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3. Die Entfaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter der III., IV. und V. Republik

a) Die Entwicklung der Strukturen

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In der III. Republik (1875–1940) wurde die Rolle des CE für Staat und Gesellschaft immer wichtiger. Insbesondere entwickelte er das Verwaltungsrecht stetig weiter, vor allem mit Hilfe der Figur der Allgemeinen Rechtsgrundsätze.[21]

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Bis 1953 blieb der CE für Verwaltungsstreitigkeiten, d.h. Streitigkeiten zwischen Exekutivbehörden des Staates und Privatpersonen und – mit der allmählichen Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung ab 1884 – auch zwischen dem Staat und sonstigen Gebietskörperschaften das Gericht erster Instanz. Dabei ist zu beachten, dass die Anzahl an Gemeinden in Frankreich stets sehr hoch war – es gibt noch heute ca. 35.400 Gemeinden[22] – und dass der Bürgermeister, obwohl direkt gewählt, als Vertreter des Staates auch Polizeibefugnisse besitzt, welche damals vom CE kontrolliert wurden und heutzutage durch die Tribunaux administratifs (Verwaltungsgerichte – TA). Seit dem 19. Jahrhundert werden in der Rechtsprechung des CE darüber hinaus alle Handlungen der Exekutive mit Rechtswirkungen, einschließlich allgemein normierender Akte, als Verwaltungsmaßnahmen betrachtet, deren Gesetzmäßigkeit der CE im Rahmen eines recours pour excès de pouvoir (Aufhebungsklage – REP) kontrollieren kann. Nur in einzelnen Bereichen gab es andere erstinstanzliche Gremien, die – wie schon früher – für besondere Verwaltungsstreitigkeiten zuständig waren, u.a. die Conseils de préfecture. Letztere wurden 1926 aus Einsparungsgründen allerdings auf etwa ein Viertel reduziert und waren fortan jeweils für mehrere Präfekturen zuständig.

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Als Berufungsorgan erreichte den CE eine stetig zunehmende Anzahl von Fällen. Dazu kam mit der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre auch eine immer größer werdende Anzahl erstinstanzlicher Klagen von Privatunternehmen gegen die Errichtung von Unternehmen durch die Gemeinden, mit deren Hilfe neben der Sicherstellung der klassischen Daseinsvorsorge auch das Versagen des Marktes kompensiert werden sollten. Dies führte zu einer Rechtsprechung, in der der CE eine der Verhältnismäßigkeitskontrolle ähnliche Abwägung zwischen dem allgemeinen Interesse und der Freiheit von Handel und Industrie (liberté du commerce et de l’industrie) vornahm;[23] diese Rechtsprechung kann in gewisser Weise auch als Vorläuferin der Beihilfenkontrolle nach dem Unionsrecht angesehen werden.[24] So wuchs ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit, die französische Verwaltungsgerichtsbarkeit zu reformieren und den CE zu entlasten.

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Ab 1950 unterbreitete die Regierung Vorschläge für eine Reform. Diese wurde 1953 in der Assemblée nationale diskutiert und schließlich durch eine Verordnung mit Gesetzesrang (décret-loi) vom 30. September 1953 und ein Dekret vom 28. November 1953 umgesetzt. Die Reform trat am 1. Januar 1954 in Kraft. Statt der früheren Conseils de préfecture und des Tribunal administratif de Strasbourg wurden die sog. TA geschaffen. Diese sind seitdem reguläre Eingangsinstanz; daneben ist teilweise auch der CE Eingangsinstanz, teilweise gibt es auch spezialisierte Verwaltungsgerichte und gerichtsähnliche Gremien. Die Zahl der Entscheidungen der TA ist seit ihrer Gründung drastisch gestiegen: Waren es 1975 bei einer Bevölkerung von ca. 54 Millionen noch etwa 20.000 pro Jahr, so wurden bei einer Bevölkerung von ca. 64 Millionen 2008 bereits 160.000[25] und 2014 230.477[26] Entscheidungen erlassen. Die 1953er-Reform führte auch zu einer wesentlichen Verbesserung der Qualität der Verwaltungsgerichtsbarkeit, da die Mitglieder der TA seitdem, wie die des CE, eine zweijährige Schulung an der ENA (École nationale d’administration) absolvieren und grundsätzlich ihre gesamte Laufbahn in der Verwaltungsgerichtsbarkeit verbringen. Nach einer Untersuchung von Chapus aus dem Jahr 2008 sind die Entscheidungen der TA in 90 bis 95 % der Fälle endgültig, sei es, weil keine Berufung eingelegt wird, sei es weil das Urteil der TA in zweiter bzw. dritter Instanz bestätigt wird.[27]

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Als Berufungs- bzw. Revisionsgericht der TA und der anderen verwaltungsgerichtlichen Gremien litt der CE unter einer erheblichen Arbeitsbelastung. Deswegen wurden auf seine Initiative hin weitere Reformschritte unternommen. Mit dem am 1. Januar 1989 in Kraft getretenem Gesetz vom 1. Januar 1987 wurden Cours administratives d’appel (Verwaltungsberufungsgerichtshöfe – CAA) geschaffen, die nach und nach zu Berufungsinstanzen für fast alle von den TA entschiedenen Fälle wurden.[28] Der CE blieb Revisionsinstanz (juge de cassation) für die von den CAA entschiedenen Fälle, in besonderen Fällen auch für Sprungrevisionen gegen Entscheidungen der TA. Im Zuge dieser Reform wurde das Prozessrecht für TA und CAA im Code des tribunaux administratifs et des cours administratives d’appel (Gesetzbuch der TA und CAA) zusammengefasst.

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Auch in den letzten Jahrzehnten gab es wichtige Reformen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, meistens auf Initiative des CE selbst. 1995 erhielt die Verwaltungsgerichtsbarkeit die Befugnis, der Verwaltung (einschließlich der Regierung, wenn diese ihre Normierungsbefugnis ausübt) Anordnungen (injonctions) zu erteilen,[29] 2000 wurde die Möglichkeit, einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren, die bis dahin in der Rechtsprechung des CE entwickelt worden war, kodifiziert und ausgeweitet.[30] 2001 wurde der CJA erlassen. Dieser regelt seitdem auch das Prozessrecht vor dem CE, das sich bis dahin teils aus Richterrecht, teils aus verschiedenen gesetzlichen Regelungen zusammensetzte. Eine besonders sichtbare Reform war die Ersetzung des CdG durch den Rapporteur public durch Dekret vom 7. Januar 2009. In Folge der Rechtsprechung des EGMR[31] wurden die Verfahrensregelungen geändert und den Parteien ermöglicht, auf die Schlussfolgerungen des Rapporteur public zu reagieren.[32]

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All diese Reformen erfolgten entweder auf Initiative des CE selbst oder zumindest mit dessen Zustimmung und technischem Beitrag. Eine Ausnahme bildet allerdings die Reform von 1963, die als Reaktion auf eine der bedeutendsten Krisen der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgenommen wurde.[33]

b) Die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Krisen des 20. Jahrhunderts

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Der Spruch „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“ steht – wie bereits erwähnt – sinnbildlich für die französische Verwaltungsgerichtsbarkeit.[34] Von 1799 bis 2016 gab es in Frankreich insgesamt zwölf geschriebene Verfassungen,[35] hinzu kamen sieben vorläufige Regierungsformen.[36] In dieser Zeit kannte Frankreich vier monarchische Regime (von 1799 bis 1848 und von 1852 bis 1870) und vier Republiken (1848–1850, 1870–1945, 1946–1958 und seit 1958); es gab drei autoritäre Perioden (1799–1815, 1850–1860 und 1940–1945), ein Präsidialsystem (1848–1850) und fünf parlamentarische Systeme (1815–1848; 1860–1940; 1945 bis heute). Vier der Verfassungen mit parlamentarischem System (Verfassungen von 1814, 1830, 1850 [in der Praxis ab 1860] und 1958) etablierten eine doppelte Regierungsverantwortung – vor dem Parlament und vor dem Staatschef. Die Verfassungsgesetze von 1875 hatten die Möglichkeit solch einer doppelten Regierungsverantwortung offengelassen, die sich in der Praxis aber nicht durchsetzen konnte; damit galt während der III. und IV. Republiken ein typisches parlamentarisches System mit alleiniger Regierungsverantwortung vor dem Parlament. Demgegenüber erweist sich die Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie bereits geschildert,[37] als besonders krisenfest; lediglich die politische Krise von 1963 führte zu einer Reform.[38]

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Weder die vielen Revolutionen und Staatsstreiche noch die vielen Kriege, die Frankreich in den letzten zwei Jahrhunderten erlebte, haben zu einer Veränderung der Strukturen und Verfahren der Verwaltungsgerichtsbarkeit geführt, mit Ausnahme der vorläufigen und kurzen Aufhebung des CE 1870. Mit Ausnahme eines Falles wurden alle Reformen von der Verwaltungsgerichtsbarkeit selbst angestoßen. Diese Stabilität beruht auf dem Umstand, dass der CE seit seiner Gründung im Jahr 1799 immer besonders gut in die soziale und politische Struktur Frankreichs eingebettet war, weil er von Anfang an den Interessen und dem Prestige der hohen Bourgeoisie entsprach. Ihr war und ist es wichtig und nützlich, staatliche Ingenieure sowie die Mitglieder des CE, der Cour des comptes (Rechnungshof) und der Inspection des finances (Finanzinspektorat) – die wichtigsten Stellen im Staatsapparat – zu stellen. Auch aus diesem Grund befand sich der CE stets im politischen Einklang mit dem jeweiligen Regime. Besonderer Beachtung bedarf in diesem Zusammenhang insbesondere die Anpassung des CE an das parlamentarische Regime – schon nach der Wiederherstellung der Monarchie, aber hauptsächlich ab Wiederherstellung der Republik 1870. Es gab mehr Mitglieder des CE als Bedarf an Verwaltungsrichtern und Rechtsberatern der Regierung bestand; daher gingen immer mehr Mitglieder des CE auch aktiv in die Politik, entweder indem sie sich bei Parlamentswahlen zur Wahl stellten oder als Mitglieder der cabinets ministériels (Gruppen der Berater eines Ministers während dessen Amtszeit) bei Regierungsmitgliedern arbeiteten. Dies ist auch heute noch der Fall. Während sie aktiv in Verwaltung oder Politik arbeiten, sind die Mitglieder des CE auf Abordnung (en détachement), was bedeutet, dass sie keine in der Verwaltungshierarchie aktiv tätige Beamte sind, sie ihre Rechte auf Beförderung nach Dienstalter und auf Pensionierung aber behalten. Werden Ministerposten neu besetzt oder wechselt die Regierung nach Wahlen oder aufgrund einer neuen Koalition, haben die Beamten die Möglichkeit in ihre corps in der Verwaltung zurückzukehren – im Falle des CE eben als Verwaltungsrichter. Paradigmatisch ist insoweit der Fall Léon Blums (1872–1950), der als Leiter der sozialistischen Partei SFIO nach dem Bruch zwischen Sozialisten und Kommunisten während des Kongresses von Tours im Dezember 1920 gewählt wurde. Er war aktives Mitglied der Sozialistischen Partei und einer der besten Juristen des CE; für seine Schlussanträge in besonders wichtigen Fällen (wie z.B. Granit porphyroïdes des Vosges)[39] wurde er von ganzen Generationen von Studenten und Staatsrechtslehrern bewundert. Dieser Wechsel zwischen CE und der Politik trug wahrscheinlich auch zur allmählichen Liberalisierung der Rechtsprechung des CE bei.

 

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Nach der Niederlage im Juni 1940 und der Invasion der deutschen Truppen wurden sowohl das parlamentarische Regime als auch die Demokratie vom neuen Regierungschef Marschall Pétain beseitigt. Lange Zeit bestand die Auffassung, der CE habe in Opposition zum faschistischen Regime Pétains gestanden. Dies hätte aber eine Zivilcourage erfordert, die die meisten Mitglieder des CE damals nicht mehr oder weniger besaßen als ordentliche Richter oder die Bevölkerung insgesamt.[40] Wie Jean Massot, Vorsitzender der Finanzabteilung des CE in einem 1998 veröffentlichten Aufsatz über den CE während der sog. Vichy-Periode schrieb, hat der CE diese Zeit aber ohne Umwälzungen überlebt: „Das Überleben geschah in einem ersten Schritt mit einem Regime, dem sich viele Mitglieder wahrscheinlich zu gut anpassten; in einem zweiten Schritt geschah dieses Überleben dann trotz eines Regimes, das ernsthaft probierte, das ins Palais Royal zurückgekehrte Organ einzudämmen. Es hätte nicht gegen ein Regime überleben können, welches sich sicher nicht geschämt hätte […],[41] es ohne Umschweife zu beseitigen.“[42]

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Die einzige Krise, die zu einer – letztlich wenig bedeutsamen – Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit führte, war die 1962 entstandene Auseinandersetzung zwischen Staatspräsident Charles de Gaulle und dem CE nach dessen Urteil Canal vom 19. Oktober 1962.[43] Obwohl diesem Urteil ein ungewöhnlicher Sachverhalt zu Grunde lag, lohnt es, dieses im Detail zu betrachten, weil es die verfassungsrechtliche Rolle des CE und dessen Stellung in Staat, Politik und Gesellschaft in besonders klarer Weise illustriert: In einem Referendum vom 8. April 1962 hatte das Volk mit überwältigender Mehrheit die Vereinbarungen von Evian (Accords d’Evian), die den Krieg in Algerien beendeten, gebilligt. Das zum Volksentscheid vorgelegte Gesetz ermächtigte den Präsidenten der Republik, mittels Verordnungen (ordonnances) oder Dekreten im Ministerrat (décrets en Conseil des ministres) jegliche Maßnahmen zur Umsetzung der Vereinbarungen zu treffen. Auf dieser Grundlage hatte General de Gaulle mit Beschluss vom 1. Juni 1962 ein Sondergericht errichtet – die Cour de justice militaire –, um Täter und Komplizen einiger Straftaten im Rahmen des militärischen Aufstands in Algier und der daraufhin folgenden Attentate im französischen Mutterland in einem Sonderverfahren ohne Berufungs- bzw. Revisionsmöglichkeit anzuklagen. Die Herren Canal, Robin und Godot wurden von diesem Gericht zum Tode verurteilt und erhoben dagegen einen REP vor dem CE. Der CE hob die der Errichtung der Cour de justice militaire zugrunde liegende Verordnung de Gaulles „auf Grund der Bedeutung und Schwere der in der angefochtenen Verordnung erfolgenden Verletzungen der allgemeinen Grundsätze des Strafrechts, insbesondere durch das darin enthaltene Verfahren und den Ausschluss irgendeiner Berufung“[44] auf. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, stellte der CE zunächst fest, dass die Ermächtigung des Präsidenten durch Volksentscheid keine Zuweisung einer Gesetzgebungsbefugnis war, sondern lediglich eine Genehmigung für das Staatsoberhaupt, die Exekutivgewalt auszuüben, die normalerweise innerhalb enger Grenzen der Regierung zusteht. Obwohl solche Verordnungen – in der gleichen Weise wie die in Art. 38 CF vorgesehenen Verordnungen auf Grund einer parlamentarischen Ermächtigung – auch Gesetzesänderungen beinhalten können, handelt es sich bei diesen dennoch um wesentliche Akte der Exekutive (actes réglementaires), die der gerichtlichen Kontrolle des CE unterworfen waren, wie der CE wenige Monate zuvor für die Verordnungen gem. Art. 38 CF entschieden hatte.[45] Verordnungen müssen die Verfassung und allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten. Letzteres war in diesem Fall von besonderer Bedeutung, da im Verfassungstext der Grundsatz einer zweistufigen Strafjustiz nicht ausdrücklich enthalten war und Frankreich die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) noch nicht ratifiziert hatte. Hinzu kam die Frage nach der Anwendbarkeit der vom CE seit dem Urteil Heyriès[46] im Jahr 1918 entwickelten Theorie der außergewöhnlichen Umstände (circonstances exceptionnelles). Der CE entschied, dass – sofern außergewöhnliche „Umstände der Zeit“ gesetzlich bestimmte Verletzungen der normalerweise zu beachtenden Rechtsordnung rechtfertigen können – diese Verletzungen unbedingt notwendig sein müssen, um das Ziel der Ermächtigung zu erreichen. Eine Anwendung der Evian-Vereinbarungen hätte also einzig durch eine solche Verletzung möglich sein müssen. Im Ergebnis war die Schwere der Verletzung der allgemeinen Grundsätze des Strafrechts deshalb nicht zu rechtfertigen, da die Anwendung der Vereinbarungen auch ohne solche Verletzungen möglich gewesen wäre. In Folge des Urteils des CE wurden die Todesurteile aufgehoben und die Herren Canal, Robin und Godot später im Rahmen einer Generalamnestie begnadigt.

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Der Staatspräsident erklärte daraufhin öffentlich, er betrachte das Urteil des CE als nicht existent. Ferner machte er deutlich, dass der CE reformiert werden sollte.[47] Sein damaliger Premierminister Georges Pompidou, war – wie sein Vorgänger und früherer Justizminister Michel Debré – Mitglied des CE und schlug de Gaulle daraufhin vor, einen Ausschuss einzurichten, dessen Vorsitz der Präsident des Conseil constitutionnel (Verfassungsrat – CC) Léon Noël (1888–1987), ebenfalls ein Mitglied des CE, den de Gaulle schätzte, führen sollte. Der Ausschuss erarbeitete eine Reform, die de Gaulle zwar einerseits zufrieden stellte, andererseits aber nichts von der rechtsstaatlichen Substanz der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit beseitigen sollte. Gleichzeitig sollte sie den CE teilweise modernisieren. Die Reform wurde mit Dekreten vom 30. Juli 1963 implementiert und beschränkte sich im Wesentlichen auf eine Überarbeitung der internen Organisation des CE, indem sie vorsah, dass die Mitglieder der Section du contentieux (Verwaltungsgerichtliche Abteilung) des CE auch an den Arbeiten einer der Sections consultatives teilnehmen sollten. Dadurch sollten die Richter die politischen Realitäten besser kennen lernen. Diese Reform wurde 45 Jahre später mit Dekret vom 6. März 2008, als erster Baustein einer weiteren Gesamtreform des CE, wieder abgeschafft, um einer Verurteilung durch den EGMR vorzubeugen. Die anderen Änderungen dieser Reform betrafen lediglich vom CE selbst gewünschte Verbesserungen der Verteilung der Befugnisse zwischen ihm und den TA, kleinere Änderungen im Verfahren und im Status der Mitglieder des CE sowie eine neue Aufteilung der Sections consultatives, mit der Erstellung einer völlig neuen, von manchen Mitgliedern des CE[48] gewünschten Section du rapport et des études (Abteilung für Bericht und Studien).

§ 130 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich › I. Genese und Entwicklung › 4. Die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Entwicklung Frankreichs

4. Die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Entwicklung Frankreichs

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Die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Entwicklung Frankreichs könnte ganze Bücher füllen. Es erscheint daher sinnvoll zwischen dem CE als grand corps höherer Staatsdiener und als höchstes Verwaltungsgericht Frankreichs einerseits[49] und der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen andererseits zu unterscheiden. Die wichtigste Rolle des CE ist seit seiner Errichtung im Dezember 1799 die des sog. grand corps. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, und insbesondere seit der napoleonischen Zeit, bilden die grands corps[50] die Säulen der französischen Verwaltung und des französischen Staatsapparates. Der Begriff corps bezeichnet zum einen das „Korps“ der Armee; es wird – wie im Deutschen – aber auch zur Beschreibung von Beamtenlaufbahnen gebraucht. Diese Begriffsverwendung geht zurück auf die Schaffung der Ingenieurkorps, die anfangs Teile des Heeres waren. Die École polytechnique, in der Ingenieure ihre Grundausbildung erhalten, ist noch heute formal eine Militärschule. Nach der allgemeinen Ausbildung folgen Zusatzausbildungen an speziellen Ingenieurschulen, wie z.B. die der 1754 errichteten École Ponts et Chaussées. Die grand corps bestehen aus den wichtigsten Ingenieurkorps (vor allem Ponts et Chaussées und Mines), die zusammen mit den Mitgliedern des CE, der Cour des comptes und der Inspection des finances traditionell die wichtigsten Posten in den Ministerien, autonomen Staatsbehörden und den cabinets ministériels besetzen. Besonders Stellen beim CE werden von den Angehörigen der sozialen Elite seit 200 Jahrhunderten angestrebt. An eine solche Stelle gelangte man ursprünglich über einen besonderen Wettbewerb oder unmittelbar durch Ernennung durch die Regierung. 1945 wurde die spezifische Wettbewerbsprüfung zum Eintritt in den CE abgeschafft, auschlaggebend ist seitdem die Platzziffer am Ende des Studiums an der ENA, zu dem man ebenfalls über eine Prüfung unter Wettbewerbsbedingungen zugelassen wird. Vergleichbares gilt für die Cour des comptes und die Inspection des finances. Dass eine Stelle bei einer dieser Institutionen üblicherweise erste Wahl ist, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass viele französische Politiker – u.a. die Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing, Jacques Chirac, François Hollande und Emmanuel Macron – ihre Laufbahn in einem dieser grands corps begonnen haben und über die cabinets ministériels (im Falle Macrons als stellvertretender Generalsekretär des Präsidentenamts) den Weg in die Politik gefunden haben. Hierdurch war die Rolle der grand corps auch gegen politische Veränderungen abgesichert. Im Laufe der letzten 40 Jahre haben Mitglieder des CE auch zunehmend Stellen in internationalen Organisationen erhalten, insbesondere als Richter am Internationalen Gerichtshof, am EuGH und am EGMR.

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Als Rechtsberater der Regierung hat der CE eine besonders wichtige Rolle: Alle von der Regierung vorgeschlagenen Gesetzesvorlagen sowie alle Entwürfe von Regierungsentscheidungen (ordonnances und décrets) müssen zunächst dem CE vorgelegt werden, der sowohl deren Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit überprüft, als auch deren Zweckmäßigkeit. Lange wurden die Stellungnahmen des CE als nur für die Regierung bestimmt und deswegen vertraulich angesehen. Seit dem 19. März 2015 werden die Stellungnahmen des CE hingegen systematisch auf der Website Legifrance[51] veröffentlicht. Die Regierungen legen diese Stellungnahmen zusammen mit ihrer Gesetzesvorlage dem Parlament vor. Seit der Verfassungsreform von 2008 können auch die Vorsitzenden beider Parlamentskammern Gesetzesentwürfe dem CE zur Beratung vorlegen.

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Die Rolle des CE als höchstes Verwaltungsgericht lässt sich leicht zusammenfassen: Als solches ist er unmittelbar oder mittelbar seit zwei Jahrhunderten Schöpfer des französischen Verwaltungsrechts. Durch seine Rechtsprechung hat er das französische allgemeine Verwaltungsrecht bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert u.a. durch die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze geschaffen.[52] Diese Aufgabe kommt ihm auch heute noch zu; gleichwohl wird das Verwaltungsrecht zunehmend durch die Gesetzgebung geprägt. Seit den 1980er-Jahren hat der CE in seiner Funktion als Rechtsberater der Regierung sehr zur Kodifizierung und Reform des Verwaltungsrechts beigetragen, auch indem er hierzu oft unauffällig die Initiative ergriff. Ein jüngeres Beispiel ist die Kodifizierung des Verwaltungsverfahrens durch Verordnung und Dekret vom 23. Oktober 2015 im Code des relations entre le public et l’administration (Gesetzbuch der Beziehungen zwischen der Öffentlichkeit und der Verwaltung),[53] der am 1. Januar 2016 in Kraft getreten ist. Hinzu kommt, dass der CE in erster Instanz für Klagen gegen Rechtsakte der Regierung mit allgemeiner Geltung ohne Gesetzescharakter (Dekrete und vom Parlament noch nicht ratifizierte Verordnungen) zuständig ist. Auch décrets, die Einzelentscheidungen enthalten und im Ministerrat diskutiert und verabschiedet werden, fallen in diesen Zuständigkeitsbereich, während für Rechtsakte einzelner Minister mit allgemeiner Geltung oder Einzelentscheidungen, das TA von Paris in erster Instanz zuständig ist.

 

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Die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich ist schwer von der Rolle des CE zu trennen. Die Richter der TA werden, wie schon angedeutet,[54] in derselben Weise wie die Mitglieder des CE über die ENA rekrutiert und die Richter der CAA kommen von den TA (mit Ausnahme der Vorsitzenden, die Mitglieder des CE sind). Das corps der Richter der TA ist freilich deutlich weniger prestigeträchtig als das des CE, auch weil die Arbeit der Verwaltungsrichter als besonders technisch angesehen wird. Nichtsdestotrotz gibt es auch eine nennenswerte Anzahl von Mitgliedern dieses corps, die es über die cabinets ministériels in höhere Stellen der Staatsverwaltung geschafft haben.

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Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat angesichts ihres breiten Zuständigkeitsspektrums, das nicht nur die Kontrolle der öffentlichen Gewalt, sondern auch ihre Haftung, Verwaltungsverträge und Streitigkeiten um das öffentliche Eigentum umfasst und das auf die services publics erweitert wurde, weitreichende Auswirkungen auf die französischen Gesellschaft.[55] Da Verwaltungsrichter und CE darüber hinaus die Handlungen der Ingenieure im öffentlichen Hoch- und Tiefbau sowie bei der Instandhaltung von öffentlichen Infrastrukturen überprüfen und über damit verbundene Schadensersatzansprüche entscheiden, spielt die Verwaltungsgerichtsbarkeit insbesondere für die Infrastruktur Frankreichs eine besonders wichtige Rolle.

§ 130 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich › II. Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit