnahmecharakter strafprozessualer Zeugnisverweigerungsrechte hervorhebt[84] – es für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt, dass die Fachgerichte einen Gefängnisseelsorger, der zwar keine Priesterweihe erhalten, seine Tätigkeit jedoch aufgrund einer hauptamtlichen Beauftragung durch die Kirche nach den durch das kirchliche Dienstrecht vorgesehenen Voraussetzungen ausgeübt hatte, als Geistlichen i.S.d. § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO angesehen hatten.[85] Die Kammer billigte allerdings auch die von den Fachgerichten vorgenommene Unterscheidung zwischen seelsorgerischen und nichtseelsorgerischen Gesprächen, die im konkreten Fall dazu führte, dass die Anwendbarkeit des § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO auf den Austausch über das Recherchieren von Versicherungsadressen zu verneinen war.[86] Eine weitere Entscheidung des BVerfG betraf die Hinnahme gegen die Ableistung des Zeugeneides gerichteter Glaubensentscheidungen.[87]

17

Bedeutung kann der Religionsfreiheit darüber hinaus beispielsweise im Vollzug von Untersuchungshaft zukommen, wenn sich Untersuchungsgefangene auf Speisevorschriften ihrer Religionsgemeinschaft berufen. Die Untersuchungshaftvollzugsgesetze der meisten Länder sehen vor, dass die Anstalten den Gefangenen die Befolgung solcher Vorschriften zu ermöglichen haben (vgl. etwa § 12 S. 4 UVollzG NRW: „ist zu ermöglichen“); zur Bereithaltung eines entsprechenden Speiseangebotes sind sie hingegen nach h.M. nicht verpflichtet.[88] Bloße Soll-Vorschriften, wie sie § 11 Abs. 1 S. 2 JVollzGB II BW und § 18 Abs. 1 S. 3 SächsUHaftVollzG enthalten, erscheinen aus verfassungsrechtlicher Perspektive bedenklich. Gleiches gilt für den sich an eine rechtskräftige Verurteilung anschließenden Vollzug der Freiheitsstrafe.[89]

d) Presse- und Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG)

18

Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet neben der Meinungs- und Informationsfreiheit (Satz 1) auch die Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit (Satz 2). Während Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG vor allem im Zusammenhang mit dem Austausch von Meinungen und Informationen im Vollzug von Untersuchungs- und Strafhaft Bedeutung zukommt,[90] sind die Gewährleistungsbereiche der Presse- und Rundfunkfreiheit auch für strafprozessuale Ermittlungshandlungen von Relevanz (vgl. einfachrechtlich §§ 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, S. 2 und 3, 97 Abs. 5, 160a Abs. 2 StPO). So hat das BVerfG in seiner CICERO-Entscheidung aus dem Jahr 2007 auf die besondere Schutzbedürftigkeit des Vertrauensverhältnisses zwischen Presse bzw. Rundfunk und deren Informanten hingewiesen: „Dieser Schutz ist unentbehrlich, weil die Presse auf private Mitteilungen nicht verzichten kann, diese Informationsquelle aber nur dann ergiebig fließt, wenn sich der Informant grundsätzlich auf die Wahrung des Redaktionsgeheimnisses verlassen kann.“[91] Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermittlungsverfahren gegen Presseangehörige seien daher verfassungsrechtlich unzulässig, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienten, die Person des Informanten zu ermitteln. Auch wenn die betreffenden Angehörigen von Presse oder Rundfunk nicht Zeugen, sondern selbst Beschuldigte seien und der einfachrechtlich in § 97 Abs. 5 S. 1 StPO normierte Beschlagnahmeschutz deshalb nicht bestehe (vgl. § 97 Abs. 5 S. 2 i.V.m. Abs. 2 S. 3 StPO), dürften in gegen sie gerichteten Ermittlungsverfahren wegen einer Beihilfe zum Dienstgeheimnisverrat (§§ 353b, 27 StGB) Durchsuchungen nach § 102 StPO sowie Beschlagnahmen nach § 94 StPO zwar zur Aufklärung der ihnen zur Last gelegten Straftat angeordnet werden, nicht jedoch zu dem vorrangigen oder ausschließlichen Zweck, Verdachtsgründe insbesondere gegen den Informanten zu finden.[92]

19

Intensiv diskutiert wurde zuletzt die Frage, ob das in § 169 S. 2 GVG a.F. normierte generelle Verbot von Rundfunk- und Filmaufnahmen im Gerichtssaal noch zeitgemäß war.[93] Das BVerfG hat die Vorschrift in einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 für verfassungsgemäß erklärt und zur Begründung auf Gefahren abgestellt, die für den Persönlichkeitsschutz, die Verfahrensfairness und die Wahrheits- und Rechtsfindung aus einer Zulassung von Rundfunk- und Filmaufnahmen im Rahmen der strafprozessualen Hauptverhandlung erwachsen können: So drohe dem Angeklagten durch die Übertragung eine zusätzliche Pranger- und Vorverurteilungswirkung, die Wahrnehmung von Verteidigungsrechten könne erschwert werden, und es sei denkbar, dass sich auch Zeugen und Richter durch die Anfertigung von Aufnahmen beeinflussen ließen.[94] Mit dem am 18. April 2018 in Kraft getretenen Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren[95] hat sich der Gesetzgeber gleichwohl für eine (moderate) Lockerung des Verbotes von Rundfunk- und Filmaufnahmen im Gerichtssaal entschieden (vgl. zuvor bereits § 17a BVerfGG für Verhandlungen des BVerfG). Das Gesetz hält zwar grundsätzlich an dem Verbot fest (§ 169 Abs. 1 S. 2 GVG), ermöglicht jedoch nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen die Tonübertragung der Hauptverhandlung in einen Medienarbeitsraum (§ 169 Abs. 1 S. 3–5 GVG), die Anfertigung von Tonaufnahmen zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken in Verfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung (§ 169 Abs. 2 GVG) sowie die Anfertigung von Ton- und Filmaufnahmen von Entscheidungsverkündungen beim BGH (§ 169 Abs. 3 GVG).[96] In der Entscheidung aus dem Jahr 2001 hat das BVerfG zu Recht darauf hingewiesen, dass die bis zur rechtskräftigen Verurteilung zu Gunsten des Angeklagten sprechende Unschuldsvermutung eine zurückhaltende, mindestens aber eine ausgewogene Berichterstattung durch die Medien gebietet. Darüber hinaus sei eine mögliche Prangerwirkung zu berücksichtigen, die durch eine identifizierende Medienberichterstattung bewirkt wird.[97] Mit Blick auf die Pressearbeit der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren ist schließlich gleichermaßen eine möglichst grundrechtsschonende Vorgehensweise anzumahnen.[98]

e) Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG)

20

Gem. Art. 6 Abs. 1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Das Strafverfahrensrecht trägt dem u.a. durch die Anerkennung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Angehörige des Beschuldigten (§ 52 StPO) Rechnung, das nach h.M. auch dem Schutz des „Familienfriedens“ dient.[99] Auch bei der Entscheidung über Besuchskontakte im Vollzug von Untersuchungs- und Strafhaft ist die besondere Bedeutung der Familienbeziehungen zu berücksichtigen.[100] „Aufgabe des Staates ist es, in Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Pflicht, für die Erhaltung von Ehe und Familie zu sorgen, solche nachteiligen Auswirkungen des Freiheitsentzuges im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren, aber auch unter angemessener Beachtung der Belange der Allgemeinheit zu begrenzen.“[101] In besonders gelagerten Ausnahmefällen kann es daher geboten sein, für Besuche von Ehegatten und Kindern von Untersuchungsgefangenen Besuchsgelegenheiten auch außerhalb der allgemeinen Besuchstage zu schaffen.[102] Der besondere Schutz, den Art. 6 Abs. 1 GG familiären Kontakten zuteilwerden lässt, darf auch nicht mit dem Hinweis auf „altersbedingt sehr geringe Interaktionsmöglichkeiten“ besonders kleiner Kinder relativiert werden.[103] Auf die Ermöglichung von unüberwachten Langzeitbesuchen Familienangehöriger besteht hingegen nach h.M. kein verfassungsrechtlicher Anspruch;[104] sie „können“ jedoch nach § 19 Abs. 4 StVollzG NRW (und entsprechenden Vorschriften in anderen Landesgesetzen) „ermöglicht werden, wenn dies zur Förderung oder zum Erhalt familiärer, partnerschaftlicher oder anderer gleichwertiger Kontakte der Gefangenen geboten erscheint und verantwortet werden kann“.[105]

f) Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG)

21

Art. 10 Abs. 1 GG erklärt das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis für unverletzlich; Beschränkungen dieser Rechte dürfen gem. Art. 10 Abs. 2 S. 1 GG nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden. Durch die technischen Möglichkeiten des Internet und der mobilen Kommunikation ist gerade auch mit Blick auf den Informationszugriff zu Zwecken der Strafverfolgung eine Vielzahl von (einfach- und verfassungsrechtlichen) Auslegungs- und Abgrenzungsproblemen entstanden, die rege Diskussionen in Rechtsprechung und Schrifttum hervorgerufen haben.[106] Zu nennen sind hier beispielsweise die Frage nach den Voraussetzungen und Grenzen sog. Online-Durchsuchungen[107] oder die Diskussion um die rechtliche Einordnung der Beschlagnahme von E-Mails auf dem Mailserver des Providers.[108]

22

Das BVerfG misst die hier in Rede stehenden Eingriffe nur dann am Maßstab des Art. 10 GG, wenn sie sich auf die Phase zwischen dem „Aus-der-Hand-Geben“ des Kommunikationsinhalts durch den Absender und der Ankunft der Mitteilung im alleinigen Herrschaftsbereich des Empfängers beziehen.[109] Für den Versand einer E-Mail ergibt sich daraus, dass nicht nur das Versenden und das Abrufen der Nachricht, sondern auch deren Speicherung auf dem Mailserver des Providers – der sich außerhalb des Herrschaftsbereichs der Kommunikationsteilnehmer befindet – als „Telekommunikation“ i.S.d. Art. 10 Abs. 1 GG einzuordnen ist.[110] Die bereits abgerufenen, auf dem Rechner des Empfängers gespeicherten E-Mails werden hingegen durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie ggf. durch das Wohnungsgrundrecht (Art. 13 GG) geschützt.[111] Während unstreitig ist, dass Zugriffe der Strafverfolgungsbehörden während des Versandes der Nachricht durch den Absender sowie während des Abrufs durch den Empfänger am strengen Maßstab der Vorschriften über die Telekommunikationsüberwachung (§§ 100a ff. StPO) zu messen sind,[112] soll nach der Rechtsprechung von BVerfG und BGH die Ermächtigungsgrundlage für (offene) Zugriffe auf die auf dem Mailserver des Providers gespeicherten Kommunikationsinhalte ungeachtet der Zuordnung zum Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG den weniger restriktiven Vorschriften über die Sicherstellung und Beschlagnahme (§§ 94 ff. StPO) zu entnehmen sein.[113] Dies soll einem Rückgriff auf §§ 100a ff. StPO für verdeckte Ermittlungen nicht entgegenstehen.[114] Die vorerwähnten Grundsätze sollen schließlich nach Ansicht eines Teils des Schrifttums auch für den (offenen oder verdeckten) Zugriff auf Daten eines Nutzerkontos bei sozialen Netzwerken gelten.[115] In der Literatur wird der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Recht entgegengehalten, dass durch die Heranziehung der §§ 94 ff. StPO in den in Rede stehenden Fällen die Begrenzungsfunktion des Art. 10 GG unterlaufen und das Schutzniveau für einen wesentlichen Teil des Kommunikationsvorganges in einem unvertretbaren Maße abgesenkt wird.[116] Technische Ermittlungsmaßnahmen nach § 100i Abs. 1 StPO, die der Ermittlung der Geräte- und Kartennummern sowie des Standorts von Mobiltelefonen dienen, fallen nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht in den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG.[117]

 

23

In den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG greift nach der Rechtsprechung des BVerfG das Abschöpfen von Daten an den an einem Kommunikationsvorgang beteiligten Endgeräten (sog. Quellen-TKÜ) ein,[118] wohingegen die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können (sog. Online-Durchsuchung), an dem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) abgeleiteten Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme gemessen wird.[119] Nach der zu § 5 Abs. 2 Nr. 11 VerfSchG NRW a.F. ergangenen Entscheidung des BVerfG ist ein Eingriff in dieses Grundrecht nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Überragend wichtig i.d.S. sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt.[120] Entsprechende Maßnahmen sind überdies grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen, und das Gesetz, das zu ihnen ermächtigt, muss Vorkehrungen enthalten, um den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu schützen.[121] Da die Strafprozessordnung in der Vergangenheit keine Ermächtigungsgrundlage enthielt, die diesen Anforderungen entsprach, wurde die Vornahme von Online-Durchsuchungen zu Zwecken der Strafverfolgung zu Recht als unzulässig erachtet.[122] Mit dem Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017[123] hat der Gesetzgeber nunmehr jedoch in § 100b StPO eine entsprechende Regelung geschaffen und gleichzeitig die Vorschrift zur Telekommunikationsüberwachung so umgestaltet, dass sie auch die Quellen-TKÜ[124] zulässt (vgl. § 100a Abs. 1 S. 2 StPO). Nachdem das BVerfG selbst die präventiv-polizeiliche Nutzung der in Rede stehenden Methoden nur unter äußerst restriktiven Voraussetzungen für zulässig hält und zuletzt Vorschriften des BKAG, welche die Online-Durchsuchung und die Quellen-TKÜ zu Zwecken der Gefahrenabwehr gestatteten, für teilweise verfassungswidrig erklärt hat,[125] darf bezweifelt werden, dass die neu geschaffenen Vorschriften einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung standhalten werden.[126]