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gg) Die Königlichen Sondervollmachtenerlasse und die durch die gesetzgebende Gewalt bestätigten Erlasse[106]

71

Der Gerichtshof hat sich für die Kontrolle der Königlichen Sondervollmachtenerlasse, die mittels Gesetz bestätigt wurden, und generell sämtlicher Erlasse, die durch Gesetz, Dekret oder Ordonnanz bestätigt wurden, für zuständig erklärt.

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Bei einem sogenannten Königlichen „Sondervollmachtenerlass“ (KSVE) handelt es sich um einen Erlass, den der König auf der Grundlage eines ermächtigenden Gesetzes verabschiedet, das ihm erlaubt, während eines begrenzten Zeitraums und in genau festgelegten Bereichen gesetzgebend tätig zu werden. Mit einem solchen Erlass können bestehende Gesetze abgeändert, ergänzt oder sogar aufgehoben werden.[107] In gewissen Fällen wird im ermächtigenden Gesetz festgelegt, dass ein Königlicher Erlass einer nachträglichen gesetzlichen Bestätigung bedarf, doch ist dies nicht Gegenstand einer generellen Praxis (und ist im Übrigen auch nicht durch die Verfassung gefordert).

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Die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den KSVE ist seit langem unverändert. Im Hinblick auf das ermächtigende Gesetz – ein ordentliches Gesetz – bejaht der Gerichtshof seine Kontrollzuständigkeit. Bezüglich der KSVE und der Bestätigungsgesetze ist die Rechtsprechung differenzierter, da der Gerichtshof zwischen Erlassen mit und ohne Bestätigungsgesetz unterscheidet. Erfolgte keine Bestätigung, wird der KSVE als Akt der Exekutive angesehen und unterliegt somit weiterhin der Kontrolle durch die ordentlichen Gerichte (über Art. 159 der Verfassung) sowie durch die Verwaltungsstreitsachenabteilung des Staatsrates.[108] Im Falle der Bestätigung entspricht das Bestätigungsgesetz einem formellen Gesetz und kann daher vor dem Verfassungsgerichtshof angefochten werden, der sich zum Inhalt des bestätigten Erlasses,[109] jedenfalls soweit die Bestätigung reicht,[110] äußern kann. In einem solchen Fall übt der Gerichtshof seine Kontrolle sowohl bezüglich des Bestätigungsgesetzes als auch bezüglich des bestätigten KSVE aus.[111]

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Neben dem spezifischen Fall der KSVE gibt es auch noch andere Situationen, in denen einfache Erlasse Gesetzeskraft erlangen. Dabei verleiht der Gesetzgeber dem entsprechenden Erlass Gesetzesrang, wodurch dieser der Kontrolle durch die ordentlichen Gerichte sowie durch die Verwaltungsstreitsachenabteilung des Staatsrates entzogen und stattdessen der Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes unterstellt wird.[112]

hh) Die in Kriegszeiten verabschiedeten Erlassgesetze

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Bei den in Kriegszeiten verabschiedeten Erlassgesetzen handelt es sich um Normen, die während des Ersten und Zweiten Weltkriegs immer dann, wenn das Parlament aufgrund besonderer Umstände nicht zusammentreten konnte, außerhalb des Parlaments verabschiedet wurden.[113] Durch eine 1999 ergangene Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof sich für zuständig erklärt, um über die Verfassungsmäßigkeit dieser Erlassgesetze zu befinden.[114] Seine diesbezügliche Zuständigkeit begründete er wie folgt: „Obgleich die Gesetzeserlasse nicht ausdrücklich unter den Normen aufgeführt werden, die durch Art. 142 der Verfassung und durch Art. 1 und 26 des Sondergesetzes über den Schiedshof dem Gerichtshof zur Überprüfung vorgelegt werden, müssen der Verfassunggeber und der Sondergesetzgeber diese implizit ebenfalls erfasst haben, da den Gesetzeserlassen dieselbe Wirkung zukommt wie den eigentlichen Gesetzen. Dies gilt umso mehr, da ihr außergewöhnlicher Entstehungsprozess nicht die gleichen Garantien umfassen konnte wie der Entstehungsprozess der Gesetze“.[115]

jj) Die Zusammenarbeitsabkommen (innerbelgische Staatsverträge)

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Art. 92bis § 1 Abs. 1 des Sondergesetzes zur Reform der Institutionen vom 8. August 1980 besagt, dass der Staat, die Gemeinschaften und die Regionen Zusammenarbeitsabkommen abschließen können, die sich insbesondere auf die gemeinsame Gründung und Verwaltung gemeinschaftlicher Dienststellen und Einrichtungen, auf die gemeinsame Ausübung eigener Befugnisse oder auf die gemeinschaftliche Entwicklung von Initiativen beziehen. Zudem sieht Abs. 2 derselben Bestimmung eine Kontrolle in Form eines Zustimmungsgesetzes oder -dekretes vor.

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Anlässlich einer präjudiziellen Frage zu zwei Dekreten, die zur Genehmigung eines Zusammenarbeitsabkommens über die gemeinsame Ausübung von Befugnissen zweier Gebietskörperschaften erlassen wurden, hat der Gerichtshof im Jahr 1994 bestätigt, dass er nicht nur für eine Kontrolle der Dekrete, sondern mittelbar ebenfalls des Zusammenarbeitsabkommens zuständig ist.[116]

78

Es sei noch darauf hingewiesen, dass die Frist für eine Nichtigkeitsklage gegen eine Gesetzesnorm, die ein Zusammenarbeitsabkommen genehmigt, nicht auf sechzig Tage begrenzt ist, wie dies für Zustimmungsgesetze zu internationalen Verträgen der Fall ist.[117]

kk) Die Rechtslücken

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Schließlich kann der Verfassungsgerichtshof auch mit einer Rechtslücke konfrontiert werden, also mit einer „Norm, durch die die Gleichheit insofern verletzt wird, als sie nicht weit genug geht“, da sie „gewissen Kategorien von Personen Rechte, einen Status oder Vorteile vorbehält, die sie anderen vergleichbaren Kategorien verwehrt, ohne dass diese – tatsächlich gegebene – unterschiedliche Behandlung objektiv und vernünftig begründet werden könnte“.[118] Eine solche Situation kann sowohl im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens als auch einer Nichtigkeitsklage auftreten und durch den Gerichtshof für verfassungswidrig erklärt werden. Dabei kann der Gerichtshof den anwendenden Richter sogar dazu auffordern, bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber zunächst selbst für Abhilfe zu sorgen.[119]

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Der Gerichtshof hat diese die Rechtslücken betreffende Rechtsprechung mit dem Urteil Nr. 31/1996 eingeführt. In diesem Fall beanstandete ein Kläger das Fehlen der Möglichkeit einer Nichtigkeitsklage gegen Verwaltungsakte von gesetzgebenden Versammlungen, wohingegen eine entsprechende Nichtigkeitsklage gegen Verwaltungsakte von Verwaltungsbehörden erhoben werden kann.[120]

c) Der Prüfungsmaßstab

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Nachdem dargelegt wurde, welche Normen durch den belgischen Verfassungsgerichtshof kontrolliert werden, ist nunmehr auf diejenigen Normen einzugehen, die als Maßstab für die Kontrolle einer Norm mit Gesetzesrang dienen. Wie bereits erwähnt, erfolgt diese Kontrolle in Belgien nicht anhand der gesamten Verfassung, sondern lediglich anhand einiger Verfassungsbestimmungen.

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Allerdings kann immer weniger behauptet werden, dass es sich bei der durch den Verfassungsgerichtshof ausgeübten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nur um eine eingeschränkte Kontrolle handelt. Denn seit der Schaffung des Gerichtshofes haben der Verfassunggeber und der Sondergesetzgeber zwei bedeutende Kompetenzerweiterungen vorgenommen. Während der Gerichtshof zu Beginn lediglich dafür zuständig war, die Beachtung der jeweiligen Kompetenzbereiche der verschiedenen Gesetzgeber zu überprüfen, wurde ihm zwischen 1988 und 2003 schrittweise die Rolle eines Hüters der Rechte und Freiheiten übertragen.[121]

83

Die verfassungsmäßige Verankerung der entsprechenden Zuständigkeit des Gerichtshofes findet sich in Art. 142 Abs. 2 der Verfassung. Danach umfasst der Kontrollmaßstab der belgischen Verfassungsgerichtsbarkeit drei Gruppen von Bestimmungen:


die Bestimmungen, mit denen eine Zuständigkeitsverteilung zwischen der Föderalbehörde, den Gemeinschaften und den Regionen vorgenommen wird,
die Art. 10, 11 und 24 der Verfassung sowie
die Verfassungsartikel, die ein mit besonderer Mehrheit verabschiedetes Gesetz benennt (Sondergesetz).

In Anwendung von Art. 142 Abs. 2 Nr. 3 wurde dem Gerichtshof anhand des Sondergesetzes vom 9. März 2003[122] die Zuständigkeit übertragen, über die Verletzung der Bestimmungen von Titel II „Die Belgier und ihre Rechte“ und der Art. 170, 172 und 191 der Verfassung zu erkennen.[123]

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In den nachstehenden Ausführungen wird zuerst untersucht, was der Verfassunggeber unter den Normen der Zuständigkeitsverteilung versteht (a). In einem zweiten Abschnitt folgt eine Analyse von Titel II der Verfassung, „Die Belgier und ihre Rechte“, sowie der Hüterfunktion bezüglich der Grundrechte im Allgemeinen, auf die der Gerichtshof nach und nach Anspruch erhoben hat (b).

aa) Normen föderaler Kompetenzverteilung

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Ursprünglich wurde der Gerichtshof mit der Beilegung der Kompetenzkonflikte zwischen der Föderalbehörde (Bund) und den verschiedenen Gebietskörperschaften beauftragt. Die Aufteilung dieser Kompetenzen erfolgt auf der Grundlage von Regeln, die durch die Verfassung oder aufgrund der Verfassung geschaffen wurden.

 

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Die Normen föderaler Kompetenzverteilung übertragen Zuständigkeiten auf die Gebietskörperschaften oder behalten diese der Föderalbehörde vor.[124] Wie dies Patricia Popelier anmerkt, kann es sich dabei sowohl um materielle Zuständigkeiten als auch um ergänzende Zuständigkeiten handeln, wobei letztere den Körperschaften zuerkannt werden, um diese in die Lage zu versetzen, ihre materiellen Zuständigkeiten vollumfänglich auszuüben.[125] Zudem verfügt die Föderalbehörde wegen des zentrifugalen Charakters des belgischen Föderalismus[126] über eine Restzuständigkeit.[127]

87

Die Normen föderaler Kompetenzverteilung haben nicht unbedingt Verfassungsrang; sie können auch einfachgesetzlichen Rang oder sogar Verordnungscharakter haben.[128] Es kann also vorkommen, dass der Gerichtshof ein ordentliches Gesetz der Kontrolle am Maßstab eines Königlichen Erlasses unterzieht, insofern der Erlass eine Bestimmung hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung enthält.[129]

88

Was die kompetenzbezogenen Regeln mit Verfassungsrang betrifft, gestaltet es sich schwierig, diese innerhalb der Gesamtheit der Verfassungsbestimmungen genau zu identifizieren. Es scheint jedoch allgemein anerkannt, dass folgende Artikel der Verfassung Regelungen über die föderaler Kompetenzverteilung enthalten: Art. 4, 8, 9, 24, 74, 84, 89, 127–130, 133, 145, 146, 175, 176, 177, 178, 195 und 198.[130]

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Die meisten Normen der föderalen Zuständigkeitsverteilung sind hingegen in Sondergesetzen und ordentlichen Gesetzen enthalten, die im Rahmen der institutionellen Reformen des Föderalisierungsprozesses erlassen wurden oder sonst kompetenzzuweisenden Charakter haben.[131] Anzumerken ist jedoch, dass die Sondergesetze nicht in ihrer Gesamtheit als Kompetenznormen angesehen werden. So ist ein Artikel, der die Arbeitsweise der Parlamente der Gemeinschaften und Regionen regelt, nicht Prüfungsmaßstab des Gerichtshofes.[132]

90

Die Zuständigkeit des Gerichtshofes hängt nicht davon ab, dass ein Konflikt zwischen zwei Normen verschiedener Gesetzgeber besteht. Er kann auch über lediglich potentielle Konflikte entscheiden, sich also dazu äußern, ob ein Gesetz oder ein Dekret im Widerspruch zu Normen föderaler Kompetenzverteilung steht, ohne dass ein anderer Rechtsetzer notwendigerweise ein Gesetz oder ein Dekret mit widersprechendem Inhalt hätte verabschieden müssen.[133]

91

Der Verfassungsgerichtshof greift aber erst ein, nachdem ein Hoheitsträger eine Norm verabschiedet hat, die möglicherweise die Zuständigkeitsverteilung missachtet. Er wird nicht vorbeugend tätig, um einen Kompetenz- oder Interessenkonflikt zwischen den verschiedenen Hoheitsträgern zu vermeiden, aus denen sich der Föderalstaat zusammensetzt.[134]

92

Vorbehaltlich dessen, was bereits weiter oben angemerkt wurde, ist der Gerichtshof auch nicht für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf Zusammenarbeitsabkommen zuständig.[135]

93

Hervorzuheben ist zudem, dass der Gerichtshof bei seiner Rechtsprechung hinsichtlich der Aufteilung der Zuständigkeiten eine bestimmte Prüfungsreihenfolge beachtet. Er führt zuerst eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in Bezug auf die materielle Kompetenz durch und anschließend hinsichtlich der territorialen Aufteilung der Kompetenzen. Stellt er bereits eine Überschreitung der materiellen Kompetenz fest, dann nimmt er keine Prüfung der territorialen Zuständigkeit mehr vor.[136]

bb) Der Schutz der Grundrechte

94

Wie gesehen, prüfte der Gerichtshof anfänglich die ihm vorgelegten Normen lediglich am Maßstab der Kompetenzverteilung. Diese Situation änderte sich mit der Staatsreform der Jahre 1988–1989, als der Verfassunggeber die durch den Gerichtshof ausgeübte Kontrolle auf die Art. 10, 11 und 24 der Verfassung ausweitete.[137] Auch wenn dem Gerichtshof die Zuständigkeit zur Beurteilung der Grundrechtskonformität von Gesetzesnormen nicht formell zuerkannt worden war, nahm er die Grundrechte doch in seinen Prüfungsmaßstab auf, indem er die eigenen Zuständigkeiten weit auslegte (1). Der Gesetzgeber erkannte die derart durch den Gerichtshof bewirkte Zuständigkeitserweiterung 2003 formell an, wodurch dieser ausdrücklich ermächtigt wurde, die Gesetze, Dekrete und Ordonnanzen in Bezug auf den gesamten Titel II sowie die Art. 170, 172 und 191 der Verfassung zu prüfen[138] (2).

(1) Der „Umweg“ über die Grundsätze der Gleichheit und Nichtdiskriminierung

95

Bereits die ersten Urteile, die Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz betrafen, machten deutlich, dass der Gerichtshof nicht gewillt war, sich in den engen Rahmen seiner Zuständigkeiten zwängen zu lassen. So stellte er klar, dass er die Art. 10 und 11 der Verfassung zukünftig weit auslegen werde.[139] Dem lag folgende Überlegung zugrunde: Jede Verletzung eines Grundrechtes kann im Widerspruch zu den Grundsätzen der Gleichheit und Nichtdiskriminierung stehen, wenn das fragliche Grundrecht einer Person oder einer Gruppe von Personen entzogen wird, gleichzeitig jedoch uneingeschränkt für jede andere Person weiter gelten würde; daraus ergibt sich, dass der Gerichtshof auch für diese Konstellationen zuständig ist.[140]

96

Der Gerichtshof übt demzufolge seine Kontrolle über jede Art der Diskriminierung ungeachtet ihres Ursprungs aus. Auf diese Weise erweitert er seine Zuständigkeit auf alle Grundrechte und -freiheiten, unabhängig davon, ob diese durch die Verfassung gewährleistet werden[141] oder durch eine Norm des internationalen Vertragsrechts mit oder ohne unmittelbare Wirkung (wie im Falle der EMRK).[142] Durch diese Vorgehensweise hat der Gerichtshof sich die Kompetenz zuerkannt, mittelbar die Übereinstimmung der innerstaatlichen Rechtsnormen mit Normen des internationalen Rechts zu prüfen.

97

Diese Methode, die es dem Gerichtshof erlaubt, die Übereinstimmung der Gesetzesnormen mit den Grundrechten zu überprüfen, wird Kombinationsmethode genannt. Denn die Parteien müssen sich immer auf eine Verletzung der Art. 10 und 11 der Verfassung in Verbindung mit einer Bestimmung, durch die ein spezifisches individuelles Recht geschützt wird, berufen.[143]

98

Entsprechend kommt den Art. 10 und 11 der Verfassung in der Rechtsprechung des Gerichtshofes eine große Bedeutung zu. Denn die Argumentation der Beschwerdeführer vor dem Gerichtshof beruht in den meisten Fällen auf den Grundsätzen der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, wobei diese entweder allein oder zusammen mit anderen Bestimmungen vorgebracht werden.[144]

99

Hinsichtlich der Definition der Gleichheit und Nichtdiskriminierung bleibt die Rechtsprechung des Gerichtshofes bemerkenswert konstant. So formuliert der Gerichtshof in einem Großteil seiner Urteile, dass

„[d]ie Verfassungsvorschriften der Gleichheit und des Diskriminierungsverbots nicht ausschließen, dass ein Behandlungsunterschied zwischen Kategorien von Personen eingeführt wird, soweit dieser Unterschied auf einem objektiven Kriterium beruht und in angemessener Weise gerechtfertigt ist. Das Vorliegen einer solchen Rechtfertigung ist im Hinblick auf Zweck und Folgen der beanstandeten Maßnahme sowie auf die Art der einschlägigen Grundsätze zu beurteilen; es wird gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, wenn feststeht, dass die eingesetzten Mittel in keinem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen.“[145]

100

Diese Formel lässt erkennen, dass der Gerichtshof zunächst die Vergleichbarkeit der Kategorien untersucht. Kommt er zu dem Schluss, dass die Kategorien ausreichend vergleichbar sind, überprüft er anschließend die Objektivität und die Stichhaltigkeit des seitens des Gesetzgebers verwendeten Unterscheidungskriteriums. Zum Schluss prüft er die Angemessenheit und die Verhältnismäßigkeit zwischen der angewendeten Maßnahme und dem durch die beanstandete Norm verfolgten Sinn und Zweck.[146]

101

Diese extensive Auslegung der Zuständigkeiten hatte zunächst für heftige Diskussionen gesorgt. Seit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung des SGVerfGH im Jahre 2003, durch das die weite Auslegung des Gerichtshofes bestätigt wurde, sind diese jedoch nur noch Geschichte.

(2) Die gesetzliche Kompetenzerweiterung

102

Im Jahre 2003 erkannte der Sondergesetzgeber die Rechtsprechung des Gerichtshofes ausdrücklich an und erweiterte dessen Zuständigkeit auf die Gesamtheit der Bestimmungen von Titel II der Verfassung, der den Großteil der verfassungsrechtlich garantierten Rechte und Freiheiten enthält. Seitdem besteht, zumindest bezüglich der Gewährleistungen des Titel II der Verfassung, eine direkte Kontrolle durch den Gerichtshof; der „Umweg“ über die Grundsätze der Gleichheit und Nichtdiskriminierung ist nicht mehr erforderlich.

103

Hinsichtlich der durch einen internationalen Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten mit ähnlicher Tragweite wie diejenigen in Titel II der Verfassung entwickelte der Gerichtshof eine eigenständige Rechtsprechung. Dazu schuf der Gerichtshof im Urteil Nr. 136/2004 vom 22. Juli 2004 die sogenannte Theorie des unteilbaren Ganzen:

„Wenn jedoch eine Vertragsbestimmung, die für Belgien verbindlich ist, eine Tragweite hat, die derjenigen einer oder mehrerer der Verfassungsbestimmungen [von Titel II] entspricht, bilden die in dieser Vertragsbestimmung enthaltenen Garantien ein unteilbares Ganzes mit den in den betreffenden Verfassungsbestimmungen aufgenommenen Garantien“.[147]

104

Daraus ergibt sich, dass der Gerichtshof, sobald die Verletzung einer Bestimmung von Titel II angeführt wird, bei seiner Prüfung denjenigen Normen des internationalen Rechts Rechnung trägt, die entsprechende Rechte und Freiheiten garantieren.[148] Zudem misst der Gerichtshof der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ebenfalls eine ganz besondere Bedeutung bei und verweist mitunter auch ausdrücklich auf dessen Entscheidungen.[149]

105

Im Jahre 2003 wurde die Zuständigkeit des Gerichtshofes allerdings nicht nur auf den gesamten Titel II der Verfassung ausgeweitet, sondern erstreckt sich seitdem ebenfalls auf die Art. 170, 172 und 191 der Verfassung. Die beiden ersten Artikel schreiben die Grundsätze der Steuergleichheit und -gesetzmäßigkeit fest, während in Art. 191 der Anwendungsbereich von Titel II der Verfassung auf sich auf belgischem Staatsgebiet befindliche Ausländer ausgedehnt wird. Allerdings sieht die Verfassung vor, dass für den in Art. 191 festgeschriebenen Grundsatz durch Gesetz Ausnahmen festgelegt werden können.

§ 96 Der belgische Verfassungsgerichtshof › II. Der belgische Verfassungsgerichtshof › 4. Das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof