Beinahe Alaska

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Er faltete die Serviette, legte sie neben den Teller, wischte mit der Hand ein paar Krümel vom Tisch. »Nun schauense doch nicht gleich so bange. Noch ist ja kein Seegang. Der Wind bläst in Fahrtrichtung. Wir kommen vielleicht sogar schneller über den Teich, wenn das so weiterpustet.«

Er stand auf, nickte mir aufmunternd zu.

Das Kinderthema

Der Prince Regent Inlet war noch verstopft, sagte der Eispilot. Unmöglich, da durchzufahren. Im Larsensund löste sich das Eis hingegen langsam auf.

Er räusperte sich und trat einen Schritt zurück, wie einer, den ein paar Sätze schon ziemlich anstrengten. Ich schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Er hatte ein verlässliches Gesicht, so wie ein Handwerker, dem man seine Waschmaschine anvertraut. Doch man merkte, wie unwohl er sich fühlte. Seine Aufgabe war es, Satellitenbilder auszuwerten, mit anderen Schiffen Kontakt zu halten und die meiste Zeit auf der Brücke nach vorne zu schauen, aufs Meer. Kein Wunder, dass ihm das nicht passte, hier in der Bar von Passagieren angegafft zu werden. Sicher wollte er wieder in seinen Sessel und aufs Wasser sehen. Wer hätte das nicht gewollt? Da war ein Glitzern und Funkeln, das die Sonne auf das Blau warf, Abertausend Diamanten, die das Meer in einen gigantischen Lurexteppich verwandelten.

Die Bar war eingerichtet wie ein Casino aus den Achtzigern: beige-braun gemusterte Teppichböden, indirektes Licht, Plexiglas, chromverschraubte Tische und farblich abgestimmte Drehsessel. Die Expeditionsleiter packten die orangen Anzüge wieder ein, die wir anziehen sollten, wenn das Schiff sank, obwohl niemand gesagt hatte, »wenn das Schiff sank«, so wie im Flugzeug niemand sagt, »wenn wir abstürzen«. »Im Fall eines Druckverlustes in der Kabine« hieß hier, »wenn das Notsignal ertönt«. Drei Mal kurz, fünf Mal lang. Die Rettungskapseln waren auf Deck 5.

In den folgenden Tagen würden wir Vorträge hören, gelegentlich an Land gehen und wieder Vorträge hören. In der Arktis galt ein Verhaltenskodex: nichts pflücken, abbrechen, mitnehmen. Nicht in fremde Fenster fotografieren. Keinen Müll liegen lassen und in den Gemeinden möglichst nicht auf die Toilette gehen, wegen der Wasserknappheit. Die Expeditionsleiter waren zwischen dreißig und Ende sechzig und stammten aus Deutschland, Kanada, Polen, Frankreich, Norwegen und Großbritannien. Sie waren Geologen, Vogelkundler, Meeresbiologen, nur der blonde Typ mit der Bommelmütze war Snowboarder und Life Coach, und er kannte sich ein bisschen mit Eisbären aus.

Die meisten Passagiere hatten die Bar bereits verlassen. Ein Pärchen unterhielt sich auf dem Weg nach draußen. Sie sagte: »Dasch mit den Eis, ich glaub dene dasch net, die wolle uns doch verarsche.«

Als hätte er darauf gewartet, dass ich in seine Richtung blickte, räusperte sich der Mann neben mir. »Machen Sie diese Reise auch zum ersten Mal?«, fragte er mich auf Englisch.

Die Frage, die er mir gestellt hatte, entsprach dem Knigge für Kreuzfahrten. Es gab nicht viele Themen, die man auf einem Schiff am Kapitänstisch besprechen durfte, und der Kapitänstisch war auf See das Maß aller Dinge. Erlaubt waren: Essen (neue Restaurants, interessante Köche). Kochen (selber kochen, Rezepte und lustige Kochpannen). Reisen (wo man schon mal war, wo man als Nächstes hinfuhr). Zu vermeiden war alles, über das man streiten konnte oder was andere möglicherweise zum Weinen brachte: Fußball, Politik, Krankheit, Tod. Auch Familie war als Thema heikel. Nicht jeder hatte Kinder, nicht jeder mochte Kinder, die wenigsten Kinder waren interessant. Über seinen Beruf durfte man sprechen, vorausgesetzt, man war kein Fußballer, Politiker, Arzt oder Bestatter.

Ich schätzte ihn auf etwa siebzig, er hatte grau-schwarz melierte Haare und ein rundes, freundliches Gesicht. Neben seinem Stuhl lehnte ein weißer Spazierstock.

Da ich nicht sofort antwortete, warf er einen Blick in mein Skizzenbuch, in das ich die Umrisse der Küste gezeichnet hatte.

Ob ich mich für Landschaften interessiere, fragte er, kramte in seiner Hosentasche und holte ein Handy hervor.

Hier, diese Bilder hatte er gemacht, am Computer! Er zeigte mir eine Reihe von alienhaften Gegenden mit gelben, zerklüfteten Felsen, roter Erde und einem türkisblauen Himmel mit violetten Monden. Beinahe hätte ich gerufen: Ach, daher haben die Outdoorfritzen diese irren Farben! Aber ich beherrschte mich.

Hier, dieses Motiv hatte ihm ein Buchverlag für das Cover eines Fantasyromans abgekauft. Das Buch könne er mir aber nicht empfehlen. Schlechte Physik. Das Foto hatte er in Andalusien aufgenommen, ob ich schon mal in Andalusien war, nein? Ich sähe ein bisschen spanisch aus. Sie hatten dort neben einem Bauern gewohnt, der einen Esel hatte. Die ganze Nacht schrie er, der Esel, nicht der Bauer, was war das für ein Lärm, wie eine gequälte Tür, die nicht auf- und nicht zuging.

George sprach über die Ohrenform und die Fellfarbe besagten Esels, von dem seine Frau Agnes, die gute Agnes, heute noch behauptete, es sei ein Muli gewesen.

Ich fragte mich, wem und wie oft George diese Geschichte wohl schon erzählt hatte. Vielleicht war ich Nummer neunundneunzig in einer Reihe nickender Gesprächspartner, die gedacht hatten: »Esel, Esel, mir doch egal, aber der Typ ist irgendwie nett«, oder »Esel, Esel, wie spät ist es, was mache ich hier, kann mal mein Telefon klingeln?«. Das Problem bei Männern wie George war, dass man sie mögen musste. Er sprach leise, seine Augen schauten mit einer gewissen Wachsamkeit, aber nicht abwertend, sondern ganz ohne Arg. Sofern man also kein engherziger Mistvogel war, benahm man sich gefälligst angemessen freundlich. Also nickte ich und dachte: »Esel, Esel, ja, dann eben ein Esel.«

Wie ich denn den Vortrag von eben gefunden hätte. Er zweifele ja stark daran, dass uns diese dünnen Overalls vor dem eiskalten Wasser schützen würden.

Ich musterte ihn. Er wirkte nicht wie jemand, der sich mal eben in den komplizierten Schlaufenmechanismus der Rettungsanzüge hineinwinden könnte.

Natürlich, sagte ich, waren diese Anzüge total fehl am Platz.

Für ihn waren die sowieso nichts. Der dritte Schlaganfall hatte alles verändert. Er kam einfach nicht mehr mit. Die Menschen sprachen schneller, die Autos fuhren schneller, und die Tage rasten dahin. Man wachte auf, und kaum hatte man gefrühstückt und sich über den Tag gefreut, war es schon Nachmittag, es gab Kaffee und Kuchen, immer um vier, darauf bestand die gute Agnes, sie liebte ihren Butterkuchen, und dann war es ja meistens auch bald sechs und Zeit für Schnittchen, dann schalteten sie den Fernseher ein, Nachrichten, ein Film, dann war es zehn und Zeit fürs Bett. Er dachte immer mal wieder daran, dass die gute Agnes sicher etwas anderes wollen würde, als sich ständig um ihn zu kümmern. Aber das tat sie. Sie kümmerte sich um alles. Sie kaufte ein, sie besorgte den Haushalt, sie half ihm beim Waschen, sie zog ihn an, sie füllte seine Medikamente ab, erinnerte ihn daran, sie zu schlucken. Sie fuhr sogar Auto, obwohl sie Autofahren immer gehasst hatte.

Gut, seit drei Jahren kam eine Putzhilfe, weil sie ein bisschen kurzatmig geworden war. Die Tochter, nein, die konnte das nicht auch noch. Die hatte inzwischen selber zwei Kinder, beides Mädchen, sieben und neun, und alle Hände voll, das könne man nicht erwarten, die langen Wege, immerhin war das eine ganze Stunde Fahrt. Der Sohn wohnte ja in Frankreich.

Die Schiffsreise war ein Geschenk zum Hochzeitstag gewesen, erzählte George. Sie hatten sie von den Kindern bekommen. Agnes sei erst dagegen gewesen. Er würde das nicht mehr schaffen. George deutete auf sein Bein. Schaffen. Aber natürlich schaffte er das! Ja, sicher, es gab schon ein paar Möbel, die waren nicht für Leute wie ihn entworfen worden. Dieser braune Drehstuhl etwa. Ihm graute schon vor dem Aufstehen, aber das Schwanken des Schiffes kam ihm zupass. Dann ging es wenigstens allen so wie ihm, haha.

Ich lachte mit.

Einen Schlaganfall, den verkraftete man noch, sagte er. Zwei Schlaganfälle vielleicht auch. Aber drei, es war ein Wunder, dass nur eine Seite gelähmt war, und die auch nur unterhalb der Hüfte, es war ein Wunder »und die liebevolle Pflege Ihrer Frau«, wie die Ärzte meinten, da waren sich alle einig.

Ich fragte mich, ob man bei einem Schlaganfall auch einen Schlag bekam. Schlug eine Faust von innen an den Brustkorb, als wollte sie hinaus? Fiel man hintenüber, obwohl man stand? Kannte George dieses Gefühl? Wie sich alles zusammenzog, unter dem Hals, als wäre nicht mehr genug Platz im Brustraum? Wie es schlagartig kalt wurde? Jahrelang hatte ich angenommen, dass es Schicksalsschlag hieß, weil man diesen Schlag bekam.

George hatte ein Riesenglück, dass er eine so liebevolle Frau hatte. Und die Kinder, natürlich. Ob ich Kinder hatte?

Ich verneinte.

Kinder waren alles, sagte er. Das würde man eigentlich nur verstehen, wenn man selber welche hatte. Sie veränderten alles. Alles war schöner. Auch anstrengender. Man stand Ängste aus, das könne ich ihm glauben. Aber Kinder waren wirklich alles. Er könne mir nur empfehlen, welche zu bekommen.

Da war es wieder, das Kinderthema. Ich nickte mein Nicken. Das hatte ich in der Schule gelernt und in den Jahren darauf perfektioniert. Der Trick war, dass man langsam genug nickte. Zu schnell wirkte aufgesetzt. Aber auch nicht zu langsam, sonst erweckte man den Eindruck, man wäre geistig nicht ganz auf der Höhe. Es gab kaum Auswege aus so einem Gespräch.

Mit der brutalen Variante stieß man harmlose Stoffel vor den Kopf, wurde aber übergriffige Grobiane los: Ich hasse Kinder. Dann gab es meistens eine Pause, und danach war die Unterhaltung schnell zu Ende.

Weicher war: Ich mag keine Kinder. Ich wollte nie Kinder. Doch dann fragen sie einen immer: Och Gott, warum denn nicht? Wie das denn?, und dachten: Was ist denn mit der kaputt?

 

Die dritte Variante, die aber nicht garantierte, dass man in Ruhe gelassen wurde, war: Ich kann keine Kinder bekommen. Oder: Es hat nicht geklappt. Aber selbst da gab es Menschen, die nachfragten. Wie man es drehte oder wendete, Kinder waren nur dann ein Thema, wenn man selber welche hatte.

Doch genug von ihm, sagte George. Er würde mich ja langweilen. Aber ach, da kam sie ja schon.

Ich drehte mich zur Tür und sah die gute Agnes, eine Katastrophe um die sechzig mit schwarz gefärbtem, schulterlangem Pagenkopf, auf uns zusteuern. Sie trug eine braun-blaue Fleecejacke, graue Regenhosen und Wanderschuhe. Das blasse, rechteckige Gesicht zerteilte eine ebenfalls rechteckige schwarze Brille, ihre Mundwinkel hingen. Sie ging, wie ein Wagen der Straßenreinigung fuhr. Gerade, ohne anzuhalten. Sie grüßte mich nicht unbedingt freundlich, ihr Grunzen war eher auf der mürrischen Seite von unfreundlich.

Ich nahm es ihr nicht übel. Wenn man jemanden pflegte, saß man im Zug des Lebens mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Man sah nicht nach vorn, man schaute in die Welt des Abschieds, der Krankheit. Man sah Windelsorten. Dekubitus-Matratzen. Wundverbände. Rollatoren. Krankenhausparkplätze. Wartezimmerstühle. Man führte Gespräche mit Menschen, die man als Gesunder nie treffen würde. Andere Angehörige. Krankenschwestern. Pfleger. Sanitätshausvertreter. Wundverbandassistenten. Ein kranker Mensch färbte einem die Wäsche. Es war in etwa das Gegenteil vom Kinderhaben, dieses ständige gemeinsame Schauen ins Ende.

Ich lächelte. Agnes verzog keine Miene, dachte wohl, ich wolle mich lustig machen. Man sah mir nicht an, dass ich ihre Welt nur zu gut kannte. Sie musterte mich von oben bis unten wie jemand, der etwas nicht kaufen wollte, und sagte zu George, nun sei es aber höchste Eisenbahn, seine Spritze, was das denn solle, dass er hier unten rumsäße, mit jungen Damen plaudern könne er ja wohl auch zu Hause. Sie zog ihn aus dem Sessel. Er pfiff, schnaubte und keuchte. Sie ging einen Schritt zur Seite. Er angelte nach dem Stock, drehte sich noch mal zu mir um und sagte mit gepresster Stimme: »Einen schönen Abend noch!« Die gute Agnes stand bereits an der Tür. Sie pfiff nach ihm wie nach einem Hund und machte ein Zeichen, er solle sich beeilen. George humpelte schneller.

Ich packte meine Sachen zusammen und ging an Deck. Eine weiche Brise strich über mein Gesicht. Neben dem Schiff sah ich die Küste, ein rabenschwarz gefüllter Umriss in einer dunklen Welt. Ich atmete tief ein. Die Luft roch nach nichts.

Blattläuse

Ivittuut, Grönland

Ein Lichtstreifen schimmerte zwischen dunklem Meer und dunklem Himmel. Ich sah auf die Uhr, es war fünf Uhr morgens. Der Motor brummte, aber nein, es war nur die Lüftung. Als ich aufstand, spürte ich die Bewegungen des Schiffes, ein sanfter Hub. Ich zog mich an und ging nach oben.

An Deck klatschte mir eiskalter Wind wie ein feuchter Lappen ins Gesicht. Ich hielt mich am nächstbesten Geländer fest. Mit einem Rums fiel die Tür hinter mir zu. Böen zerrten an meiner Kapuze. Ich drückte mich die Treppe zum Oberdeck hoch, hangelte mich nach vorn und stellte mich in den Windschatten des weißen Häuschens am Bug. Langsam hob und senkte sich die Welt. Hoch und runter, wie in Zeitlupe, fuhr das Schiff aus der eiskalten Nacht in den eiskalten Morgen.

Ich stellte mir vor, wie der Wind die Spinnweben aus meinem Kopf pustete, das Archiv entstaubte und nicht fertig gedachte Gedanken, offene Fragen und sinnlose Enden mitnahm.

Es müsste möglich sein, Erinnerungen wegwehen zu lassen. Hier, liebe Windbö, auf diesen Moment kann ich verzichten. Könntest du bitte die Tränen mitnehmen und das Blut? Die Kälte der Fußbodenkacheln an meinem Gesicht? Den Ball aus rostigen Nägeln, der sich in meinem Unterleib drehte? Ich hätte noch eine ganze Reihe, aber diesen Moment, den nimmst du bitte zuerst, ja?

Ich war zu dünn angezogen, fror an den Beinen, und meine Nase lief, aber ich wollte nicht wieder in die Kabine, ich wollte hier stehen bleiben und durchweht werden und sehen, wie das Schwarz aufhörte, Schwarz zu sein. Es war gang und gäbe, dass man Babys verlor. Es war wichtig, darüber nicht wehleidig zu werden. Bald tauchten dunkelgraue Silhouetten auf, die Küste Grönlands. Es rauschte und brummte. Schwarz wurde zu Grau und langsam zu einem milchigen Weiß, in das jemand graues Farbpulver gestreut hatte.

Du musst unter Leute, hatte man mir gesagt. Immer nur allein, das tut nicht gut. Also hatte ich mir einen Schreibtisch in einer Büroetage gemietet. Von meinem Platz konnte ich einen Fetzen Himmel sehen, aber nur, wenn ich meinen Kopf drehte und mit dem Stuhl nach hinten kippelte, als wäre ich eine Topfpflanze auf der Suche nach Sonnenstrahlen. Diese Bewegung war so frustrierend, dass ich den Schreibtisch nach wenigen Wochen wieder aufgab.

Von Weitem hatte Ivittuut ausgesehen, als hätte jemand rote, gelbe und blaue Farbkleckse in den grauen Fels gemalt. Aus der Nähe erkannte man, dass die Farbe von den bunten Häusern abblätterte, die Zäune waren vom Wetter angefressen, das Holz war verrottet, die Fensterläden hingen schief, Scheiben fehlten, Dächer hatten Löcher.

»Ich will da hoch«, sagte die Dame mit den roten Haaren vom ersten Abend. Sie zeigte auf den Berg vor uns. Sie hielt einen dunkelbraunen Rucksack vor den Bauch und lehnte sich zurück. Ihre Pose erinnerte mich an einen Großgrundbesitzer. Ungeduldig trat sie von einem Bein aufs andere. Ihre Freundin oder Reisebegleitung schwieg. Die zwei sprachen mit österreichischem Dialekt, so viel hatte ich auf dem Tenderboot mitbekommen. Sie hatten sich als Einzige gestern Abend zum Essen schick gemacht. Schuhe mit Absatz, Schmuck. Lippenstift. Perlenkette. Vielleicht waren sie Freundinnen. Vielleicht eine Zweckgemeinschaft. Vielleicht war es ein und dasselbe.

Tomek, der polnische Expeditionsleiter, bat um Ruhe. Gleich könnten wir loslaufen, aber erst würde er die Lage erklären, zu unserer eigenen Sicherheit. Hier gebe es nämlich Moschusochsen, und die seien nicht ungefährlich.

Wer als Einziger die letzte Eiszeit überlebt hatte, war garantiert kein Kuscheltier, dachte ich.

Moschusochsen konnten nur gehen oder galoppieren, sagte Tomek. Wenn sie Angst hatten, rannten sie wie die Irren auf das zu, was ihnen Angst machte. Zum Beispiel auf Passagiere in orangen Jacken. Ich schaute mich um. Wir hatten von der Reederei knallorange Windjacken bekommen. Das Gelände sah aus, als wäre es von orangen Blattläusen befallen. In den Zwischenräumen der kargen grauen Felslandschaft krabbelten kleine orange Punkte herum wie Ameisen auf der Suche nach Nahrung. Fetzen von Nebel hingen am Berg. Da oben hielt sich wohl die Herde versteckt, sagte Tomek. Kleine Wölkchen hingen über den graubraunen, nassen Steinen, über den feuchtgrünen Grasbänken, den verwitterten Häusern und den dunkelgrauen Holzbaracken – das Land war aus der Sauna gekommen und dampfte so vor sich hin.

Die Häuser waren die Überreste eines Minendorfes. Da lebte keiner mehr, nur ein verrückter Däne hatte hier sein Ferienhaus, der war aber gerade nicht da. Früher war hier nach Silber geschürft worden, später nach Kryolith, das man zur Herstellung von Aluminium brauchte. Kein Prius ohne Kryolith, sagte Tomek.

Die Rothaarige verzog den Mund und rollte mit den Augen.

Das, sagte Tomek und zeigte auf den See hinter uns, war die geflutete Mine. Da nicht hingehen. Auch nicht da hinten ans Ufer, da begann das Militärsperrgebiet. Er erklärte, wo sich die anderen Expeditionsleiter befanden und dass jeder von ihnen ein Gewehr dabeihatte.

»Können wir jetzt endlich los?«, fragte die Rothaarige. Tomek nickte, und alle setzten sich in Bewegung, wie Schüler auf Klassenfahrt. Die meisten eilten den Berg hoch, um möglichst viel Abstand zwischen sich und die anderen zu bringen.

Ich blieb stehen. Ich hatte mal eine Geschichte über die Distanz gelesen. Da ging es um den Abstand, den Menschen gerade noch so tolerierten, ohne aggressiv zu werden. In Arabien rückten einem die Leute dichter auf die Pelle als beispielsweise in New York. Der optimale Abstand hieß Intimdistanz. In der Psychologie gab es sogar ein Wort für diese Forschung: Proximität. Wurde die Intimdistanz verletzt, reagierten Menschen mit Angst oder Wut. Der ständige Stress im Alltag entstand bei vielen durch häufiges U-Bahn-Fahren; viele nahmen keine Weite mehr wahr, weil sie dauernd ins Handy starrten. Deswegen wollten Touristen auch dauernd Abstand gewinnen, wenn sie wegfuhren.

Ich ließ meinen Blick über dunkle Felsen, bunte Häuser, Moos, Gras, Erde, Steine wandern. Überall kreuchten Menschen herum. Einige marschierten auf eine Hügelkuppe zu, auf der eine Gruppe oranger Männchen mit Ferngläsern auf die zwei Wasserfälle in der Felswand starrte. Wäre ich ein Moschusochse, dachte ich, ich würde mich hier auch nicht blicken lassen.

Ich ging in die Richtung, in der am wenigsten orange Punkte waren, zur Müllkippe. Die Felsen hatten silbergrüne, weiße, dunkelbraune und schwarze Flecken. Manche waren rot-weiß marmoriert. Das Rote war Hornblende, das Weiße Kryolith. Der gewaltige Druck, der dieses Marmormuster hervorgebracht hatte, war Milliarden Jahre alt. Weich sank mein Stiefel ins Moos. Es leuchtete grellgrün. Die Geologin hatte heute früh etwas über die Tundra erzählt und dass sie auf ihren Wanderungen in Grönland manchmal nicht wanderte, sondern krabbelte, denn das Interessante lag nicht am Horizont, man latschte darauf herum. »Im Sommer ist es am Boden manchmal um 15 Grad wärmer als einen Meter weiter oben. Sie laufen nicht durch den Wald. Sie laufen auf dem Wald!«

Ich schaute nach unten, in die winzigen Dickichte leuchtend grauer und gelber Gitter, mit denen sich die Flechten über die Steine ausbreiteten. Die Geologin hatte recht. Da unten war eine Welt aus filigranen Blüten und Verästelungen. Alles wirkte überdeutlich, irgendwer hatte an der Schärfentiefe meiner Augen gedreht und zugleich den Kontrast erhöht. Ich schraubte das neue Objektiv auf und fotografierte den Boden. Kein Wunder, dass mir keine Farben mehr gelingen wollten. Die Wirklichkeit war irre. Sie war unmalbar.

Auf einer Hügelkuppe blieb ich stehen. Auf der Wiese vor mir wiegten sich hellweiße Miniwattebäusche an schmalen grünen Stängeln im Wind hin und her. Wollgras. Wo das wuchs, bekam man nasse Füße, hatte die Geologin gewarnt. Dahinter türmte sich Müll. Zerquetschte Autowracks rosteten im Regen, Matratzen lagen im Gras. Ein Hügel sah aus wie eine Kunstinstallation: Ein leerer Container wurde von einem Durcheinander aus Gittern, Rohren und Stangen umrahmt, von zerbeulten Tonnen, rotbraunen Backsteinen, Kühlerhauben, ausgebauten Motoren, roten Metalltüren, Spanplatten, Bettgerüsten, Badewannen, Stuhlteilen, Beton und Stein. Hatte der Schnee das alles so zugerichtet? Oberhalb auf einem Felsen hielt ein weißes Kreuz aus Metall Wache über diese Unordnung, darunter steckten weiße und schwarze Grabkreuze zwischen den Felsen.

Auf einer meiner ersten Reisen für den Verlag war ich drei Wochen kreuz und quer durch die schottischen Highlands gefahren, um Orte zu besuchen, an denen es angeblich spukte. Tagsüber wanderte ich über ehemalige Schlachtfelder, durch Schlösser und alte Häuser. Nachts fror ich auf einsamen Landstraßen und in zugigen Hotelzimmern. Am Ende wusste ich alles über abgemurkste Schotten, weiße Ladys und Sumpfkobolde, hatte etliche Bilder von öden Ebenen, dunklen Verliesen und weiten Himmeln über spiegelklaren Lochs gemacht, war aber keinem Gespenst begegnet. Nur einem, beinahe: Auf einem Foto, das in einem kühlen Zimmer auf Dalhousie Castle bei Edinburgh entstanden war, sah man in der Vergrößerung ein Augenpaar. Es starrte aus dem Spiegel heraus.

Ein Fleck, hatte der Lektor gemeint.

Ein Augenpaar, die Sekretärin.

Am Ende wurde im Verlag abgestimmt. Der Fleck gewann achtzehn zu zwei.

Hinter mir hörte ich ein Knacken. Das Funkgerät hing an einem fast zwei Meter großen Mann. Das war Connor, der Chef des Expeditionsteams. Ich hatte am Schwarzen Brett seine Biografie gelesen. Er war fünfzig Jahre alt, kam aus Schottland, war Träger des Polarordens und fuhr seit mehr als dreißig Jahren in die Arktis und die Antarktis. Wie auch Tomek hatte er mehrfach am Südpol überwintert. Jetzt aber sah er aus, als hätte man ihn rückwärts durch einen Rote-Kreuz-Altkleidercontainer gezogen. Er trug eine knallblaue Regenhose, hüfthohe schwarze Anglerstiefel, eine dunkelbraune Jacke, eine grellorange Steppweste und einen neongelben Gürtel, in dem Messer und Werkzeuge steckten. Auf dem Kopf hatte er eine grasgrüne Strickmütze, um den Hals trug er ein Fernglas, um die Schulter ein Gewehr.

 

»Schöne Mütze«, sagte ich.

Ja, lachte er, die hatte seine Tochter für ihn gestrickt. Die sei im Handgepäck gewesen. Alles andere stammte aus dem Klamottenlager, erklärte er. Sein Koffer hatte mal wieder den Anschlussflug in Kopenhagen nicht geschafft.

»Mal wieder?«

Ach, die Reederei buchte die Anschlussflüge, und meistens klappte irgendwas nicht. Man konnte davon ausgehen, jede dritte Reise ohne sein Gepäck machen zu müssen. Manchmal passierte das auch den Passagieren. Die mussten sich entscheiden: entweder zurück nach Hause oder ohne Kulturbeutel an den Polarkreis. Er hatte inzwischen alles Wichtige im Handgepäck. Vor allem die Unterhaltung. Früher hatte er Bücher mitgenommen, inzwischen brauchte er nur USB-Sticks. Mit Serien.

Sein Funkgerät knackte erneut. Er nahm es in die Hand, sprach hinein.

Serien?

Er fand Broadchurch besser als Happy Valley, nicht nur wegen der Musik, sondern auch wegen Olivia Colman. War die nicht großartig? Ja, war sie. Er hatte The Killing gesehen, aber nicht Kommissarin Lund. Occupied kannte er nicht. Borgen fanden wir beide gut. Die dritte Twin Peaks-Staffel war nur noch halb so gruselig. Genau. Wer fürchtete sich noch vor rückwärtssprechenden, auf dem Kopf stehenden Zwergen? Niemand. Leider konnte er mit Serien wie Stranger Things und The OA nicht viel anfangen, dafür waren wir uns einig, dass das Staffelfinale von True Blood mit zum Schlechtesten gehörte, was jemals gedreht worden war. Und dass es hier so aussah wie bei Top of the Lake. Oder wie in Alien vs. Predator, nur ohne Schnee, aber das war ein Film und keine Serie.

Zwischendurch sprach er immer mal wieder in sein Funkgerät und schaute durchs Fernglas. Außer orangen Punkten bewegte sich nichts. Keine Moschusochsen, keine Aliens, keine Gespenster.

Auf jede Reise nahm er mehrere Staffeln mit. Für diese hier hatte er die dritte von Fortitude dabei, das die Kollegen aus Spitzbergen allerdings nicht leiden konnten. Die erste Staffel war in Island gedreht worden, und bei Schnee verstanden die keinen Spaß.

Ich hätte eher vermutet, dass er The Terror mitgenommen hätte, sagte ich.

Hatte ich die gesehen?

Ich nickte.

Und?, fragte er vorsichtig.

Ein Monster, sagte ich, wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen, und schwieg das höfliche Schweigen, das man schwieg, wenn man jemand anderem eine Serie nicht vermasseln wollte.

Er schaute in die Ferne, wo ein paar orange Ameisen in Richtung Militärgelände liefen.

Ich fragte ihn, ob das nicht nervte. Aufpassen, dass wir nicht verloren gingen.

An und für sich nein. Es gab natürlich immer ein paar Passagiere, die irgendwas pflückten oder die Wanderwege verließen, aber wenigstens war unter seiner Wacht noch niemand von einem Eisbären angefallen worden, auch wenn das an den Bären lag, ganz sicher nicht an den Menschen. Die meisten liefen wie lebendige Schaschlikspieße durch die Gegend. Sie trampelten auf hundert Jahre alten Bäumen herum und waren beleidigt, wenn man nicht nah genug an die Tiere heranfuhr.

Einen Stinker gab es immer, sagte ich.

Einen?, lachte Connor. Er hatte mal eine Gruppe Buddhisten begleitet, die in der sibirischen Tundra ein Meditationscamp abhalten wollten. Vier Tage Dauermeditation. Insgesamt waren eintausend Leute angereist. Jeden Morgen gab es eine Schlange vor den Mitarbeiterduschen. Die russischen Buddhisten, sagte er, hatten ein System. Einer von denen stellte sich in die Schlange und hielt den Platz für ein paar seiner Kumpel frei. Der nach ihm kam, machte das Gleiche. Wenn man Pech hatte, war man an vierter Stelle und kam trotzdem nicht dran.

»Und was haben Sie getan?«

»Als wir zwei Tage ungewaschen waren, haben wir es genauso gemacht wie die.«

Ich schaute ans entlegene Ufer. Die ersten orangen Punkte stiegen in ein Boot, das sie zurückbringen würde. Zwei Passagiere kamen den Berg hoch und verwickelten Connor in ein Gespräch. Ja, das Eisvorkommen hatte das Rekordtief von 2012 erreicht, sagte er. Nein, die neuen Satellitenbilder waren noch nicht da. Ja, es gab Eisbrecher vor der kanadischen Küste. Nein, die waren nicht für uns zuständig. Ja, bisher war noch kein Schiff durchgekommen. Nein, das Problem lag nicht im Lancastersund, es lag im Larsensund.

Auf der Rückfahrt regnete es. Ich hielt mich an den Tauen im Tenderboot fest. Gischt spritzte mir ins Gesicht, auf die Hände, auf die Jacke, die Hose. Hoch und runter, der Motor heulte und dröhnte. Die Österreicherin saß in der Mitte, natürlich auf dem einzigen Platz, auf dem man nicht nass wurde. Der Fahrer schaute geradeaus, seine Augen hatte er mit einer Skibrille verdeckt, sein Gesicht steckte in einer Ganzkopfmütze, die nur die Augen frei ließ. Er trug einen Overall und sah aus wie eine dicke Legofigur. Alle anderen klammerten sich an ihre Begleitungen.

Wir schienen nicht voranzukommen. Ich fror und dachte, hoffentlich krepierte der Motor nicht, warum war es so kalt, dauernd schwappte Wasser auf meine Hose. Hoffentlich wurde mein Handy nicht nass, wieso hatte ich das überhaupt mitgenommen, was machte ich eigentlich hier?

Wie hatten das die Menschen früher ausgehalten? Wie hatten Generationen vor uns überhaupt irgendwas ausgehalten? Nein, die Frage müsste anders lauten. Würden wir, würde auch nur einer von uns einen Wintertag vor hundert Jahren durchstehen? Könnte einer von uns wie die Matrosen im 19. Jahrhundert mit Wollhandschuhen in die Segel steigen? Oder eine Nacht in einem Polarwinter ertragen, bei minus fünfzig Grad und ständiger Dunkelheit, ohne Daunenjacke oder Fußbodenheizung? Es brauchte noch nicht mal verdorbene Konserven, TBC oder Skorbut, wie bei den unglücklichen Männern der Franklin-Expedition, um zu wissen, dass wir keinen Tag durchhalten würden. Wir waren kälteempfindliche Lappen, die in dieser Gegend nach Stoffen schürfen ließen, um Autos bauen zu lassen, die wir mit Geld bezahlten, das eine Bank für uns erfunden hatte. Wir waren so weit von allem entfernt, dass man schon von Entdecken sprechen konnte, wenn wir mal barfuß über einen Strand liefen.

Die See beruhigte sich, der Gegenwind blieb. In Zeitlupe knatterten wir zum Schiff zurück. Auf und ab. In der Ferne trieb ein kleiner Eisberg. Vorhin hatte ich Connor gefragt, was die türkisen Streifen in den Eisbergen zu bedeuten hatten.

Er sagte, wenn das Gletschereis schmolz, entstanden Rinnen, in die das Regenwasser lief. Wenn das fror, war es hohem Druck ausgesetzt. Je älter das Eis wurde, umso höher der Druck, und deswegen reflektierte es türkis. Wir Menschen waren auch so. Wenn wir weich wurden, ließen wir Erinnerungen in uns rein. Je älter wir wurden, umso länger waren sie hohem Druck ausgesetzt.

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