Ius Publicum Europaeum

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1. Prekarisierung der Legitimationsressource durch den Wandel der Staatlichkeit

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Das BVerfG lebt in seiner gegenwärtigen Rolle vom Vorrang des Grundgesetzes, genauer der grundgesetzlichen Grundrechtsordnung, und hat diesen Vorrang institutionell auf sich selbst ausgedehnt.[492] Deshalb droht jede Bedeutungsrelativierung des Grundgesetzes mit einer Bedeutungsrelativierung des BVerfG einherzugehen. Der Prozess der Europäisierung konfrontiert das BVerfG aber genau damit: Durch die Europäisierung hat sich eine zusätzliche Schicht supranationaler Verfassung etabliert, deren verbindliche Interpretation sich dem BVerfG entzieht. Diese Verfassung enthält seit dem Vertrag von Lissabon einen eigenen verbindlichen Grundrechtskatalog, dessen Rechte ohne Einschaltung des BVerfG im Wege der Vorlage durch die Fachgerichte geltend gemacht werden können. Europäisierung und Internationalisierung tragen zudem zu einer Erosion des klassischen Souveränitätsprinzips bei,[493] wodurch sowohl die Fokussierung auf den Staat als auch die nationale Beschränkung kollektiver Selbstbestimmung an legitimationstheoretischer und dogmatischer Kraft verlieren. Dementsprechend erlangen die öffnenden Elemente des Grundgesetzes in den Art. 23–26 GG größere Bedeutung.[494]

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Der erste Punkt ist hier entscheidend. Die spezifische Stärke und Autorität des BVerfG ruht darauf, dass es gewissermaßen das Gesicht des Grundgesetzes ist. Die Stärke des BVerfG ist eng verknüpft mit der Stärke des Grundgesetzes selbst[495] und das Gericht hat dies geschickt genutzt, um selbst am Vorrang der Verfassung institutionell teilzuhaben. Seit den frühen Entscheidungen des BVerfG ist ersichtlich, dass es ihm um den Aufbau einer neuen Verfassungs- bzw. Werteordnung ging. Es ist in diesem Sinne ein Gründungsgericht, das sich mit der horizontalen und vertikalen Öffnung der von ihm gegründeten Verfassungsordnung schwer tut.[496] Von der stetigen Entwicklung und Konkretisierung der Verfassungsordnung profitiert das Gericht vor allem dort, wo es andere Akteure vom Zugriff auf die Verfassungsinterpretation und -konkretisierung ausschließt, wie etwa bei der Maßstabsbildung. Durch die Europäisierung der Rechtsordnung ist das Grundgesetz aber nicht mehr die einzige Verfassung, an der nationales Recht zu messen ist. Vielmehr tritt das Unionsverfassungsrecht hinzu und beansprucht sogar Vorrang, sofern sein Anwendungsbereich eröffnet ist. Diese Konstellation scheint beim BVerfG einen Bewahrungsreflex hervorzurufen.

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Die Tendenz zur Bewahrung ist für das Gericht aus einem zweiten Grund naheliegend. Seine Autorität ist eng verbunden mit einem hierarchischen Rechtsdenken und einem staatszentrierten Verfassungsverständnis. Das Gericht kann deshalb so gestaltend und kreativ tätig werden, weil es mit einer starken nationalen Staatlichkeit identifiziert wird. Die nationalstaatliche Gestaltungskraft hat im Zuge der Internationalisierung und Europäisierung aber abgenommen. Nationale Entscheidungsträger unterliegen vielfältigen externen Bindungen. Nimmt die Gestaltungsmacht des Staates ab, trifft dies auch die Akzeptanz und Legitimität des BVerfG. Seine Akzeptanz ist wesentlich von der Vorstellung getragen, dass staatliche Strukturen in der Lage sind, die Versprechen des Grundgesetzes zu realisieren. Genau dies wird unter den Bedingungen zunehmender Interdependenzen aber immer schwerer zu realisieren. Auch verträgt sich hierarchisches, auf dem Expertenwissen der Richterschaft fußendes Rechtsdenken kaum mit der Pluralisierung der Verfassungsordnungen und der zu ihrer Interpretation berufenen Akteure.

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Der Prozess der Europäisierung stellt das BVerfG allerdings nicht nur wegen dem vertikalen Hinzutreten einer weiteren Schicht Verfassungsrecht vor Herausforderungen. Die Verschränkung mit den Verfassungsordnungen anderer Mitgliedstaaten führt zu einer horizontalen Öffnung der Verfassungen und zur Entstehung eines europäischen Rechtsraums.[497] Dies resultiert in einem verstärkten Dialog zwischen den Verfassungsrichtern der verschiedenen Staaten, der sich in regelmäßigen wechselseitigen Besuchen und der Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte ausdrückt.[498] Obgleich die Verfassungsrichter selbst die Bedeutung des Austausches für die Erweiterung des eigenen dogmatischen Horizonts und die Herausbildung eines gemeinsamen Diskurses betonen, ist der Bezug auf andere Verfassungsgerichte oder Verfassungsordnungen in der Rechtsprechung des BVerfG kaum sichtbar.[499] Ein kontinuierlicher Austausch über die jeweiligen methodischen und dogmatischen Zugänge trägt auf lange Sicht gewiss dazu bei, das Bewusstsein für die Wahrnehmung horizontaler Verschränkungen zu stärken.[500] Bislang aber hält das BVerfG eine explizite Bezugnahme auf die Rechtsprechung in anderen Mitgliedstaaten nur selten für nötig.[501] In anderen europäischen Verfassungsordnungen lässt sich dagegen in jüngerer Vergangenheit eine explizitere und qualitativ gewandelte Bezugnahme auf die Rechtsprechung anderer Verfassungsgerichte feststellen.[502] Angesicht seiner großen Akzeptanz und Autorität überrascht dies nicht. Das BVerfG benötigt „fremde“ Verfassungsrechtsprechung selten als persuasive authority.

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Überdies sind die dogmatischen Angebote dazu, wie das BVerfG eine Verarbeitung externen Verfassungsrechts tatsächlich gewährleisten kann, bislang rar.[503] Normativ ist der Einbezug anderer Verfassungsordnungen in die eigene Rechtsprechung zudem nicht unproblematisch, ist das BVerfG doch nur zur Auslegung des Grundgesetzes berufen und legitimiert.[504] Für eine rechtsvergleichende Praxis der Verfassungsgerichte lassen sich allerdings die Öffnungsnormen im Verfassungstext in Anschlag bringen. Die durch die Europäisierung bewirkten Interdependenzen im europäischen Rechtsraum liefern zudem ein starkes Argument für eine verstärkte wechselseitige Bezugnahme.[505] Diese Verschränkungen verlangen auch nach einer Transformation der klassisch nationalstaatlich orientierten Verständnisse von Schlüsselbegriffen wie Demokratie oder Souveränität. Hier erweist sich die verfassungspolitisch aufgeladene Maßstabsbildung als Hindernis: Sie versperrt aufgrund der ihr inhärenten Beharrungskraft den Weg zu einer dynamischen Anpassung des Demokratieprinzips unter dem Grundgesetz. Genau dies aber müsste das Gericht angesichts der tiefgreifenden Veränderungen in Bezug auf die staatliche Souveränität ermöglichen, um nicht irgendwann vom Verlust seiner Legitimationsressourcen eingeholt zu werden.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › IV. Evaluation: Hüter des Grundgesetzes oder Hüter von Verfassungsrecht? › 2. Vielfalt und Dezentralisierung: Das Ende der Deutungshoheit beim Grundrechtsschutz?

2. Vielfalt und Dezentralisierung: Das Ende der Deutungshoheit beim Grundrechtsschutz?

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Die zweite Veränderung, die den Kern der bundesverfassungsgerichtlichen Autoritätsressourcen betrifft, ist der verbindliche europäische Grundrechtsschutz.[506] Das Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Grundrechtsschutz ist ein Dauerthema des Verhältnisses zwischen EuGH und BVerfG. Diese Auseinandersetzung findet prominent Ausdruck in der Solange-Saga,[507] in der das BVerfG zunächst einen umfassenderen Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene anmahnte und dann seine eigene Prüfungskompetenz unter Verweis auf das inzwischen erreichte Schutzniveau zurücknahm. Seit dem Vertrag von Lissabon verfügt das Unionsverfassungsrecht aber nicht mehr nur über Grundrechte als judikativ entwickelte Rechtsgrundsätze, sondern über einen verbindlichen Grundrechtskatalog. Der EuGH nahm dies zum Anlass, den Grundrechtsschutz in der EU signifikant zu stärken und das Verhältnis von unionalem und nationalem Grundrechtsschutz neu zu bestimmen. In Åkerberg-Fransson[508] stellte der Gerichtshof fest, dass unter „Durchführung des Unionsrechts“ i.S.v. Art. 51 Abs. 1 Grundrechtecharta zu verstehen sei, dass der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte dem Anwendungsbereich des Unionsrechts entspricht.[509] In Melloni[510] entschied der Gerichtshof, dass ein höherer nationaler Grundrechtsschutz auch nach Art. 53 Grundrechtecharta immer dann nicht zu rechtfertigen sei, wenn ein Sachbereich unionsrechtlich erschöpfend harmonisiert sei und daher die Einheitlichkeit des Unionsrechts bedroht sei.[511] Für das BVerfG stellt diese Rechtsprechungslinie sich zunächst als Gefahr für die eigene Deutungshoheit im Bereich des Grundrechtsschutzes dar. Die beiden Urteile konfrontieren das BVerfG damit, dass es bei der Grundrechtsprüfung mitgliedstaatlicher Rechtsakte zunehmend zu einer Überlappung von unionalem und nationalem Grundrechtsschutz kommen könnte,[512] bei der sich der nationale Grundrechtsschutz selbst dann nicht zwangsläufig durchsetzt, wenn er ein höheres Schutzniveau bietet.[513] Das BVerfG musste befürchten, dass die eigenen Möglichkeiten, eine autonome Grundrechtsordnung zu gestalten, in weit größerem Umfang durch den europäischen Grundrechtsschutz beschnitten würden als bisher angenommen. Es reagierte auf die EuGH-Rechtsprechung dementsprechend pikiert und ließ via Pressemitteilung verlauten, dass es das Urteil Åkerberg-Fransson lediglich als Ausdruck der „Besonderheiten des Umsatzsteuerrechts“ verstehe.[514] Im Urteil zur Antiterrordatei vom April 2013 führte das Gericht aus, dass der Entscheidung des EuGH „kein[e] Lesart untergelegt werden [dürfe], nach der dies offensichtlich als ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre“.[515] Einmal mehr unterblieb eine Vorlage an den EuGH, die Gelegenheit zu einer dialogischen Weiterentwicklung des Grundrechtsschutzes gegeben hätte.

 

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Inzwischen lässt die Rechtsprechung des EuGH vorsichtigere Deutungen angebracht erscheinen: hat der EuGH seine weite Prüfungskompetenz in Grundrechtsfragen doch wieder relativiert[516] und in einigen Fällen, in denen eindeutig eine Durchführung des Unionsrechts vorlag, von einer Grundrechtsprüfung Abstand genommen.[517] Es spricht viel dafür, dass der EuGH und nationale Verfassungsgerichte durch ihre Rechtsprechung das Verhältnis von nationalem und unionalem Grundrechtsschutz neu austarieren.[518] Ein Indiz hierfür ist, dass das BVerfG seinen prinzipiellen Widerstand gegen eine Vorlage an den EuGH mit dem OMT-Beschluss aufgegeben hat. Zwar betrifft dies nicht den Bereich des Grundrechtsschutzes und man mag die tatsächliche Kooperationsbereitschaft des BVerfG in diesem Fall bezweifeln. Gleichwohl eröffnet diese Entwicklung zumindest die Chancen auf eine dialogische Fortentwicklung des Verfassungsrechts.

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Anders als gegenüber dem EuGH hat das BVerfG seine Rechtsprechung gegenüber dem EGMR nach anfänglicher Zurückhaltung inzwischen kooperativer ausgestaltet.[519] Besonders anschaulich wird dies anhand der verschiedenen Urteile des EGMR zur Sicherungsverwahrung. Nachdem das BVerfG die Regelung im Jahr 2004 für verfassungskonform erklärte,[520] entschied der EGMR, dass die deutsche Regelung gegen das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 7 Abs. 1 EMRK) und das Recht auf Freiheit der Person (Art. 5 Abs. 1 EMRK) verstoße.[521] Das BVerfG setzte sich in einem Urteil aus dem Jahr 2011 ausführlich mit den Erwägungen des EGMR auseinander und änderte schließlich seine Beurteilung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung.[522] In zahlreichen Senatsentscheidungen und Kammerbeschlüssen setzte das BVerfG diesen Richtungswechsel dann in der Folge operativ durch.[523] Die Entscheidung verdeutlicht exemplarisch wie der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit die Kooperation zwischen BVerfG und EGMR anleiten kann. Das BVerfG hält die die Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung als Auslegungshilfe ausdrücklich auch dann für geboten, wenn sie zu Fällen erging, an denen Deutschland selbst nicht beteiligt war.[524] Hierfür bemüht das Gericht selbst den „Dialog der Gerichte“ als Maxime der Fortentwicklung der eigenen Rechtsprechung.[525] Zugleich ist das BVerfG bedacht, den Umfang der Berücksichtigung nicht so weit auszudehnen, dass es zu einer automatischen begrifflichen Parallelisierung kommt.[526] Hier wird das Bestreben erkennbar, die Zügel des Grundrechtsschutzes zumindest beim Rezeptionsvorgang weiter in der Hand zu behalten.[527] Ungeachtet dessen stellt das Urteil zur Sicherungsverwahrung eine Wegmarke der europäischen Öffnung des Grundrechtsschutzes durch das BVerfG dar.[528]

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Allerdings illustriert das Urteil zugleich die Herausforderung, die in der Europäisierung des Grundrechtsschutzes liegt: Anders als bisher ist das BVerfG nicht mehr der einzige und auch nicht mehr in allen Bereichen der entscheidende Akteur bei der Interpretation der in Deutschland geltenden Grundrechtsordnung. Diese setzt sich heute zusammen aus grundgesetzlich normierten Grundrechten, unionalem Grundrechtsschutz und Menschenrechtsschutz unter der EMRK, die sich wechselseitig überlagern und beeinflussen. Eine alleinige Deutungshoheit für den Grundrechtsmaßstab, der an das deutsche Recht anzulegen ist, kann das BVerfG damit nicht mehr beanspruchen.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › IV. Evaluation: Hüter des Grundgesetzes oder Hüter von Verfassungsrecht? › 3. Die Notwendigkeit einer neuen Institutionentheorie im europäischen Rechtsraum

3. Die Notwendigkeit einer neuen Institutionentheorie im europäischen Rechtsraum

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Die Europäisierung des Verfassungsrechts stellt das BVerfG schließlich vor eine dritte Herausforderung. Supra- und internationale Entscheidungsstrukturen beschränken die nationalstaatliche Souveränität und verändern die Möglichkeiten demokratischer Entscheidungsfindung. Die Ausübung von Hoheitsgewalt verteilt sich nicht länger nur zwischen Legislative, Exekutive und Judikative auf mitgliedstaatlicher Ebene, sondern erstreckt sich auch auf die entsprechenden europäischen Organe. Diese Verflechtung kann mit der relativ starren und national fokussierten Demokratietheorie des BVerfG nicht vollständig erfasst werden. Ohnehin hat das in Grundrechtsfragen so starke BVerfG in Fragen des Staatsorganisationsrechts weit weniger Prägekraft entfaltet.[529] Abgesehen von der sogenannten Legitimationskettentheorie[530] hat das BVerfG bislang kein Angebot für eine Verfassungstheorie entwickelt, die die Kompetenzabgrenzung zwischen den verschiedenen Gewalten anleiten könnte. Für den europäischen Kontext passt das darin zum Ausdruck kommende Demokratieverständnis kaum, weil es kein Angebot macht, kollektive Willensbildung und demokratische Entscheidungsfindung jenseits des Staates funktionieren können. Demokratische Gesetzgebung und demokratisches Regieren kann nach dem BVerfG bis heute nur auf das mehr oder weniger homogen konstruierte deutsche Volk zurückgeführt werden.[531] Politisch inklusivere demokratische Strukturen, die eine Beteiligung von in Deutschland lebenden Staatsangehörigen anderer Staaten jenseits der Unionsbürgerschaft ermöglichen würden oder auf supranationaler Ebene verschiedene demoi zusammenführen, lassen sich auf dieser Grundlage schwer entwickeln, und zwar weder vom BVerfG noch durch den politischen Prozess.[532] Deshalb reagiert das BVerfG mit einem massiven Abschirmungsprogramm, indem es „integrationsfeste“ Verfassungselemente definiert,[533] die nationalen Parlamentarier paternalistisch über Handlungspflichten belehrt[534] und versucht, den Handlungsspielraum des nationalen Gesetzgebers gegenüber unionsrechtlichen Einflüssen zu immunisieren.[535] Diesem Reflex liegt die zutreffende Beobachtung zugrunde, dass die Handlungsspielräume demokratischer Gesetzgeber in einer Welt zunehmender ökonomischer und politischer Interdependenzen in der Tat schrumpfen. Allein, der Bewahrungsreflex löst das Problem nicht: Die Interdependenzen bleiben unabhängig vom weiteren Fortgang der europäischen Integration bestehen. Handlungsspielräume lassen sich daher nur transnational wiedergewinnen.

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Hier zeigt sich, dass die Europäisierungsprozesse nicht nur eine Bestimmung des Verhältnisses zwischen den Gerichten im europäischen Verfassungsgerichtsverbund[536] verlangen, sondern das Verhältnis zwischen mitgliedstaatlichen und europäischen Gewalten generell betreffen. Es geht nicht zuletzt auch darum, wie die Kräfteverhältnisse zwischen europäischer und nationaler Legislative verschieben und inwieweit europäischer und nationaler legislativer Handlungsspielraum trotz einer Stärkung der Exekutive gesichert werden kann. Diese Fragen lassen sich nicht auf der Basis einer national verengten demokratietheoretischen Perspektive beantworten. Vielmehr verlangen sie nach einer Öffnung der nationalen Verfassungen und nach der Fortentwicklung hergebrachter Demokratieverständnisse. Anstatt sich an der Entwicklung einer transnationalen Demokratietheorie zu beteiligen, tendiert das BVerfG dazu, den nationalen Gesetzgebungsprozess zu idealisieren und umgekehrt supranationalen Strukturen die demokratische Qualität abzuerkennen. So hat es etwa die Sperrklauseln im Europawahlrecht anders als vergleichbare Klauseln im nationalen Recht für verfassungswidrig erklärt und dabei nicht zuletzt auf den aus der Sicht des BVerfG defizitären Charakter der europäischen parlamentarischen Demokratie verwiesen.[537] Bereits im Lissabon-Urteil hatte das Gericht die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, den angeblich zwangsläufig defizitären Charakter der europäischen Demokratie hervorzuheben.[538] Problematisch ist diese Rechtsprechung vor allem deshalb, weil sie eine nationale Schließung propagiert, anstatt selbst konzeptionelle und konstruktive Vorschläge für eine transnationale Demokratie- oder Institutionentheorie zu entwickeln. Das BVerfG verschließt sich regelrecht dem Gedanken, dass ein europäischer Parlamentarismus zur Demokratisierung und Politisierung europäischen Regierens beitragen könnte.[539] Dem international öffnenden Grundimpetus des Grundgesetzes kommt das BVerfG damit nicht nach.[540] Es vermag auf dieser Basis keine dogmatischen und konzeptionellen Angebote zu unterbreiten, wie sich politische Inklusion und kollektive Selbstbestimmung in demokratischen Verfahren auch jenseits des Nationalstaats realisieren lassen. Gewiss, auch eine proaktivere Haltung des BVerfG liefe Gefahr, sich dem Vorwurf paternalistischer Politikgestaltung auszusetzen. Es darf aber nicht übersehen werden, dass das Gericht mit der derzeitigen national fokussierten Demokratietheorie bereits in den demokratisch legitimierten Entscheidungen für eine internationale Öffnung der deutschen Verfassungsordnung eingreift. Es erhöht mit der Behauptung „integrationsfester“ Bereiche und der normativen Aufwertung durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG sogar die Möglichkeit hier in demokratischen Verfahren überhaupt eine Änderung herbeizuführen.[541] Insofern kann das Bedürfnis nach einer verfassungs- und demokratietheoretischen Begleitung dieser Öffnung nicht durch den Verweis beseitigt werden, dass die Veränderung des Demokratieverständnisses eine Angelegenheit ist, über die der demokratische Souverän zu entscheiden hat.[542] Die Zurückhaltung bei der Fortentwicklung des Demokratieverständnisses ist aber auch für das BVerfG selbst problematisch: Es droht dadurch auf lange Sicht selbst in eine defensive Position zu geraten. Es verteidigt nur noch, statt das Spiel der europäischen Demokratie mitzugestalten und an der Entwicklung gemeineuropäischer Konzeptionen von demokratischer Selbstbestimmung mitzuwirken. Es fehlt nicht nur das Passspiel mit den anderen europäischen Verfassungsgerichten, sondern auch an einer Idee für den demokratischen Spielaufbau in Europa.[543]

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › IV. Evaluation: Hüter des Grundgesetzes oder Hüter von Verfassungsrecht? › 4. Muss das Bundesverfassungsgericht sich neu erfinden?