Ius Publicum Europaeum

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4. Muss das Bundesverfassungsgericht sich neu erfinden?

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Nach den glorreichen Jahrzehnten des BVerfG stellt sich daher die Frage, ob das Gericht sich angesichts der vielfältigen Herausforderungen nicht doch zu einem gewissen Grade neu erfinden muss. Jenseits der durch die Europäisierung und Internationalisierung bedingten Herausforderung, steht das Gericht weiterhin vor dem Problem, eine unüberschaubare Anzahl von Verfassungsbeschwerden bewältigen zu müssen. Die großzügige Nutzung der Spielräume des derzeitigen Annahmeverfahrens ist dem Gericht angesichts dessen kaum vorzuwerfen. Sie schränkt aber den Charakter des BVerfG als für jedermann zugängliches Bürgergericht erheblich ein. Das Gericht kann aus dieser Falle nicht mit eigener Kraft herauskommen, sondern sich allenfalls bemühen, die Ausgestaltung des Annahmeverfahrens so transparent und regelgeleitet wie möglich vorzunehmen.

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Das BVerfG ist zudem mit dem Problem konfrontiert, dass es stets aufs Neue die inhärenten Folgen der eigenen dogmatischen Erfindungen bewältigen muss. An dieser Stelle seien nur drei markante Beispiele genannt: So effektiv wirkungsvoll die Subjektivierung des objektiven Verfassungsrechts einerseits war, so sehr führt sie die umgekehrte Bewegung der Objektivierung subjektiver Rechte auf prozessualer Ebene dazu, dass das Anliegen des Individualrechtsschutzes geschwächt wird. Die umfangreiche Verschiebung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen in das Kammerverfahren wirkt entlastend und verstärkt die Tiefenwirkung des Gerichts. Zugleich führt die immer größere Anzahl – auch publizierter – Kammerentscheidungen zu einer neuen Unübersichtlichkeit, die den orientierenden Effekt für die Fachgerichtsbarkeit schmälert. Schließlich stößt die erfolgreiche und vielfach nützliche Technik der Maßstabsbildung auch an Grenzen, weil eine Ausdifferenzierung der Rechtsprechung sich oftmals nur unter Veränderung des Maßstabs erreichen lässt. Diese materielle Verfassungsrechtsänderung geht dem auf Bewahrung bedachten Gericht aber nicht leicht von der Hand, weil es die Maßstäbe vielfach als verfassungspolitische Programmsätze formuliert hat. Das BVerfG ist also, will es sich nicht um die Früchte seiner Arbeit bringen und weiterhin ein starker verfassungspolitischer Akteur bleiben, stets darauf angewiesen, sich weiterzuentwickeln und die eigenen dogmatischen Figuren und Konzeptionen im materiellen wie im prozeduralen Bereich zu überarbeiten, anzupassen und neu zu legitimieren.

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Schließlich steht Art und Weise, in der das BVerfG gesetzgeberische Entscheidungen überprüft, zunehmend in der Kritik. Dies lässt sich auf die Praxis des BVerfG zurückführen, detaillierte Übergangsregelungen zu erlassen und Gesetzgebung an den Kriterien der Kohärenz und Folgerichtigkeit zu messen. Diese Einengung des politischen Prozesses auf nationaler Ebene steht in frappierendem Gegensatz zur idealisierten Darstellung der Funktionsweise der nationalen Legislative in der Europarechtsprechung. So sehr das BVerfG die Handlungsspielräume der nationalen Legislative in europäischen Fragen schützen will, so sehr schränkt es sie in nationalen Fragen ein. In dieser Rechtsprechung liegt eine Unwucht, die sich nur kontextbezogen erklären lässt. Im nationalen Kontext sind die Konkurrenten des Gerichts um die Deutungshoheit über das Grundgesetz die (anderen) Verfassungsorgane, insbesondere die Legislativorgane. Hier kann das Gericht strategische Landgewinne erzielen, wenn es den politischen Prozess frühzeitig verfassungsrechtlich anzuleiten versucht.

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In Europa liegen die Dinge anders: Hier ist das BVerfG nicht allein aufgrund der eigenen dogmatischen Innovationskraft zum Motor des Siegeszuges der Verfassungsgerichtsbarkeit geworden. Vielmehr ist es nicht zuletzt auch deshalb ein viel beachtetes Verfassungsgericht in Europa, weil das politische und ökonomische Gewicht Deutschlands in Europa seit 1945 stetig gewachsen ist. Dies verleiht den Entscheidungen des BVerfG grenzüberschreitend ein besonderes politisches Gewicht. Insofern ist es nachvollziehbar, dass das BVerfG sich selbst auch in gewisser Weise als Akteur deutscher Außenpolitik begreift. Der Schutz nationaler politischer und ökonomischer Interessen stärkt im Zweifel auch die Position des BVerfG in Europa. Selbstverständlich ist der Schutz der Geltungskraft des Grundgesetzes die genuine Aufgabe des BVerfG. Das Verständnis verfassungsrechtlicher Prinzipien unterliegt aber gleichwohl einem gesellschaftlichen und politischen Wandel, den das BVerfG berücksichtigen muss.[544] In vielen Bereichen ist ihm dies gelungen. Im Bereich der horizontalen und vertikalen Öffnung des Grundgesetzes im europäischen Rechtsraum steckt dieser Prozess dagegen noch in den Anfängen. Gerade hier liegen zentrale Herausforderungen der Zukunft. Das BVerfG muss sich daher zwar nicht neu erfinden, aber doch substanziell weiterentwickeln. Konkret muss es sich in dreifacher Weise öffnen: Es sollte erstens den bereit stattfindenden Austausch mit seinen europäischen Kollegen dazu nutzen, das Potenzial der Verfassungsvergleichung in seiner Rechtsprechung zu entfalten und so zur Entwicklung eines europäischen Verfassungsverständnisses beizutragen. Zweitens sollte es sich gegenüber dem politischen Prozess öffnen und seine Rechtsprechung darauf umstellen, politische Entscheidungsfindung durch die nationale und die europäische Legislative zu ermöglichen, anstatt sie zu steuern. Schließlich sollte sich das BVerfG der transnationalen Fortentwicklung seines Demokratieverständnisses nicht verschließen, sondern sich an der Entwicklung dogmatischer und theoretischer Angebote beteiligen, wie die bestehenden normativen Anforderungen des Grundgesetzes auch in demokratischen Strukturen jenseits des Staates gewahrt werden können.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › Bibliographie

Bibliographie


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Rainer Wahl, Das Bundesverfassungsgericht im europäischen und internationalen Umfeld, Aus Politik und Zeitgeschichte APuZ, B 37–38/2001, S. 45

Anmerkungen

[1]

 

Zu den umfangreichen Besuchen von Richtern anderer Gerichte: Dieter Grimm, Verfassungspatriotismus nach der Wiedervereinigung, in: Brunkhorst/Niesen (Hg.), Das Recht der Republik, 1999, S. 305. Zur Orientierung am BVerfG als Modell siehe auch: László Sólyom, § 107, in diesem Band, Rn. 7; in Frankreich zeigte sich dagegen zunächst eine Abgrenzung von der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tradition des BVerfG Olivier Jouanjan, § 99, in diesem Band, Rn. 22.

[2]

Donald P. Kommers, Can German Constitutionalism Serve as a Model for the United States?, ZaöRV 58 (1998), S. 787, 788.

[3]

Jutta Limbach, Wirkungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Hanau/Heither/Kühling (Hg.), Richterliches Arbeitsrecht. FS für Thomas Dieterich, 1999, S. 344.

[4]

Gerhard Robbers, Geschichtliche Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 22005, Rn. 3ff.

[5]

Zu den strukturellen Unterschieden: Gerd Roellecke, § 67, HStR, Bd. III, 32005, Rn. 5.

[6]

Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, 22012, S. 134.

[7]

Ebd., S. 138.

[8]

Robbers (Fn. 4), Rn. 5.

[9]

Juan Luis Requejo Pagés, § 106, in diesem Band, Rn. 14; Maria Lúcia Amaral/Ravi Alfonso Pereira, § 104, in diesem Band, Rn. 19; László Sólyom § 107 Rn. 18; ähnlich auch: Leonard Besselink, § 101, in diesem Band, Rn. 22; Jouanjan § 99 Rn. 14, 17. Zur Funktion des Reichskammergerichts und des Reichskammergerichts und des Reichshofrats: Ulrich Scheuner, Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. I, 1976, S. 13ff.

[10]

Robbers (Fn. 4), Rn. 6.

[11]

Robbers (Fn. 4), Rn. 7.

[12]

Scheuner (Fn. 9), S. 15.

[13]

Der Begriff der Verfassung („Konstitution“) fand bereits Verwendung (Scheuner [Fn. 9], S. 14 m.w.N.), in der Sache unterschieden sich die damaligen Fundamentalgesetze aber vom modernen Verfassungsverständnis.

[14]

Scheuner (Fn. 9), S. 17.

[15]

Robbers (Fn. 4), Rn. 11.

[16]

Robbers (Fn. 4), Rn. 10.

[17]

Scheuner (Fn. 9), S. 20ff.

[18]

Scheuner (Fn. 9), S. 28ff. Dazu Hans Joachim Faller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849, in: Leibholz (Hg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. FS für Willi Geiger, 1974, S. 827, insbesondere 853f.

[19]

Helmut Steinberger, American Constitutionalism and German Constitutional Development, in: Henkin/Rosenthal (Hg.), Constitutionalism and Rights: The Influence of the United States Constitution Abroad, 1990, S. 199, 204; Bodo Pieroth, Amerikanischer Verfassungsexport nach Deutschland, NJW 1989, S. 1333, 1334. Eine ausführliche Darstellung des Einflusses des US-amerikanischen Verfassungsrechts auf die Paulskirchenverfassung findet sich bei: Peter E. Quint, in diesem Band, § 109 Rn. 25ff. Ähnliche inspirierende Wirkung hatte der US Supreme Court in Spanien, Requejo Pagés § 106 Rn. 2 und Ungarn, Sólyom § 107 Rn. 15; in Frankreich hatte der US Supreme Court dagegen eher abschreckende Effekte: Jouanjan § 99 Rn. 19.

[20]

Steinberger (Fn. 19), S. 205; ebenso Klaus von Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluß der amerikanischen Demokratie in der Welt, 1986, S. 119ff.

[21]

Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 92012, Rn. 1.

[22]

Dass dies eine für Preußen inakzeptable Gleichstellung mit den kleineren und mittleren Einzelstaaten bedeutet hätte, betont: Heinrich Triepel, Die Reichsaufsicht. Untersuchungen zum Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1917, S. 97, 99f.

[23]

Scheuner (Fn. 9), S. 37; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 128 III d), S. 381f.

[24]

Dazu auch Sólyom § 107 Rn. 14.

[25]

Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30ff.

[26]

Robbers (Fn. 4), Rn. 17. Auf das österreichische Vorbild verweist auch Heinrich Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 4f. Brun-Otto Bryde will daher mit Blick auf das Merkmal der Kontrolle des Gesetzgebers die Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit i.e.S. mit der österreichischen Bundesverfassung von 1920 beginnen lassen, ders., Verfassungsentwicklung, 1982, S. 100.

[27]

Zur Entwicklung in Österreich: Christoph Grabenwarter, in diesem Band, § 102 Rn. 15ff.

[28]

Triepel (Fn. 26), S. 4 hat den Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit in der deutschen Rechtswissenschaft eingeführt.

[29]

Gerhard Robbers, Die historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, Juristische Schulung 1990, 257, 262f.

[30]

Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 209ff.; Stern (Fn. 23), § 129 IV 6, S. 646ff.

[31]

Insbesondere Carl Schmitt sah in der Prüfung von Gesetzen am Maßstab der Verfassung und der gerichtlichen Entscheidung über die Auslegung der Verfassung eine politische Tätigkeit, ders., Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: Schreiber (Hg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. I, 1929, S. 154, 161f., 163f.

 

[32]

So die Definition von Triepel (Fn. 26), S. 6.

[33]

Zeitgenossen kritisierten insbesondere die fehlende verfassungsgerichtliche Kontrolle von Reichsgesetzen am Maßstab der Verfassung, wie die Empfehlungen des Heidelberger Juristentages 1924 und des Kölner Juristentages 1927 zeigen (dazu die Nachweise bei: Gusy [Fn. 30], S. 218, Fn. 54). In die gleiche Richtung gingen auch Überlegungen von Walter Jellinek, Der Schutz des öffentlichen Rechts durch ordentliche und durch Verwaltungsgerichte, VVDStRL 2 (1925) S. 8, 38ff. Für die Einführung einer allgemeinen Normenkontrolle trat auch Hans Kelsen ein, dessen Einfluss bereits maßgeblich die Entwicklung der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit geprägt hatte, ders. (Fn.25). Vorsichtiger aber mit ähnlicher Stoßrichtung: Triepel (Fn. 26), S. 27f. Ähnliche Überlegungen zeigten sich mit Blick auf die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte bei Erich Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109, VVDStRL 3 (1926), S. 2, 6.

[34]

RGZ 111, 320 (322f.).

[35]

Gusy (Fn. 30), S. 222f. betont, dass eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit umfangreicheren Kompetenzen und stärkerer institutioneller Verankerung nicht zwangsläufig einen wirksameren Schutz der Weimarer Verfassung gegen den Erfolg des Nationalsozialismus geboten hätte.

[36]

Heinz Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess, 1968, S. 39f., 52f.

[37]

So Konrad Adenauer in der 17. Sitzung des Zonenbeirats, zitiert bei: Laufer (Fn. 36), S. 54.

[38]

Walter Strauss, Die Oberste Bundesgerichtsbarkeit, 1949, S. 10, 28.

[39]

Kritisch dazu Laufer (Fn. 36), S. 57.

[40]

Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger (Hg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 9, 14.

[41]

Laufer (Fn. 36), S. 44f.

[42]

Laufer (Fn. 36), S. 93f.

[43]

Es wurde lediglich in Art. 94 Abs. 2 GG festgelegt, dass die Frage, wann Entscheidungen des BVerfG Gesetzeskraft haben, durch Bundesgesetz zu regeln sei.

[44]

Eine ausführliche Darstellung bei Laufer (Fn. 36), S. 95ff. und Wolfgang Kralewski/Karlheinz Neunreither, Oppositionelles Verhalten im ersten Deutschen Bundestag 1949–1953, 1963, S. 186–191. Letztere argumentieren, dass in diesen Verhandlungen zum Ausdruck gekommen sei, dass die SPD ein stärker politisches Verfassungsgericht präferierte, während die Regierungsparteien die Gerichtsqualität des Verfassungsgerichts betonten, S. 191.

[45]

Dieter Gosewinkel, Adolf Arndt: Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geiste der Sozialdemokratie (1945–1961), 1991, S. 197f.

[46]

Gosewinkel (Fn. 45), S. 203.

[47]

Norbert Frei, Transformationsprozesse. Das Bundesverfassungsgericht als vergangenheitspolitischer Akteur in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, in: Stolleis (Hg.), Herzkammern der Republik, 2011, S. 64f.

[48]

Zu den Hintergründen: Laufer (Fn. 36), S. 382, 384ff.

[49]

Die Besetzung erklärt Udo Wengst mit den unterschiedlichen Einschätzungen von Regierung und Opposition hinsichtlich der Relevanz beider Senate, ders., Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953, 1984, S. 241, 243.

[50]

BVerfGE 1, 281 – Wiederbewaffnung I.

[51]

BVerfGE 1, 396, 398 – Wiederbewaffnung II.

[52]

BVerfGE 1, 281f. – Wiederbewaffnung I.

[53]

BVerfGE 1, 282f. – Wiederbewaffnung I.

[54]

BVerfGE 1, 396, 413f. – Wiederbewaffnung II.

[55]

BVerfGE 2, 79, 81 – Wiederbewaffnung III. Diese Motive lagen nach einer entsprechenden Intervention durch die Regierungspolitiker Konrad Adenauer (CDU) und Thomas Dehler (FDP) nahe: Laufer (Fn. 36), S. 398.

[56]

Richard Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, 1994, S. 32.

[57]

Häußler (Fn. 56), S. 32.

[58]

Einer vergleichbaren Herausforderung war der US Supreme Court schon im Jahr 1793 ausgesetzt, als er eine Bitte um Erstellung einer advisory opinion von Präsident George Washington zurückwies (Letter from the Justices of the Supreme Court to President George Washington [8. August 1793], abgedruckt in: Stewart Jay, Most Humble Servants: The Advisory Role of Early Judges, 1997, S. 179f.). Auch das ungarische Verfassungsgericht hatte sich in seinen Anfangsjahren gegen die Rolle als parlamentarischer Berater zur Wehr zu setzen, Sólyom § 107 Rn. 52.

[59]

Schönberger (Fn. 40), S. 22.

[60]

BVerfGE 2, 81, 86–98.

[61]

BVerfGE 2, 81, 83, 97.

[62]

Laufer (Fn. 36), S. 401.

[63]

Die unmittelbaren zeitgenössischen Reaktionen auf die Entscheidung fielen allerdings kritischer aus: Dort war von einer „Verfassungskrise“ und einem „Rechtsbruch“ durch das Gericht die Rede, dazu Oliver Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 186ff.

[64]

Bundesverfassungsgericht, Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts. Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juni 1952, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 6 (1957), S. 144, 145.

[65]

Ebd.

[66]

Dietrich Herrmann, Akte der Selbstautorisierung als Grundstock institutioneller Macht von Verfassungsgerichten, in: Vorländer (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit (2006), S. 141, 157ff. der vergleichbare Akte der Selbstautorisierung in Deutschland, den USA und Frankreich nachzeichnet. Dazu Jouanjan § 99 Rn. 23; Quint, in diesem Band, § 109 Rn. 76.

[67]

Ausführliche Darstellung bei Lembcke (Fn. 63), 2007, S. 93ff.

[68]

Entschieden wurde der Konflikt letztlich durch die Entscheidungen von Bundesrat und Bundestag, die interessanterweise gegen die Auffassung der Bundesregierung für eine stärkere Unabhängigkeit des BVerfG votierten. Ausführlich Häußler (Fn. 56), S. 22, 26f.

[69]

Die Bedeutung dieser Aspekte für die strukturelle Selbständigkeit betont: Lembcke (Fn. 63), S. 91ff.

[70]

Aufschlussreich für diese Konfliktlinie ist die Kritik des vom Bundesjustizministerium bestellten Gutachters Richard Thoma, dargestellt bei Lembcke (Fn. 63), S. 96ff.

[71]

Diese Konkurrenz befeuerte auch die Emanzipationsbedürfnisse des BVerfG wie die Denkschrift zeigt: Bundesverfassungsgericht (Fn. 64), S. 147.

[72]

In seiner Doktorarbeit „Über die Rechtsstellung des Schriftleiters nach dem Gesetz vom 4. Oktober 1933“ forderte er u.a., dass der Schriftleiter grundsätzlich „arischer Abstammung“ sein müsse und lobte, dass das Gesetz „den übermächtigen, volksschädigenden und kulturzersetzenden Einfluss der jüdischen Rasse auf dem Gebiet der Presse beseitigt“ habe. Klaus-Detlev Godau-Schüttke, Entnazifizierung und Wiederaufbau der Justiz, in: Schuman (Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren: Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, 2008, S. 189, 203ff.

[73]

Helmut Kramer, Die Aufarbeitung des Faschismus durch die Nachkriegsjustiz der Bundesrepublik Deutschland, in: Fangmann/Paech (Hg.), Recht, Justiz und Faschismus, 1984, S. 75, 80.

[74]

Hans Joachim Faller, Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof: Zum Verhältnis beider Gerichtshöfe in fast 40-jähriger Jurisdiktion, AöR 115 (1990), S. 185, 189f.

[75]

Faller (Fn. 74), S. 191.

[76]

Faller (Fn. 74), S. 192.

[77]

BVerfGE 3, 58, 95ff., 115 – Beamtenurteil.

[78]

Ausführliche Darstellung bei Frei (Fn. 47), S. 72ff. Deutliche Kritik kam nicht zuletzt aus den Reihen der deutschen Staatsrechtslehre wie die Beiträge von Richard Naumann und Hans Spanner auf der Tagung der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer 1955 belegen: Richard Naumann, VVDStRL 13 (1955), S. 88, 110ff.; Hans Spanner, VVDStRL 13 (1955), S. 119, 131ff., 138f. Ernst Forsthoff stellte fest, dass „das Bild des nationalsozialistischen Staates, das das Urteil entwirft […] den Leser so nicht überzeugt.“ Ders., Das Bundesverfassungsgericht und das Berufsbeamtentum, Deutsches Verwaltungsblatt 69 (1954), S. 69.

[79]

BGHZ 13, 265, 299.

[80]

Ebd.

[81]

BVerfGE 6, 132, 150ff. – Gestapo-Beschluss.

[82]

BVerfGE 6, 132, 180 – Gestapo-Beschluss.

[83]

So hat beispielsweise das ungarische Verfassungsgericht einen radikalen Bruch mit der realsozialistischen Vergangenheit vermieden, Sólyom § 107 Rn. 9.

[84]

BVerfG, 39, 334, 370 – Extremistenbeschluss. Betroffen waren hauptsächlich Aktivisten der Studentenproteste. Der EGMR stellte schließlich 1995 fest, dass ein Berufsverbote gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 10 und 11 EMRK) verstoße, EGMR, Nr. 17851/91, Urteil vom 26.9.1995, Serie 8, Nr. 323, Rn. 54ff., 66ff. – Vogt/Deutschland.

[85]

Ingo Müller, Furchtbare Juristen, 22014, S. 276f.

[86]

So Harlans Selbstbezeichnung in BVerfGE 7, 198, 222 – Lüth.

[87]

Die implizit in der Urteilsbegründung zum Ausdruck kommende Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur, insbesondere mit den Arbeiten von Günter Dürig, betont Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassungsordnung, 2007, S. 97ff.

[88]

BVerfGE 7, 198, 205 – Lüth.

[89]

Rainer Wahl, Lüth und die Folgen. Ein Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, in Henne/Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005, S. 371, 373f., 292f.; ders., Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 19 Rn. 16ff.

[90]

Zum Einfluss dieser Rechtsprechungslinie etwa auf das ungarische Verfassungsgericht: Sólyom § 107 Rn. 30.

[91]

Insbesondere Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Barion (Hg.), FS Carl Schmitt, 1959, S. 35, 39ff., 45ff.; dazu Christoph Schönberger, Werte als Gefahr für das Recht? Carl Schmitt und die Karlsruher Republik, in: Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 32011, S. 57.

[92]

Wahl (Fn. 89), S. 395.

[93]

Eine historische Kontextualisierung liefert Thomas Henne, Von 0 auf Lüth in 6½ Jahren, in: ders./ Riedlinger (Hg.) (Fn. 89), S. 197. Henne sieht die „Positionsbehauptung des BVerfG gegenüber anderen Obergerichten und Verfassungsorganen“ als einen wesentlichen Faktor für die Entwicklung der starken Grundrechtsjudikatur der fünfziger Jahre, S. 206.

[94]

Zur Gemeinschaftsorientierung des Wertordnungsgedankens Frieder Günter, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, 2004, S. 196.

[95]

BVerfGE 39, 1, 51ff. – Schwangerschaftsabbruch I.

[96]

BVerfGE 48, 127, 165f., 168ff. – Ersatzdienst.

[97]

Schönberger (Fn. 40), S. 49; Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 247ff.; aus damaliger Zeit: Hans-Jochen Vogel, Videant Judices! Zur aktuellen Kritik am BVerfG, DÖV 18 (1978), S. 665.

[98]

Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. IV, 2012, S. 155f.

[99]

BVerfGE 93, 1, 22ff. – Kruzifix I.

[100]

Eine ausführliche Darstellung und Analyse der öffentlichen Kritik am BVerfG liefern: Gary S. Schaal, Crisis! What Crisis? Der „Kruzifix-Beschluss“ und seine Folgen, in: van Ooyen/Möllers (Hg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 22015, S. 261; Rainer Wahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Widerstreit, in: Guggenberger/Würtenberger (Hg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, 1998, S. 81, 83ff.; Günter Frankenberg, Hüter der Verfassung einer Zivilgesellschaft, Kritische Justiz 29 (1996), S. 1, 4ff. Auch in der Rechtswissenschaft wurde das Gericht heftig kritisiert, vgl. nur Josef Isensee, Bilderstrum durch Verfassungsinterpretation, ZRP 1996, S. 10; Gerhard Großfeld, Götterdämmerung? Zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, S. 1719; Ernst Benda, Wirklich Götterdämmerung?, NJW 1996, S. 2470.